Mehr Indikationen bedeuten nicht mehr Nutzen |
Annette Rößler |
11.07.2023 13:00 Uhr |
Wenn sie ein neues Präparat auf dem Markt haben, betonen Hersteller selbstverständlich dessen Vorteile. Bei genauerer Betrachtung bringt aber nur eine Minderheit der Neulinge einen Nutzen, der über bereits verfügbare Optionen hinausgeht. Bei Indikationserweiterungen sinkt der Anteil noch. / Foto: Adobe Stock/Andrii Yalanskyi
Wie groß der therapeutische Nutzen ist, den neue Arzneistoffe gegenüber den althergebrachten haben, beurteilt in Deutschland das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) im Auftrag des Gemeinsamen Bundesausschusses. Andere Länder haben ähnliche Bewertungsinstitute, etwa Frankreich die Haute Autorité de Santé (HAS). In den USA dagegen, die einen der größten Gesundheitsmärkte der Welt darstellen, fehlt eine solche Institution.
Um zu untersuchen, wie häufig neuen Wirkstoffen nach der Erstzulassung ein Zusatznutzen gegenüber der verfügbaren Standardtherapie attestiert wird und ob dies bei weiteren Indikationen ebenso häufig geschieht, nutzte eine Gruppe von überwiegend US-amerikanischen Forscherinnen und Forschern daher Daten aus Frankreich und Deutschland. Der Begriff »Zusatznutzen«, der in den Bewertungen des IQWiG genau definiert ist, wird dabei in der englischsprachigen Arbeit selbstverständlich nicht verwendet. Vielmehr ist von »added therapeutic value« oder auch nur von »therapeutic value« die Rede. Als »hoch« werteten die Autoren diesen, wenn er von der französischen und/oder deutschen Institution mindestens als »moderat« eingestuft worden war. Erstautorin der Publikation im Fachjournal »BMJ« ist Professor Dr. Kerstin Vokinger, die sowohl Juristin als auch Medizinerin ist und an der Universität Zürich und der Harvard Medical School in Boston unterrichtet.
Die Autoren berücksichtigten 107 Erstzulassungen und 179 Zulassungserweiterungen, die die US-Arzneimittelbehörde FDA in den Jahren 2011 bis 2020 erteilt hatte, sowie 87 (Empfehlungen für) Erstzulassungen und 184 Zulassungserweiterungen durch die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) im selben Zeitraum, für die jeweils eine Einstufung des Zusatznutzens durch die unabhängigen Stellen in Frankreich und/oder Deutschland vorlag. Krebsmedikamente bildeten dabei die größte Subgruppe. Einen hohen Zusatznutzen brachten von den in den USA zugelassenen Präparaten demnach bei der Erstzulassung 41 Prozent; bei einer Zulassungserweiterung waren es dann lediglich 34 Prozent. In Europa erzielten 47 Prozent der neuen Arzneistoffe bei der Erstzulassung einen hohen Zusatznutzen und 36 Prozent bei einer Zulassungserweiterung.
Ein Vergleich der ersten, zweiten und dritten Indikation der FDA-zugelassenen Präparate ergab, dass die Wahrscheinlichkeit, einen hohen Zusatznutzen zu erreichen, in der zweiten Indikation 36 Prozent geringer war als in der ersten und in der dritten Indikation sogar 45 Prozent geringer als in der ersten. Bezogen auf die EU-zugelassenen Arzneistoffe fiel das Ergebnis ähnlich aus. Wenn ein Medikament keinen Zusatznutzen gebracht habe, solle dies Patienten und Ärzten klar kommuniziert werden und sich auch im Preis niederschlagen, schlussfolgern die Autoren.
Dem pflichtet Dr. Beate Wieseler, Leiterin des IQWiG-Ressorts Arzneimittelbewertung für Zulassungsregularien, die nicht an der Studie beteiligt war, in einem begleitenden Editorial mit Nachdruck bei. Die Pharmaindustrie bemühe sich häufig erfolgreich um Zulassungserweiterungen, um ihren Ressourceneinsatz zu optimieren und die Schutzfristen für ihre Wirkstoffe zu verlängern. Die Patienten bräuchten aber bessere Behandlungsansätze, nicht mehr von demselben.
Im Rahmen der geplanten Revision des EU-Arzneimittelrechts gelte es, Anreize für echte Verbesserungen gegenüber den bisherigen Therapien zu setzen, etwa indem Förderungen wie die Verlängerung der Marktexklusivität an den Nachweis eines Zusatznutzens geknüpft würden. »So, wie das System derzeit aufgesetzt ist, wird es den Erwartungen von Patientinnen und Patienten, Öffentlichkeit, Ärzteschaft und Politik nicht gerecht«, bemängelt Wieseler in einer Mitteilung des IQWiG.