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Biosensor-Chips belauschen Zwiegespräche unter Zellen

20.01.2003  00:00 Uhr

Biosensor-Chips belauschen Zwiegespräche unter Zellen

von Hannelore Gießen, München

Zellen stehen über sehr enge Oberflächenkontakte miteinander in Verbindung. Darüber erkennen sie zum Beispiel, ob Moleküle körpereigen oder körperfremd sind. Aber auch das An- und Abschalten einzelner Funktionen erfolgt über einen Signalaustausch zwischen den Zellen. Diese Zwiegespräche können Wissenschaftler mit mikroelektronischen Biosensor-Chips belauschen.

Wie kommunizieren Zellen untereinander? Was ändert sich, wenn Zellen entarten? Das Team um Professor Dr. Bernhard Wolf von der Technischen Universität München sucht nach Antworten auf diese Fragen. Schon vor einigen Jahren war es gelungen, die Zell-Zell-Kommunikation durch Fluoreszenz-Mikroskopie sichtbar zu machen und den Zellverband mit einem Wachstumsfaktor zu stimulieren. Eine ganze Lawine von Signalen wurde dabei gemessen, hervorgerufen durch Calciumionen, die die Zelle durchströmen.

Ionen erzeugen beim Durchwandern der Membranschichten Spannungen, wobei sich die Spannung einer sich teilenden Zelle erheblich von der einer ruhenden unterscheidet. Die daraus resultierende Änderung der Feldstärken beeinflusst die Nachbarzelle wesentlich mehr als ein von der Zelle selbst abgegebenes Hormon oder ein Wachstumsfaktor. Die Wissenschaftler schlossen daraus, dass in erster Linie physikalische Effekte die Zelle steuern. Eine Einschätzung, die auch nach der Evolution plausibel erscheint: Die Urzelle war wesentlich einfacher gebaut als die heute bekannten Strukturen mit mehreren Dutzend Membranen. Sie bestand nur aus drei Membranen und hat vermutlich physikalisch kommuniziert und nicht chemisch.

Wolf steht deshalb rein molekularbiologischen Ansätzen in der Tumorforschung, bei denen versucht wird, gezielt über einzelne Proteine wie RAF und RAS das Tumorwachstum zu bremsen, skeptisch gegenüber. „Zellen verfügen über enorme Bypass-Fähigkeiten, um eine solche Hemmung zu umgehen“, sagt er.

Variationen im Energiestoffwechsel

Allen Zellen ist eines gemeinsam: der Energiestoffwechsel mit Abbau von Glucose, Aminosäuren und Fettsäuren, um als einheitliche „Energiemünze“ ATP (Adenosintriphosphat) herzustellen. Zwei eng miteinander verknüpfte Stoffwechselwege sind dabei entscheidend, die Glykolyse und die Atmungskette. Dabei werden Säuren ausgeschieden, eine Erhöhung des ATP-Bedarfs führt deshalb zu einem Anstieg des pH-Wertes im extrazellulären Milieu. Da der Zellstoffwechsel in Tumoren stark beschleunigt ist, bildet das entartete Gewebe auch vermehrt Säuren.

Um gesunde Zellen von Tumorzellen zu unterscheiden, eignet sich deshalb der pH-Wert als Parameter. Ein zweiter Marker für den Metabolismus der Zelle ist der Sauerstoffverbrauch, der vor allem die Aktivität der Mitochondrien widerspiegelt. Mit diesen Parametern können die Forscher Rückschlüsse auf die Wirkung von Hormonen und Wachstumsfaktoren sowie Pharmaka wie Zytostatika ziehen.

Die Zellen passen ihren Energiemetabolismus den jeweiligen Erfordernissen an. So wird zum Beispiel mehr ATP für Phosphorylierungsreaktionen benötigt, wenn anabolische Prozesse wie die Synthese neuer Proteine oder die DNA-Synthese angekurbelt werden. Umgekehrt können physiologische oder toxische Inhibitoren bestimmte biochemische Prozesse drosseln.

Somit können die Wissenschaftler allein aus den Veränderungen des Energiestoffwechsels grundlegende Informationen über die Vitalität der Zellen gewinnen, ohne biologische Detailkenntnisse über die Signalwege mit einzubeziehen. Denn der veränderte Energiemetabolismus ist bereits Ausdruck aktivierter Signaltransduktionswege.

An- und Abschalten von Zellfunktionen sowie Erkennen körperfremder und körpereigener Moleküle erfolgt über enge Oberflächenkontakte zwischen den Zellen. Um die physikalischen Zwiegespräche der Zellen zu belauschen, verwenden die Wissenschaftler inzwischen Chip-Systeme. „Bei Reagenzglasforschung, auch bei der miniaturisierten, wird nur ein Untersystem erfasst. Weder dynamisches Verhalten noch Bypass-Systeme der Zelle können beobachtet werden“, erläutert Wolf die Projekte des Lehrstuhls für medizinische Elektronik.

Biosensor-Chips

Die Chips bestehen aus Silizium oder Glas und werden mit funktionell unterschiedlichen Sensoren ausgestattet. Das Material ist biokompatibel und die Wachstumsfläche beträgt 5 bis 100 mm². Da die Zellen direkt im Kontakt zu den Sensoren wachsen, werden Veränderungen in der Ansäuerungsleistung der Zellen und deren Sauerstoffverbrauch in der unmittelbaren Umgebung gemessen. Die Messung ist sehr empfindlich: Um Signalveränderungen aufzeichnen zu können, genügen weniger als 10³ Zellen. Die Wissenschaftler messen die Signalweitergabe, indem sie den Wechselstromwiderstand der Zellen (Impedanz) bestimmen. Dadurch können sie auf deren Membraneigenschaften rückschließen, die zum Beispiel auf veränderten Zell-Zell-Kontakten basieren.

Ein wichtiger Bestandteil des Zell-Chip-Systems ist ein Perfusionssystem für das Kulturmedium, das für einen regulierten Zufluss von Nährstoffen und Wachstumsfaktoren sorgt sowie den Abfluss von Stoffwechselprodukten. Dem Nährmedium können auch Wirkstoffe wie Hormone oder Zytostatika zugesetzt werden.

Tumoren individuell beurteilen

Eigentlich sind in jedem Tumor genügend Abwehrzellen vorhanden, sie sind aber nicht aktiv. Treffen Lymphozyten und Tumorzellen in Lösungen mit unterschiedlichen pH-Werten aufeinander, so zeigt sich, dass lediglich der pH-Wert die Lymphozyten inhibiert. In einem anderen Medium beginnen die Lymphozyten tatsächlich, die Tumorzellen zu phagozytieren. Zurzeit prüfen die Münchner Wissenschaftler in Zusammenarbeit mit Klinikern, inwieweit sich der Metabolismus von Zellen verändern lässt. An soliden Tumoren können die Forscher bereits den Biosensor-Chip anlegen und messen, wie viele Protonen der Tumor abgibt und umgekehrt einen Wirkstoff testen, der die Ansäuerung hemmt. Erstes Einsatzgebiet der neuen Technologie sollen zukünftig solide Lebertumore oder inoperable Metastasen im Kopf sein.

Bisher werden die multiparametrischen Chips an verschiedenen Tumorzelllinien wie einer humanen Kolonkarzinom-Zelllinie untersucht. Dabei zeigt das metabolische Profil einer solchen Zelllinie einen steigenden Sauerstoffverbrauch, während die Ansäuerungsrate im Gegensatz zu den soliden Tumoren und anderen Zelllinien nahezu unverändert bleibt. Offenbar steigt bei diesen Zellen die Zellatmung kontinuierlich an, während die vermehrte Säureausscheidung vermutlich abgepuffert wird. Ob Calciumionen freigesetzt oder Proteine verstärkt phosphoryliert werden, kann mit Hilfe der Biosensor-Chips sehr rasch abgelesen werden.

Patienten gezielt versorgen

Ein weiteres Anwendungsfeld der Biosensor-Chips ist die gezielte Wirkstoff-Freisetzung über Sensor-gesteuerte Drug-Delivery-Systeme. Ein Gerät, das für die spezifische Erkrankung relevante Parameter misst und entsprechend die erforderliche Arzneistoffmenge abgibt, wäre besonders für Diabetiker und Schmerzpatienten ein Therapiefortschritt. Auch eine Anwendung in der telematischen Medizin gehört zu den Fernzielen der Biosensortechnik. Dabei könnten Sensoren in kleine Sensoreinheiten, beispielsweise einen Ring, integriert werden, um damit verschiedene Parameter wie Hautwiderstand, pH-Wert oder Impedanz zu messen. Für ältere Menschen kann so ein Warnsystem entwickelt werden, das sie frühzeitig auf möglicherweise gefährliche Veränderungen hinweist und sie so veranlasst, medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen.

 

Interview: Zelluläres Screening zur Arzneistoffentwicklung PZ: Herr Professor Wolf, wie prüfen Sie mit Ihrer Methode Tumoren auf Zytostatikaresistenz?

Wolf: Wir verfolgen dabei einen metabolischen Ansatz. Am pH-Wert und am Sauerstoffverbrauch erkennen wir, ob der Stoffwechsel der Zelle durch eine bestimmte Substanz unterdrückt wird oder ob die Zelle ungehindert weiter wächst.

PZ: Wodurch kommt es überhaupt zu einer Zytostatikaresistenz?

Wolf: Zunächst gibt es sehr häufig eine Spontan- oder Primärresistenz. Wir beobachten, dass auch stark toxische Substanzen, die den Stoffwechsel einer gesunden Zelle vehement verändern würden, viele Tumorzellen überhaupt nicht beeinflussen. Wir können mit unserer Methode gut beobachten, ob eine Zelle auf den Wirkstoff reagiert oder ihn einfach vorbeiziehen lässt. Eine zweite Form der Resistenz, die wir heute bei vielen Patienten beobachten, ist jedoch eine völlig unspezifische Resistenz, die Ausdruck eines langfristigen Einflusses von Xenobiotika, vor allem von Antibiotika, ist. Diese Form der Zytostatikaresistenz untersuchen wir gegenwärtig in Zusammenarbeit mit der pharmazeutischen Industrie, um festzustellen, welche Substanzen sich dabei besonders auswirken.

PZ: Was wird sich Ihrer Einschätzung nach bei der Entwicklung neuer Arzneistoffe tun?

Wolf: Beim bisherigen Hochdurchsatz-Screening auf der Basis von DNA besteht zum einen das Problem, geeignete Targets zu finden. Zum anderen ist es nicht immer möglich, für ein Target auch einen passenden Wirkstoff zu entwickeln. Deshalb hat sich die Wirkstoffsuche inzwischen von den DNA-Sequenzen auf die Protein-Sequenzen verlagert, aber auch da besteht dieselbe Schwierigkeit, aus einem Informationswust geeignete Ansätze herauszudestillieren. Deshalb denken wir, dass die Zukunft der Arzneimittelentwicklung in einem zellulären Screening liegen wird. Anhand von Stoffwechselveränderungen, und der Zeitreihenanalyse sowie Kurvendiskussion der erhaltenen Muster kann man beobachten, wie eine Zelle auf eine Substanz reagiert, welche Signale sie aussendet, ob sie wächst oder ruht.

 

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