Medizinische Hilfe, wo das System versagt |
Laura Rudolph |
19.12.2024 07:00 Uhr |
Die Medizinische Ambulanz ohne Grenzen in Mainz versorgt jedes Jahr mehrere Hundert Patienten, die aus unterschiedlichen Gründen keinen niedergelassenen Arzt aufsuchen können oder wollen. / © AoG
Armut und Krankheit beeinflussen sich gegenseitig: Wer arm ist, ist häufiger krank und wer krank ist, hat ein erhöhtes Armutsrisiko. Krankheit ist in Deutschland sogar die häufigste Ursache für Überschuldung.
Für sozial benachteiligte Menschen, wie Wohnungslose, ist der Zugang zu medizinischen Einrichtungen besonders erschwert. »Es gibt viele Gründe, warum Wohnungslose nicht zum Arzt gehen, etwa, weil sie dort schlecht behandelt werden, sie Hemmungen haben oder nicht die administrativen Hürden und Bedingungen erfüllen«, erklärte Professor Dr. Gerhard Trabert – Arzt, Sozialpädagoge und Gründer des Vereins »Armut und Gesundheit in Deutschland« (a+G) – im Gespräch mit der PZ.
Viele Menschen in Deutschland sind zudem nicht krankenversichert. Laut Statistischem Bundesamt betrifft dies etwa 61.000 Menschen; die Dunkelziffer wird auf bis zu zwei Millionen geschätzt. Diese Menschen werden im regulären Gesundheitssystem nur bei Notfällen und akuten Schmerzen versorgt. Unterstützung im ambulanten Bereich erhalten sie meist nur durch gemeinnützige Organisationen oder private Initiativen.
Eine solche Einrichtung ist die Medizinische Ambulanz ohne Grenzen in Mainz. Hier erhalten Menschen in prekären Lebenslagen kostenlose medizinische Versorgung, unabhängig davon, ob sie krankenversichert sind. Der Träger ist a+G, finanziert wird die Ambulanz durch Spenden. Sie steht allen offen, die sich aus unterschiedlichen Gründen nicht durch niedergelassene Ärzte betreuen lassen können oder wollen.
Die Ambulanz wurde 2013 gegründet, doch die Idee entstand bereits 1994. »Ich habe damals als Sozialarbeiter ehrenamtlich in einem Wohnheim für Wohnungslose gearbeitet und festgestellt, dass der Gesundheitszustand der Menschen dort sehr schlecht ist«, berichtete Trabert. Seine Doktorarbeit schrieb er zum Thema »Gesundheitsversorgung und -situation wohnungsloser Menschen«. »Dabei kam – vereinfacht gesagt – heraus, dass wohnungslose Menschen häufig sehr krank sind und keinen niedrigschwelligen Zugang zum Gesundheitssystem haben. Es gibt viele Barrieren.«
Inspiriert von einem Lepra-Krankenhaus in Indien, wo Ärzte die Patienten in der Community aufsuchten, kam Trabert die Idee, wohnungslose Menschen dort zu versorgen, wo sie sich aufhalten. Erste Versuche scheiterten 1993 an den Vorgaben der Standesorganisationen: Trabert durfte seinen Beruf nicht umherziehend ausüben. Ein Jahr und einige Lobbyarbeit später erlaubte ihm die Kassenärztliche Vereinigung als erstem Arzt in Deutschland, wohnungslose Menschen aufzusuchen und zu versorgen.
»Zuerst bin ich mit dem Köfferchen und Sozialarbeitern in die Einrichtungen oder auf die Straße gegangen«, erzählte Trabert. Schnell sei klar geworden, dass ein Schutzraum nötig ist, um Menschen geschützt untersuchen und behandeln zu können. Die Idee eines Arztmobils als fahrbares Sprechzimmer entstand. »Das zu finanzieren, war nicht einfach. Wir hatten aber das Glück, dass Phil Collins dem Deutschen Caritasverband damals 200.000 D-Mark gespendet hatte. Ich habe daraufhin einen Antrag gestellt und 20.000 D-Mark bekommen. Da ich als Privatperson keine solchen Spenden entgegennehmen konnte, wurde 1997 der Verein Armut und Gesundheit in Deutschland gegründet.« Die erste Funktion von a+G war, Träger des Arztmobils zu sein.
Immer mehr Menschen suchten aktiv das Arztmobil auf. Da sei klargeworden: »Wir müssen unser Angebot erweitern für Menschen, die nicht versichert sind, für illegalisierte und papierlose Menschen oder Haftentlassene.« 2013 wurden dann die Klinik auf der Mainzer Zitadelle aufgebaut. Insgesamt 35 angestellte und 30 ehrenamtliche (Zahn-)Ärztinnen und Ärzte kümmern sich aktuell um die Patienten. Im vergangenen Jahr wurden 2258 Behandlungen bei 526 Patienten durchgeführt.
Eingangsbereich der Medizinischen Ambulanz ohne Grenzen / © Armut und Gesundheit in Deutschland/Andreas Reeg
Das Behandlungsangebot umfasst Allgemeinmedizin, Zahnmedizin, Gynäkologie, Pädiatrie, Neurologie, Innere Medizin, kleine chirurgische Eingriffe und Augenheilkunde. »Wir haben auch das Glück, dass wir psychiatrische Sprechstunden anbieten können. Hier besteht bereits in der Regelversorgung eine große Versorgungsproblematik. Aktuell sind bei uns zwei Psychiater, ein Psychotherapeut und eine Psychotherapeutin tätig. Das heißt, wir können auch ein geschlechterspezifisches Angebot machen, was uns auch sehr wichtig ist«, erklärte Sebastian Maaßen, Leiter des gesundheitspflegerischen Bereichs. Er besitzt eine Doppelqualifikation als Gesundheits- und Krankenpfleger sowie Sozialarbeiter und ist seit viereinhalb Jahren beim Verein tätig. Insbesondere für Frauen in prekären Situationen, die Gewalt und Missbrauch erlebt haben, sei eine weibliche Ansprechpartnerin wichtig.
Projekte des Vereins umfassen beispielsweise das Street Jumper-Projekt, das Kinder und Jugendliche in benachteiligten Vierteln durch soziale und gesundheitliche Angebote fördert. Das Snoezelen-Projekt stärkt die Gesundheitskompetenz von Kindern durch positive Selbstwahrnehmung und soziale Interaktion. Ein weiteres Projekt ist das Haus Bahar in Mainz, das wohnungslosen Frauen Wohnraum und Hilfe bei gesundheitlichen oder sozialen Problemen bietet. International engagiert sich der Verein in Krisengebieten wie der Ukraine, Lesbos, Kenia, Syrien und der Republik Côte d’Ivoire.