Schwangere Kinder |
16.09.2002 00:00 Uhr |
PZ/idw Seit einigen Jahren steigt die Zahl der Schwangerschaften bei Teenagern in Deutschland bedenklich und auch die Schwangerschaftsabbrüche bei Minderjährigen nehmen stetig zu. Eine Ursache dafür ist mangelhaftes Wissen, wie eine Studie des Robert-Koch-Instituts (RKI) zeigte.
Mehr als 7000 minderjährige Mädchen brachten im Jahr 2000 in Deutschland ein Baby zur Welt - rund 45 Prozent mehr als noch 1998. Bei den unter 14-Jährigen verdoppelte sich im gleichen Zeitraum die Zahl der Mütter von 77 auf 161. Dramatisch stieg zudem die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche bei Teenagern: Allein von 2000 auf 2001 wuchs sie um ein Fünftel auf 6909. Ebenfalls um 20 Prozent nahmen die Abbrüche bei Mädchen unter 14 Jahren zu - von 574 auf 696. Den Trend belegen auch die Zahlen des Statistischen Bundesamtes in Wiesbaden: Schwangerschaftsabbrüche bei Mädchen unter 15 Jahren stiegen von 1996 bis 2001 um 90 Prozent.
"Der horrende Anstieg der Schwangerschaftsabbrüche bei Jugendlichen ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass Mädchen immer früher geschlechtsreif werden", erklärt Dr. Gisela Gille, Ärztin aus Lüneburg und Vorsitzende der "Ärztlichen Gesellschaft zur Gesundheitsförderung der Frau e.V." (ÄGGF). Heute bekommen Mädchen ihre erste Menstruation im Durchschnitt bereits mit zwölf Jahren. Viele sind sogar schon mit neun oder zehn Jahren geschlechtsreif. Entsprechend früher machen viele ihre ersten sexuellen Erfahrungen - vom Küssen übers Petting bis zum Geschlechtsverkehr. Ihr „erstes Mal“ hatte nach Angaben der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung im Jahr 2001 bereits jede zehnte 14-Jährige und jede vierte 15-Jährige hinter sich.
Das erste Mal oft ohne Verhütung
"Eine Folge des frühen Einstiegsalters in die Sexualität ist, dass etwa 18 Prozent der 14- bis 15-jährigen Mädchen beim ersten Geschlechtsverkehr nicht verhüten", berichtet Gille. Eben dies möchte sie zusammen mit ihren Kolleginnen der ÄGGF verhindern. Deshalb besuchen die Ärztinnen Schulen und führen dort jeweils einmal im Schuljahr - meist im Rahmen der Sexualkunde - ein anderthalbstündiges Gespräch mit Mädchen (teils auch mit Jungen) der sechsten bis zehnten Schulklassen. Im Jahr 2001 kamen über 46 000 Schülerinnen und Schüler zu den 2311 "Ärztinnen-Informationsstunden", die nicht als Vortrag, sondern als Dialog geführt werden.
Die Ergebnisse dieses Engagements untersuchte kürzlich die Forschungsgruppe "Kinder- und Jugendgesundheit" des Robert-Koch-Instituts in Berlin in einer Studie an 1911 Schülerinnen und Schülern aus Berlin, Hamburg und Nordrhein-Westfalen. Die Forscher befragten 881 Mädchen aus den sechsten Klassen sowie 1030 Mädchen und Jungen aus den neunten und zehnten Klassen mithilfe eines umfangreichen anonymen Fragebogens. Danach besuchte ein Teil der Teilnehmer die Ärztinnen-Informationsstunden. Zwei Wochen später füllten alle Schülerinnen und Schüler den gleichen Fragebogen erneut aus. Die Antworten auf insgesamt 133 Fragen zum Wissen über Sexualität sowie zu Meinungen und Einstellungen gaben den Forschern detaillierte Einsichten zu den Kenntnissen und Einstellungen vor den Informationsstunden und zur Wirkung des Engagements der Ärztinnen.
Über Empfängnisverhütung und Schwangerschaft sei im Unterricht selten oder überhaupt nicht gesprochen worden, gaben 61 Prozent der befragten Sechstklässlerinnen an. Dennoch stuften 38 Prozent ihre Kenntnisse als "gut" bis "sehr gut" ein. Bei den Schülerinnen der neunten und zehnten Klassen hatten 31 Prozent in der Schule nicht darüber gesprochen und 71 Prozent glaubten, sich "gut" bis "sehr gut" auszukennen. Diese hohe Selbsteinschätzung ist allerdings nicht durch entsprechendes Wissen unterfüttert. So überschatten Ängste das Thema Empfängnisverhütung - Folge eines deutlichen Informationsmangels: 60 Prozent der befragten Mädchen befürchtet, die Pille mache dick; fast die Hälfte meint gar, sie könnte Krebs verursachen. Nahezu zwei Drittel trauen der Sicherheit des Verhütungsmittels nicht. Noch mehr als die Pille fürchten die Mädchen jedoch die Schwangerschaft. "Darum schließen viele Mädchen einen pragmatischen Frieden mit der Pille", kommentiert Gille, "ohne jemals über ihre Sorgen und Befürchtungen ausführlich sprechen zu können." Hinzu kommt der soziale "Erfolgsdruck" - nicht außen vor sein zu wollen. Die befragten Mädchen schätzten den Anteil der Altersgenossinnen, die bereits Geschlechtsverkehr haben, deutlich höher ein als die tatsächliche, in Umfragen ermittelte Quote. So glaubten 40 Prozent der Schülerinnen, dass zwei Drittel der 16-Jährigen den ersten Koitus bereits hinter sich hätte. Jede Zehnte meinte gar, diese Erfahrung hätten schon 80 Prozent gemacht. Die richtige Antwort lautet Angaben der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zufolge 40 Prozent.
Solche Wissensmängel und Fehleinschätzungen lassen sich durch Aufklärungsarbeit rasch beheben. Vor der Ärztinnen-Informationsstunde beantwortete die Hälfte der Sechstklässlerinnen die Frage "Ab wann kann ich schwanger werden?" falsch. Zwei Wochen nach der Informationsstunde wussten vier Fünftel Bescheid: Sie können prinzipiell mit dem Einsetzen der ersten Periode schwanger werden. Vor dem Gespräch mit den Ärztinnen kannten 82 Prozent der 13- bis 19-Jährigen nicht die "fruchtbaren Tage". Danach konnten 67 Prozent der Schülerinnen das "Konzeptionsoptimum" richtig angeben. Bei der ersten Befragung wussten 74 Prozent nicht, wann die "Pille danach" nach dem Verkehr spätestens eingenommen werden muss. Beim zweiten Test gaben 72 Prozent die richtige Zeitspanne an.
Gute Noten für das Projekt
"Das Ergebnis war hervorragend", kommentiert Dr. Christine Klapp von der Klinik für Geburtsmedizin der Charité in Berlin. Die Mädchen der sechsten Klassen verbesserten ihr Wissen um 84 Prozent, die Schülerinnen der neunten und zehnten Klassen um 32 Prozent. Gute Noten bekamen die engagierten Ärztinnen von ihren jungen Gesprächspartnerinnen: 95 Prozent der Sechstklässlerinnen beurteilten die Informationsstunde als "gut" bist "sehr gut", obwohl zuvor 40 Prozent geglaubt hatten, sie könnten nichts dazu lernen. Beim Gespräch über Sexualität sind Vertrauen und Glaubwürdigkeit besonders wichtig. " Man muss über das, worüber man spricht, auch gerne sprechen", betont Gille. Das könne man nicht von jedem Biolehrer erwarten. Die 42 Ärztinnen der ÄGGF sind allesamt Mütter, familien- und berufserfahren. Und sie sprechen mit den Mädchen von Frau zu Frau.
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