Medizin
Bereicherung der Schmerztherapie schwerstkranker Patienten oder
unabsehbares Risiko für die Entwicklung von Abhängigkeit und Mißbrauch?
Über den Stellenwert des medizinischen Einsatzes von Cannabis
beziehungsweise seinem Inhaltsstoff Tetrahydrocannabinol (THC) scheiden
sich die Geister von Fachleuten, so auch bei einer Diskussionrunde Anfang
März beim 9. Deutschen Schmerztag in Frankfurt.
Seit dem 1. Februar darf THC in Deutschland als Betäubungsmittel verschrieben
werden; ein entsprechendes Präparat ist hierzulande jedoch nicht auf dem Markt. Es
muß aus den USA importiert werden (Dronabinol), wo es bereits zur Behandlung
von Tumorschmerzen, Appetitlosigkeit und Kachexie bei Krebs- und Aids-Patienten
eingesetzt wird.
Anders als der isolierte Wirkstoff darf ein Gesamtextrakt aus der Hanfpflanze
bislang nicht medizinisch verwendet werden. Allerdings vermuten Experten, daß
dieser ein breiteres Wirkspektrum haben könnte und möglicherweise besser
verträglich ist als THC alleine. Zur Klärung soll eine kürzlich von der
Bundesopiumstelle in Berlin genehmigte Studie beitragen, in der an 720 Krebs- und
Aidspatienten die Wirkung eines standardisierten Cannabis-Gesamtextrakts getestet
und mit der des reinen THC-Präparates verglichen werden soll. Dies berichtete der
Professor Dr. Robert Gorter vom Berliner Institut für onkologische und
immunologische Forschung in Frankfurt.
Gorter, der als Arzt THC bereits bei Aids- und Tumorkranken eingesetzt hat, zog
ein überwiegend positives Resümee aus diesen Erfahrungen. Neben der
Schmerzlinderung sei es zu einer Appetitsteigerung bei den Betroffenen gekommen
sowie zur Linderung von Zytostatikanebenwirkungen wie Übelkeit und Brechreiz.
Auch die Häufigkeit notwendiger Begleitmedikation habe abgenommen.
Das Abhängigkeitspotential ist nach Einschätzung des Facharztes für
Allgemeinmedizin beim Einsatz therapeutischer THC-Dosen vergleichweise gering.
Toxische Effekte wie Immunkomprimierung habe man im Tierversuch nur unter sehr
hohen Cannabinoid-Dosen beobachtet, ein dokumentierter Todesfall durch THC sei
in der Literatur nicht bekannt. Die therapeutische Anwendung sollte laut Gorter
grundsätzlich oral oder rektal erfolgen, keinesfalls inhalativ durch Rauchen.
Ziel der Forschungsbemühungen ist es, die seit Urzeiten bekannte Hanfpflanze zu
remedizinisieren und zwar "nach den gleichen Spielregeln wie andere Arzneimittel
auch", betonte Professor Dr. Rudolf Brenneisen vom Departement für klinische
Forschung der Universität Bern. Über den Status eines Betäubungsmittels wird THC
nach seiner Überzeugung nie hinausgehen können, ein "freier Verkehr über den
Ladentisch" sei undenkbar. Eine Abwägung von Nutzen und Risiken des
therapeutischen THC-Einsatzes weist für ihn aber deutlich in Richtung Nutzen. Das
Nebenwirkungsprofil sei kontrollierbar.
Brenneisen verwies auf das komplexe Wirkspektrum von THC, das verschiedene
Neurotransmittersysteme und indirekt auch die Opiatrezeptoren betrifft. Noch vor
gut 10 Jahren habe man die Wirkung auf Membranbindungen des lipophilen
Wirkstoffs geschoben. Erst 1988 habe man den ersten Cannabinoid-Rezeptor
entdeckt, 1990 dessen Lokalisation im Gehirn und zwei Jahre später die
Anandamide als physiologische Liganden dieser Andockstelle. 1993 wurde ein
zweiter, diesmal peripherer Cannabinoidrezeptor identifiziert, 1997 fanden Forscher
den zweiten endogenen Liganden, über den man sich den Link der
Cannabinoid-Rezeptoren mit dem Opiat-System erklärt. Inzwischen wisse man
auch, so Brenneisen, daß der zentrale Rezeptor, ein G-Protein-gekoppeltes Molekül
aus circa 470 Aminosäuren, offenbar speziesunabhängig ist. Die periphere
Bindungsstelle scheint speziesabhängig zu sein.
Weitaus skeptischer als seine beiden Vorredner stuft Professor Dr. Wolfram Keup,
Leiter des Frühwarnsystems zur Erfassung des Mißbrauchs chemischer Substanzen
in Deutschland, die möglichen Gefahren durch THC ein. Nicht nur der medizinische
Einsatz, sondern auch der als Genußmittel sei verstärkt in den Mittelpunkt des
Interesses gerückt. Den beliebten Vergleich mit Nikotin oder Alkohol hält Keup für
"dumm". Ginge es um eine Zulassung für diese beiden Substanzen, würden auch sie
durchfallen, so seine Worte.
Der Mediziner verwies auf das Schädigungsmuster, das vom Cannabis-Mißbrauch
bekannt ist und neben Stimmungsschwankungen, Einschränkungen der Lernfähigkeit,
der Gedächtnisleistung und des Reaktionsvermögens auch ein gesteigertes
Schizophrenierisiko umfaßt. Dies müsse zwar nicht grundsätzlich für THC-haltige
Arzneimittel gelten, sie müßten jedoch sorgfältig untersucht werden.
Nach guter Kenntnis der Literatur ist der Einsatz von THC nicht zur Analgesie
geeignet, so Keups Fazit. Die analgetische Potenz sei zudem deutlich niedriger als
die von Morphin. Der Fachmann zur Erfassung von Mißbrauchsrisiken erwartet
daher keinen großen Nutzen vom medizinischen THC-Einsatz.
PZ-Artikel von Bettina Neuse-Schwarz, Frankfurt am Main
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