Pharmazeutische Zeitung online
Rolle der Apotheken

Mehr Sensibilität für arme Menschen

Der Sozialmediziner Professor Gerhard Trabert, Gründer des Vereins Armut und Gesundheit, spricht im PZ-Interview über die Rolle der Apotheken bei der Bekämpfung von Armut in der Gesellschaft.
Melanie Höhn
17.12.2024  09:00 Uhr

PZ: Wie hängen Armut und Gesundheit zusammen?

Trabert: Der so genannte Kausationseffekt besagt, dass Armut zunehmend zu Krankheit führt. Bei Kindern kann man den Effekt gut nachweisen. Die KiGGS-Studie des Robert-Koch-Instituts konnte zeigen, dass bei Infektionskrankheiten, aber vor allem bei psychischen Erkrankungen, Angststörungen oder Depressionen Kinder aus sozial benachteiligten Verhältnissen eine deutlich höhere Prävalenz haben. Bei Erwachsenen gibt es den sogenannten Selektionseffekt: Krankheit führt zunehmend zu Verarmung. 

Armut nimmt in Deutschland immer mehr zu: Mehr als 14 Millionen Menschen sind betroffen. Ursachen von Armut sind neben Krankheit auch der Arbeitsverlust oder Kinderreichtum. Jedes fünfte Kind lebt in Armut, 30 Prozent der Familien mit drei und mehr Kindern sind arm. Des Weiteren muss man sagen, dass 88 Prozent der Alleinerziehenden Frauen sind, diese sind zu 43 Prozent von Einkommensarmut betroffen. Zudem ist jeder Bürgergeld-Empfänger von strenger Armut betroffen.

PZ: Ihr Verein Armut und Gesundheit setzt sich mit verschiedenen Hilfsprojekten für arme und notleidende Menschen ein. Inwieweit sind die Apotheken hier einbezogen?

Trabert: Zunächst muss ich sagen, dass Apotheken eine große Rolle für eine niedrigschwellige Versorgung im Gesundheitssystem spielen. Wir als Verein betreiben eine »Poliklinik ohne Grenzen« in Mainz, bei der auch Apotheken beteiligt sind. Wir haben jeden Tag Sprechstunde und auch ein Arztmobil, jeder darf kommen. Wenn es um Medikamente und Rezepte geht, sind Rezeptgebühren ein Problem für viele Menschen. Zu uns kommen viele Betroffene, die sich diese Gebühren nicht leisten können und auch Menschen ohne Krankenversicherung. Wir versehen deren Rezept dann mit einem Aufkleber, sodass der mit uns kooperierende Apotheker oder die Apothekerin sieht, dass er das Medikament ohne direkte Bezahlung der Rezeptgebühr abgibt, da wir als Verein die Kosten erstatten.

PZ: Wie finanziert sich das?

Trabert: Wir bezahlen diese Kosten, die eine adäquate ärztlich verordnete Therapie oft verhindern, damit die bedürftigen Patienten schnell die notwendige Behandlung erfahren. Oft bekommen wir von den Apothekerinnen und Apothekern, als ein Akt der Solidarität mit von Armut betroffenen Menschen, am Jahresende eine Spende überwiesen. Wir arbeiten nach diesem Konzept mit Apotheken zusammen, die hier sensibilisiert und engagiert sind. Die Apotheken können natürlich diese Spenden dann auch wieder steuerlich absetzen. Zudem kooperieren wir mit der Hilfsorganisation Apotheker ohne Grenzen. Also es gibt Wege, um unser System humaner zu gestalten – und damit sozial benachteiligte Personengruppen besser gesundheitlich zu versorgen.

PZ: Würden Sie sagen, dass ärmere Menschen eher weniger in Apotheken gehen als Menschen mit mehr Einkommen?

Trabert: Ja, das könnte man so sagen. Die Preise in den Apotheken sind für ärmere Menschen abschreckend, manche Medikamente müssen komplett selbst bezahlt werden. Auch die Rezeptgebühren sind ein Faktor. Erwachsene Bürgergeld-Empfänger haben im Monat 21,49 Euro für Gesundheitspflege zur Verfügung. Das ist schnell weg. Und natürlich all die Patientinnen und Patienten, die keine Krankenversicherung haben und ein Medikament gegen Bluthochdruck oder Diabetes brauchen – in solchen Fällen ist das natürlich noch viel schwieriger beziehungsweise unmöglich.

PZ: Was hält ärmere Menschen noch davon ab, in Apotheken zu gehen?

Trabert: Manche Menschen trauen sich nicht, in eine Apotheke zu gehen, weil sie sich, wenn sie zum Beispiel obdachlos sind, für ihr Aussehen schämen, sich nicht waschen konnten oder kein Geld für Kleidung haben. Manche haben auch nicht den Mut, mit jemandem zu reden oder zu sagen, welche Dinge ihnen Probleme bereiten. Es gibt aber auch noch das sogenannte Zufriedenheitsparadoxon. Das bedeutet, dass Menschen, die sich beispielsweise in einer prekären Situation befinden, subjektiv ihre eigene Situation positiver einschätzen, als sie es objektiv ist. Wenn sich diese Personen bewusst machen würden, wie schlecht es ihnen geht, würde sie das noch kränker machen. Das ist ein Schutzmechanismus.

Zudem wissen wir, dass sowohl die Apothekendichte als auch die Facharztdichte in sozial benachteiligten Stadtteilen geringer ist als in wohlhabenden Stadtteilen. In eine Apotheke in einen weiter entfernten Stadtteil mit dem öffentlichen Nahverkehr zu fahren, kostet wieder mehr Geld, das ärmere Menschen einfach nicht haben.

Und ich erlebe immer wieder Verurteilung, Diskriminierung und Stigmatisierung von ärmeren Personen – das macht was mit den Menschen. Angststörungen und Depressionen können so schneller entstehen, außerdem geht das Selbstwertgefühl verloren. In der Folge macht man in Bezug auf die Gesundheit nicht immer das, was sinnvoll ist. Für mich ist in meiner konkreten praktischen Arbeit die Selbstwertförderung von wesentlicher Bedeutung: Dass diese Menschen erfahren und für sich verstehen, dass sie wichtig sind und an sich glauben. Dieses Selbstwertgefühl wird wieder mehr dazu führen, dass gesundheitliche Entscheidungen getroffen werden, die förderlich sind.

PZ: Was kann die Politik konkret tun, um den Zugang zur Arzneimittelversorgung für ärmere Menschen zu verbessern?

Trabert: Wenn man die Rezeptgebühren für alle Empfänger von sozialen Transferleistungen und Wohngeldempfängern streichen würde, spart man unter dem Strich Geld. Es ist doch so: Wenn die Menschen weiterhin ihre Medikamente nehmen, kommt es weniger zu Notbehandlungen. Wenn ärmere Menschen von diesen Gebühren befreit wären, wäre die Medikamenten-Compliance höher und es gebe weniger Folgekosten. Ich finde, man kann an dieser Stelle politische Weichen stellen. Generell bin ich der Meinung, dass wir vom dualen Krankenversicherungssystem wegkommen müssen, hin zu einer Bürgerversicherung – am Ende hätten wir mehr Geld im Gesamttopf, wodurch eine ganz andere Versorgung angeboten werden könnte. Außerdem ist Gesundheitsversorgung ein Menschenrecht.

PZ: Aber man kann sich doch von den Gebühren befreien lassen, wenn man chronisch krank ist.

Trabert: Ja, man kann sich von den Gebühren befreien lassen, wenn man chronisch krank ist und wenn man bezüglich der Eigenleistungen über 1 Prozent des eigenen Durchschnittseinkommens kommt. Wenn man nicht chronisch krank ist, sind es 2 Prozent. Das ist gut, aber mit einem hohen administrativen Aufwand verbunden. Alle Quittungen müssen gesammelt und es muss bei der Krankenkasse beantragt werden. Das überfordert viele Menschen in dieser belastenden Situation. 

Und man muss in Vorleistung gehen. Wenn im Januar beispielsweise schon etliche Medikamente besorgt werden müssen und vielleicht zusätzlich eine Brille, die überhaupt nicht bezahlt wird im Gesundheitssystem, dann kommt man sehr schnell über das Budget, das im Bürgergeldsatz enthalten ist.

PZ: Inwieweit könnten Apotheken noch mehr dazu beitragen, das Problem der gesundheitlichen Ungleichheit zu überwinden?

Trabert: Das ist eine gute Frage. Gut wäre, wenn Apotheken mit verschiedenen Organisationen kooperieren. Es gibt zum Beispiel die Malteser Flüchtlingshilfe oder die Organisation der Ärzte der Welt und die sogenannten studentisch geleiteten MediNetze und einige andere Organisationen, die sich um die Menschen kümmern, die abseits unseres Sozialsystems und Gesundheitssystems stehen. In diesem Bereich müsste es mehr Partnerschaften und Verknüpfungen geben. Diese Vernetzungen haben den Vorteil, dass die Apotheke vor Ort ein neutraler Ort ist.

PZ: Wie schätzen Sie die Rolle der Apotheke im Bereich Prävention, Screenings und Gesundheitsberatung ein, wenn es um Menschen mit weniger ökonomischen Möglichkeiten geht?

Trabert: Ich kenne wohnungslose Menschen, die mir gesagt haben, dass sie sich in einer Apotheke haben impfen lassen. Das ist ein guter Ansatz und eine niedrigschwellige Form der Prävention. Ich denke, bei den Apothekerinnen und Apothekern sind die Lebensrealitäten der Menschen am Rande unserer Gesellschaft noch nicht so bekannt. Ich fände es wichtig, dass sich Pharmazeutinnen und Pharmazeuten fortbilden, um zu erfahren, wie die Lebenswirklichkeit für diese Menschen aussieht. Der- oder diejenige kann sich zum Beispiel keine Bioprodukte kaufen, um gesünder zu leben. Es kann vieles nicht verwirklicht werden, weil die ökonomische Grundlage fehlt. Für Kinder bis zum fünften Lebensjahr, die aufgrund der Bedürftigkeit der Eltern den Bürgergeldsatz für Kinder in diesem Alter erhalten, beträgt das tägliche Ernährungsbudget etwas über 3,50 Euro. Davon kann kein Kind gesund ernährt werden. Wichtig ist, sich zu vernetzen, beispielsweise auch mit Ernährungsberatungen, wo es um gute und gesunde Produkte geht, die auch bezahlbar sind.

PZ: Apotheken können ja auch als sozialer Treffpunkt dienen. Die Mitarbeitenden dort sind oft auch Vertrauenspersonen für die Menschen.

Trabert: Da gebe ich Ihnen recht. Es wäre gut, wenn die Sensibilität für diese Menschengruppe vorhanden ist und dieses Wissen dann auch zu ergänzenden Beratungskonzepten führen würde. Gut wäre unter anderem die Bereitstellung von Informationsmaterialien, wo es Beratungs- und Unterstützungsangebote im Umfeld gibt. Wenn das Angebot der Apotheke etwas differenzierter erweitert und auf die Lebenssituation der Menschen bezogen angeboten wird, ist das ein Konzept, was sicherlich gut funktionieren kann und die Gesundheit der von Armut betroffenen Menschen verbessern könnte.

Die experimentelle KI
von PZ und PTA-Forum
Die experimentelle KI
von PZ und PTA-Forum
Die experimentelle KI
von PZ und PTA-Forum
 
FAQ
SENDEN
Wie kann man die CAR-T-Zelltherapie einfach erklären?
Warum gibt es keinen Impfstoff gegen HIV?
Was hat der BGH im Fall von AvP entschieden?
GESAMTER ZEITRAUM
3 JAHRE
1 JAHR
SENDEN
IHRE FRAGE WIRD BEARBEITET ...
UNSERE ANTWORT
QUELLEN
22.01.2023 – Fehlende Evidenz?
LAV Niedersachsen sieht Verbesserungsbedarf
» ... Frag die KI ist ein experimentelles Angebot der Pharmazeutischen Zeitung. Es nutzt Künstliche Intelligenz, um Fragen zu Themen der Branche zu beantworten. Die Antworten basieren auf dem Artikelarchiv der Pharmazeutischen Zeitung und des PTA-Forums. Die durch die KI generierten Antworten sind mit Links zu den Originalartikeln. ... «
Ihr Feedback
War diese Antwort für Sie hilfreich?
 
 
FEEDBACK SENDEN
FAQ
Was ist »Frag die KI«?
»Frag die KI« ist ein experimentelles Angebot der Pharmazeutischen Zeitung. Es nutzt Künstliche Intelligenz, um Fragen zu Themen der Branche zu beantworten. Die Antworten basieren auf dem Artikelarchiv der Pharmazeutischen Zeitung und des PTA-Forums. Die durch die KI generierten Antworten sind mit Links zu den Originalartikeln der Pharmazeutischen Zeitung und des PTA-Forums versehen, in denen mehr Informationen zu finden sind. Die Redaktion der Pharmazeutischen Zeitung verfolgt in ihren Artikeln das Ziel, kompetent, seriös, umfassend und zeitnah über berufspolitische und gesundheitspolitische Entwicklungen, relevante Entwicklungen in der pharmazeutischen Forschung sowie den aktuellen Stand der pharmazeutischen Praxis zu informieren.
Was sollte ich bei den Fragen beachten?
Damit die KI die besten und hilfreichsten Antworten geben kann, sollten verschiedene Tipps beachtet werden. Die Frage sollte möglichst präzise gestellt werden. Denn je genauer die Frage formuliert ist, desto zielgerichteter kann die KI antworten. Vollständige Sätze erhöhen die Wahrscheinlichkeit einer guten Antwort.
Wie nutze ich den Zeitfilter?
Damit die KI sich bei ihrer Antwort auf aktuelle Beiträge beschränkt, kann die Suche zeitlich eingegrenzt werden. Artikel, die älter als sieben Jahre sind, werden derzeit nicht berücksichtigt.
Sind die Ergebnisse der KI-Fragen durchweg korrekt?
Die KI kann nicht auf jede Frage eine Antwort liefern. Wenn die Frage ein Thema betrifft, zu dem wir keine Artikel veröffentlicht haben, wird die KI dies in ihrer Antwort entsprechend mitteilen. Es besteht zudem eine Wahrscheinlichkeit, dass die Antwort unvollständig, veraltet oder falsch sein kann. Die Redaktion der Pharmazeutischen Zeitung übernimmt keine Verantwortung für die Richtigkeit der KI-Antworten.
Werden meine Daten gespeichert oder verarbeitet?
Wir nutzen gestellte Fragen und Feedback ausschließlich zur Generierung einer Antwort innerhalb unserer Anwendung und zur Verbesserung der Qualität zukünftiger Ergebnisse. Dabei werden keine zusätzlichen personenbezogenen Daten erfasst oder gespeichert.

Mehr von Avoxa