Mehr Forschung zur männlichen Fertilität gefordert |
Theo Dingermann |
16.10.2023 12:30 Uhr |
Die Verfahren, mit denen die Qualität der Spermien getestet werden, sind etwa 50 Jahre. Das bemängeln internationale Experten und fordern mehr Forschung zur männlichen Infertilität. / Foto: Adobe Stock/rost9
Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO ist heute eines von sechs Paaren im fortpflanzungsfähigen Alter von Unfruchtbarkeit betroffen. Nach wie vor hält sich ein weit verbreiteter Irrglaube, dass die Unfähigkeit, ein Kind zu zeugen, in der Regel auf weibliche Unfruchtbarkeit zurückzuführen ist. Dabei ist die Unfruchtbarkeit bei Männern und Frauen bis zum mittleren Alter vergleichbar häufig. Erst mit zunehmendem Alter nimmt die weibliche Fruchtbarkeit schneller ab als die männliche.
Die Gründe für männliche Infertilität sind vielfältig und komplex. Mit ziemlicher Sicherheit handelt es sich um eine Mischung aus biologischen Ursachen, Umweltbelastungen, Lebensstil und sozialem Druck. Zudem gibt es Hinweise darauf, dass sich die reproduktive Gesundheit des Mannes in den letzten Jahrzehnten verschlechtert haben könnte.
Über die Einflüsse von genetischen Faktoren und Umweltbedingungen auf die Produktion von Samenzellen und damit auf die Ursachen der männlichen Unfruchtbarkeit ist nach wie vor wenig bekannt. Das muss sich ändern, sagen 26 führende Fachleute aus zehn Ländern in einem Konsensus-Statement, das in der Fachzeitschrift »Nature Reviews Urology« veröffentlicht wurde.
Die offensichtlichen Wissenslücken führen dazu, dass für den Fall, dass sich ein Paar für eine medizinisch unterstützte Fortpflanzung entscheidet, in aller Regel der gesunden Partnerin die unverhältnismäßig große Last und die Risiken einer Behandlung auferlegt wird, weil für die männliche Infertilität keine kausale Therapie zur Verfügung steht. Hinzu kommt, dass auch Krankheiten des Mannes, die der männlichen Fruchtbarkeit zugrunde liegen können, teilweise viel zu spät erkannt werden.
Das interdisziplinäres Autorenteam – koordiniert von der Reproduktionsforscherin Professor Dr. Moira O'Bryan von der School of Biosciences an der University of Melbourne, Australien, – analysierte anhand einer Liste von 13 Fragen den aktuellen Stand der Forschung.
Auf dieser Grundlage erarbeitete das Konsortium einen Aktionsplan mit dem Ziel, Regierungen und medizinische Experten sowie die breite Öffentlichkeit dazu zu bewegen, die verminderte Fruchtbarkeit von Männern als ein weit verbreitetes, ernsthaftes medizinisches und soziales Problem anzuerkennen und Maßnahmen zu seiner Bekämpfung auf globaler Ebene umzusetzen.
»Der rapide Rückgang der männlichen Fruchtbarkeit lässt sich nicht durch die Genetik erklären, und Studien weisen darauf hin, dass Umweltfaktoren eine treibende Kraft sind«, sagt Professor Dr. Sarah Kimmins vom Department of Pharmacology and Therapeutics der McGill University in Montreal, Kanada, die Erstautorin der Publikation.
Zu den Faktoren, die maßgeblich zur männlichen Unfruchtbarkeit beitrügen, gehörten eine zunehmende Exposition gegenüber hormonstörenden Chemikalien, Übergewicht und Fettleibigkeit, schlechte Ernährung, Stress, Cannabiskonsum, Alkohol und Rauchen, so die Wissenschaftlerin. Leider seien sich die Männer dieser Faktoren im Allgemeinen nicht bewusst, äußert sich Kimmins in einer Mitteilung des University of Montreal Hospital Research Center.
Die derzeitigen diagnostischen Verfahren beruhten auf veralteten Techniken. So werden gegenwärtig Männer auf der Grundlage ihrer Familiengeschichte, einer körperlichen Untersuchung, eines Hormonprofils und einer einfachen Samenanalyse, die sich seit mehr als 50 Jahren nicht verändert hat, als unfruchtbar eingestuft.
»Als Mediziner müssen wir in Zukunft mehr Mittel für die Forschung bereitstellen, damit wir Männern empfindliche und genaue Tests für die Spermiengesundheit anbieten können«, so Professor Dr. Jacquetta Trasler vom Departments of Paediatrics, Human Genetics and Pharmacology & Therapeutics an der McGill University.
»Andrologischen Diagnosen wird oft nicht die Aufmerksamkeit geschenkt, die sie verdienen, wenn ein Paar keine Kinder bekommen konnte«, betont auch Professor Dr. Stefan Schlatt vom Institut für Reproduktions- und Regenerationsbiologie der Universität Münster und Koautor der Studie in einer Pressemittelung der Universität.
Auch gebe es für die Behandlung des Mannes bisher nicht viele wissenschaftlich fundierte Möglichkeiten, fügt Schlatt hinzu. »Wir fordern, dass weltweit Proben von Patienten und deren Daten gesammelt werden, um die genetischen und umweltbedingten Ursachen der männlichen Unfruchtbarkeit zu erforschen und neue Diagnoseverfahren zu etablieren«, so der Biomediziner.
Mangelndes Wissen über die Ursachen männlicher Unfruchtbarkeit, so Schlatt, führe oft dazu, dass die Patienten als homogene Gruppe behandelt würden. Statt die Ursachen individuell zu behandeln, werde eher auf medizinisch unterstützte Fortpflanzung zurückgegriffen.
Konkret formulieren die Experten zehn Empfehlungen:
Die Forschenden betonen, dass männliche Unfruchtbarkeit eine ernste Krankheit und ein zunehmendes Problem für alle ist. Daher fordern sie Regierungen und Gesundheitssysteme auf der ganzen Welt auf, diese Empfehlungen rasch umzusetzen.