Medizin
Rund 10 Prozent der Bundesbürger sind depressiv. Das Lebenszeitrisiko
für eine Depression beträgt circa 20 Prozent. Nur ungefähr die Hälfte dieser
Störungen wird erkannt. Grund genug für das Komitee für Prophylaxe und
Therapie der Depression (PTD), eine stärkere Fortbildung von
Allgemeinmedizinern zum Thema Depression zu fordern.
Denn Allgemeinmediziner sind in den meisten Fällen die einzigen Ärzte, die ein
depressiver Patient mit seinen nicht immer eindeutigen Symptomen aufsucht. Aus
Anlaß seines 20jährigen Bestehens veranstaltete das PTD-Komitee eine
Fortbildungstagung in Berlin.
Epidemiologische Studien, so der Vorsitzende des deutschen PTD-Komitees,
Professor Dr. Hanfried Helmchen, weisen nach, daß 50 bis 75 Prozent aller
Depressionen nicht behandelt werden, weil niemand sie erkennt. Um dem zu
begegnen, haben der Weltverband für Psychiatrie (WPA) und das Internationale
PTD-Komitee ein videogestütztes Depressions-Ausbildungsprogramm entwickelt,
das Professor Dr. Juan José Lopez-Ibor, Generalsekretär des WPA, in Berlin
vorstellte. Inhalte sind neben der Epidemiologie, der Pathogenese und den
Symptomen vor allem Hinweise zur Diagnose und Behandlung der Depression.
Erfolge eines ähnlichen Trainingsprogramms zeigte eine Studie, die das schwedische
PTD-Komitee in den 80er Jahren auf der Insel Gotland durchgeführt hatte. Alle
Allgemeinärzte der Insel waren in der Diagnose und Therapie der Depression
geschult worden. Im darauffolgenden Jahr war die Suizidhäufigkeit um mehr als die
Hälfte zurückgegenangen. Gleichzeitig hatten Aufenthalte in psychiatrischen Kliniken
ab und die Verschreibungen von Antidepressiva zugenommen.
Comorbidität und Suizid
Die Depression ist eine Erkrankung, die in vielen Fällen mit anderen Krankheiten
gleichzeitig auftritt. Dazu gehören neben Herzerkrankungen, Rheuma und Infektionen
auch Angsterkrankungen und Persönlichkeitsstörungen. Das erschwert die
Diagnose. Außerdem erhöht sich das Suizidrisiko.
In Deutschland sterben mehr Menschen durch Suizid als im Straßenverkehr, sagte
Dr. Bernd Ahrens, Oberarzt der Psychiatrischen Klinik der Freien Universität Berlin.
Mindestens 40 Prozent der Selbstmörder seien depressiv. Mehr als 20 Prozent der
depressiven Patienten hätten einen Suizidversuch hinter sich. Häufig, so Ahrens, sei
die Suizidneigung ein Problem der Unterdosierung von Antidepressiva. Besonders
trizyklische Antidepressiva würden in vielen Fällen zu niedrig dosiert. Bei der
medikamentösen Therapie sei auch zu beachten, daß man dem suizidgefährdeten
Patienten nicht ein Mittel zum Suizid an die Hand gebe. Die Gruppe der selektiven
Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) sei daher bei Hochrisikopatienten
vorzuziehen. Trizyklische Antidepressiva wirkten wesentlich stärker toxisch.
Pharmakotherapie
Trotzdem sollte man bei erhöhtem Suizidrisiko zusätzlich zu SSRI auch einen
Tranquilizer verschreiben, erklärte Professor Dr. Hans-Jürgen Möller, Direktor der
Psychiatrischen Klinik der Universität München. Bei der Auswahl des geeigneten
Medikamentes seien neben der Berücksichtigung des Suizidrisikos besonders
Nebenwirkungen und Kontraindikationen zu beachten. Vorteil der SSRI seien die im
Vergleich zu trizyklischen Antidepressiva geringeren Nebenwirkungen, so Möller.
Als Nachteile nannte er neben dem höheren Preis ihre Interaktionen mit Cytochrom
P450 und dem daraus resultierenden verlangsamten Abbau von Arzneimitteln, die
über P450-Enzyme abgebaut werden. Eine kritiklose Empfehlung von SSRI sei
gerade bei älteren Menschen, die in der Regel verschiedene Präparate einnehmen,
gefährlich, bestätigte auch Bernd Geiselmann, Oberarzt der Abteilung für
Gerontopsychiatrie des Berliner Max-Bürger-Zentrums.
Unabhängig davon, mit welchem Antidepressivum behandelt werde, müsse man
besonders beachten, daß die Therapie auch nach der Stabilisierungsphase
fortgesetzt werden müsse, um Rezidiven vorzubeugen, sagte Möller.
Interpersonelle Therapie
Aber nicht nur der Pharmakotherapie kommt bei der Behandlung von Depressionen
eine große Bedeutung zu, auch die Psychotherapie ist in vielen Fällen sowohl als
Alternative zur Medikamentengabe als auch als begleitende Therapie effizient,
erklärte Professor Dr. Matthias Berger, Direktor der Universitätsklinik für
Psychiatrie und Psychosomatik der Universität Freiburg. Besonders bei leichten und
mittelschweren Depressionen sei eine alleinige Psychotherapie möglich. Berger
favorisierte die Interpersonelle Therapie (IPT), die speziell zur Behandlung der
Depression entwickelt wurde. Die Depression wird dabei als eigenständiges
Krankheitsbild betrachtet und nicht nur als Befindlichkeitsstörung abgetan. Der
Schwerpunkt der Behandlung liegt auf den depressionsrelevanten Symptomen. Bei
einer leichten Depression sei aber jede Art der Zuwendung hilfreich, so Berger.
PZ-Artikel von Monika Noll, Berlin
© 1997 GOVI-Verlag
E-Mail: redaktion@govi.de