Mit Kaugummi gegen Ohrwürmer |
Jennifer Evans |
25.11.2024 07:00 Uhr |
Soundtracks in der Dauerschleife: Ohrwürmer sind nichts Besorgniserregendes, aber sie kommen laut einer Studie immer häufiger vor. / © Adobe Stock/Lustre Art Group
Ohrwürmer sind Musikfragmente, die einem durch den Kopf schwirren und sich scheinbar unendlich wiederholen – so als hätte die innere Schallplatte einen Sprung. Typischerweise dauern sie 15 bis 30 Sekunden und bestehen aus einer musikalischen Sequenz oder einem Refrain, begleitet von einem Liedtext. Besonders ansteckend sind sie, wenn die Intervalle eng beieinanderliegen oder sie aus langen Noten bestehen.
Unter anderem zu dieser Erkenntnis kam ein Wissenschaftsteam um den Neurologen Professor Dr. Andrew John Lees vom University College London Medical School. Die Forschenden hatten sich vor einiger Zeit die Mühe gemacht, verschiedene Untersuchungen und Berichte zu Ohrwürmern aufzuspüren und diese auszuwerten.
Bei gesunden jungen Menschen können Ohrwürmer einmal pro Woche oder sogar häufiger auftreten. Die Allgegenwart von Musik im modernen Leben mag ihre Häufigkeit jedoch erhöht haben, heißt es. Übrigens gehen die ersten literarischen Beschreibungen zu dem Phänomen bis ins Jahr 1845 zurück. Sie sind etwa in Edgar Allan Poes Essay »The Imp of the Perverse« zu finden. Aber auch in Mark Twains Kurzgeschichte »A Literary Nightmare« von 1876.
Generell sind Ohrwürmer nichts Ungewöhnliches, sondern ein völlig normales kognitives Ereignis, das wahrscheinlich auf eine unbewusste Aktivierung des auditiven semantischen Gedächtnisses zurückzuführen ist. In diesem sind Informationen hinterlegt, die das Gehirn unabhängig von räumlichen oder zeitlichen Kontexten abrufen kann.
In der Fachwelt geht man davon aus, dass es einigen Ohrwurm-Melodien womöglich gelingt, die sogenannte phonologische Schleife des Gehirns zu unterlaufen. Normalerweise wird in dieser Schleife beim inneren Sprechen eine Information für maximal 2 Sekunden bereitgehalten. Werden die Fragmente dann nicht tatsächlich ausgesprochen, verschwinden sie (normalerweise) wieder. Eine andere Erklärung: Der primär auditorische Kortex, ein Bereich der Großhirnride, der akustische Reize verarbeitet, fungiert als »tragbarer Medienplayer der Vorstellungskraft«. Mit anderen Worten, er ergänzt den Forschenden zufolge pflichtbewusst automatisch die stillen Lücken in Songs.
Obwohl Ohrwürmer meist weder unangenehm noch beängstigend sind und manche Menschen sogar berichten, dass sie mitsummen, lässt sich der innere Soundtrack offenbar unterdrücken. Zum Beispiel durch Kaugummi kauen, Talksendungen im Radio verfolgen, Rätsel lösen oder sogar jenes Lied erneut anzuhören, das den Ohrwurm ursprünglich ausgelöst hatte.
Abzugrenzen ist das Phänomen von musikalischer Obsession. Dabei ist die innere Musik in der Regel aufdringlicher und wird oft als ein sehr belastender Zustand beschrieben. Im Gegensatz zu Ohrwürmern tritt eine solche Besessenheit meist bei Menschen mit zwanghaften Ängsten, depressiven Verstimmungen oder Hypochondrie auf.
Viel seltener sind hingegen musikalische Halluzinationen. Von ihnen berichten in der Regel sozial isolierte ältere Menschen mit Hörproblemen. Die Halluzinationen können beispielweise in Verbindung mit Tinnitus oder dem Hören von Stimmen auftreten. In selten Fällen kommen sie auch zusammen mit Depressionen, Schizophrenie oder einer organischen und medikamenteninduzierten Psychose vor. Allerdings zeigt sich diese Form deutlich hartnäckiger, beängstigend und weniger repetitiv als die Ohrwürmer. Und auch kaum unterdrückbar. Außerdem ist die Rede dabei weniger von bekannten Liedtexte, sondern in der Wahrnehmung der Betroffenen geht es um eigene Schöpfungen.