Medizin
Auf gravierende Mängel in der
Diagnostik und Therapie von Fibromyalgie-Patienten wies
die Deutsche Rheumaliga bei einem Workshop am 17. April
1997 in Hamburg hin. In Deutschland, so Vorstandsmitglied
Christel Kalesse, leiden mehr als eine Million Menschen
an dem generalisierten Weichteilrheumatismus, der mit
chronischen Schmerzen im ganzen Körper, Erschöpfung,
Schlaflosigkeit und Depression einhergeht. Die Mehrzahl
der Betroffenen sind Frauen. Viele Ärzte stünden dem
Leiden hilflos gegenüber, weil sie über das
Fibromyalgie-Syndrom und geeignete Therapieverfahren
nicht ausreichend informiert seien, klagte Kalesse.
Ein Vergleich der Operationshäufigkeit von
Fibromyalgie-Patienten mit der Durchschnittsbevölkerung
zeige, daß an Betroffenen mehr als dreimal so häufig
gynäkologische Eingriffe, Bandscheiben- und
Bauchoperationen durchgeführt werden. Es wird an den
Symptomen herumgedoktert, ohne wirklich zu helfen",
sagte Kalesse.
Gravierende Mängel in Diagnose und Therapie
Die Ursachen des Fibromyalgie-Syndroms sind
unklar. Die Patienten werden nicht selten als Simulanten
behandelt und fühlen sich unter Beweisnot, da das
Hauptsymptom Schmerz objektiv nicht meßbar ist, so Dr.
Wolfgang Brückle, Bad Nenndorf. Labor- und
Röntgenuntersuchungen gäben keine Hinweise und könnten
lediglich dem Ausschluß anderer Erkrankungen dienen. Die
Arzt-Patienten-Beziehung sei häufig geprägt von
Mißverständnissen und Mißtrauen. Der Ausdruck
"schwieriger Patient" spiegele die relative
Erfolgs- und Hilfslosigkeit der Ärzte in der Behandlung
wider.
Eine wirksame medikamentöse Therapie fehle, auch
sprächen die Patienten sehr unterschiedlich auf
krankengymnastische oder physikalische Maßnahmen an,
betonte Brückle. Arzt und Patient seien daher gezwungen,
in einem "langen Prozeß durch Versuch und
Irrtum" die relativ wirksamen Therapien
herauszufinden.
Analgetika und nichtsteroidale Antiphlogistika bewirken
nur bei circa 10 Prozent der Patienten eine Besserung, so
Professor Dr. Wolfgang Müller, Gründer des
Fibromyalgie-Zentrums Bad Säckingen. Die Wirkung von
Muskelrelaxantien sei noch umstritten. Auch trizyklische
Antidepressiva führten bei nur einem Drittel der Fälle
zur lediglich temporären Besserung der Beschwerden.
Von seiner Arbeitsgemeinschaft sei der
Serotonin-3-Rezeptor-Antagonist Tropisetron in die
Behandlung der Fibromyalgie eingeführt worden. Bei
ausgewählten Patienten habe man bei circa 50 Prozent der
Patienten bereits nach kurzer Behandlung günstige
Effekte erzielt. Die Ergebnisse hätten mittlerweile in
Doppelblindstudien gegen Placebo an 400
Fibromyalgie-Patienten Bestätigung gefunden.
Druckschmerz an 18 "tender points"
Hilfreich in der Diagnose sei die sofortige
Schmerzreaktion des Patienten an 18 sogenannten
"tender points", ausgelöst durch einen
entsprechenden Fingerdruck des kundigen Arztes. Patienten
mit Fibromyalgie, so Müller, sollten nach
Diagnosestellung möglichst rasch mit einer stationären
Rehabilitation in entsprechend ausgerüsteten
Fachkliniken beginnen, um den Umgang mit der Erkrankung
zu trainieren.
Unter den physikalisch-therapeutischen Applikationen habe
sich die Ganzkörperkältetherapie bei circa minus 100
ºC bewährt. Die temporäre Schmerzlinderung, ausgelöst
durch den Kälteschock bei dreiminütigem Aufenthalt in
der Kältekammer, schaffe beste Voraussetzungen für die
unbedingt notwendige krankengymnastische Behandlung sowie
körperliche Aktivität in Form von Wandern, Schwimmen,
Radfahren et cetera. Streß- und
Schmerzbewältigungsstrategien sowie Entspannung, zum
Beispiel durch autogenes Training oder Biofeedback,
könnten zur Bewältigung der Krankheit beitragen.
PZ-Artikel von Christiane Berg, Hamburg
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