Medizin
Der Mensch hat das schönste und größte Gehirn und ist daher
intelligenter als andere Tiere. Diese weitverbreitete Meinung teilt Professor
Dr. Dr. Gerhard Roth vom Institut für Hirnforschung der Universität
Bremen nicht. Weshalb, das erklärte er auf einer Versammlung der
Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte Ende September in Berlin.
Besitzt unser Gehirn Merkmale, die es von den Gehirnen der Tiere unterscheidet?
Einen einzelnen Parameter, der das Gehirn des Menschen auszeichnet, konnten die
Wissenschaftler bisher nicht finden. So hat der Mensch zum Beispiel bei weitem
nicht das größte Gehirn; weder absolut noch relativ. Sein Gehirn wiegt im
Durchschnitt 1450 Gramm, das eines Gorillas 550 Gramm und das eines Elefanten 5
kg. Der Pottwal schwimmt sogar mit 8 bis 9 kg Gehirn durchs Meer. Roth folgert:
"Solange wir nicht bereit sind zuzugestehen, daß Wale und Elefanten intelligenter sind
als wir, müssen wir daraus ableiten, daß absolute Gehirngröße nicht direkt mit
Intelligenz oder Klugheit korreliert."
Das Gehirn wird nicht größer, weil die Evolution dem jeweiligen Lebewesen
intelligentere Reaktionen oder die Koordination komplizierter Bewegungsabläufe
abfordert. Vielmehr korreliert die Größe des Gehirns mit der Körpergröße. Von
über 200 lebenden Wirbeltieren wurden Körpergewicht und Gehirngewicht in
Beziehung zueinander gesetzt. Kleine Tiere haben kleine, große Tiere große Gehirne.
Allerdings nimmt mit zunehmender Körpermasse das Gewicht des Gehirns relativ
ab. Das große Säugetier Mensch hat daher, relativ gesehen, bei weitem nicht das
größte Gehirn. "Da stehen die Spitzmäuse ganz oben", sagte Roth. Ihr Gehirn macht
10 Prozent der Körpermasse aus. Beim Blauwal sind es 0,01 Prozent.
Nur für seine Größe hat der Mensch ein ziemlich großes Gehirn. Das läßt sich über
eine Hilfskonstruktion berechnen. Setzt man das Verhältnis von Hirngröße zu
Körpergröße der Katze willkürlich gleich eins, haben Kaninchen und Ratte ein
unterdurchschnittliches Gehirn, obwohl sie klein sind. Beim Murmeltier ist das
Verhältnis 1,7mal besser, beim Walfisch 1,8mal und beim Delphin 5,3mal. Der
Mensch hat nach dieser Rechnung ein 7,4 mal größeres Gehirn als er haben müßte,
wäre er eine Katze in menschlicher Größe.
Das Gehirn des Menschen ist im Verlauf der Evolution sprunghaft und insgesamt
schneller als bei anderen Wirbeltieren gewachsen. Die ersten menschenartigen
Wesen hatten noch Gehirne von der Größe eines Schimpansen. Schon mit diesen
kleinen Gehirnen hätten sie den aufrechten Gang, den Gebrauch der Hand und die
Entwicklung von Werkzeugen gelernt, sagte Roth. Er zweifelt daher einen
evolutionsgeschichtlichen Zusammenhang von Gehirngröße und Intelligenz an. Man
gehe heute davon aus, daß sich durch einen "genetischen Unfall" dieses
verhältnismäßig große Gehirn entwickelt hat und daß der Mensch erst nach und nach
begonnen hat, etwas daraus zu machen, sagte Roth.
Auch andere Eigenschaften des menschlichen Gehirns sind zwar oft
überdurchschittlich ausgeprägt, aber meist nicht einzigartig. Die Ausmaße der
Großhirnrinde und die Anzahl der Windungen sind proportional zur Größe des
Gehirns. Wale und Elefanten liegen also wieder an der Spitze. Erstaunlicherweise
haben Delphine, im Gegensatz zum Menschen, einen riesengroßen präfrontalen
Cortex, der als Sitz von Planung, Voraussicht, Kurzzeitgedächtnis oder
Ich-Empfinden angesehen wird. Nur das Sprachzentrum für Grammatik und Syntax
scheint beim Menschen einzigartig zu sein, meinte Roth.
Verläßliche Daten zur Anzahl der Synapsen pro Nervenzelle gibt es jedoch noch
nicht. Und die Zellzahl? In einem definierten Stück Großhirnrinde liegt die Anzahl der
Nervenzellen bei Delphinen zum Beispiel unter dem Durchschnitt. Doch der Elefant
scheint in seinem großen Gehirn mindestens soviele Nervenzellen wie der Mensch zu
haben. Roth dazu: "Vielleicht ist er viel intelligenter als wir und sagt es nur nicht."
Roth kommt zu folgendem Schluß: Das menschliche Gehirn weist zwar keine
besonderen Eigenschaften auf, aber die Kombination von Hirngröße, Cortexgröße,
Zahl der Nervenzellen und Synapsen bestimmt das, was man Intelligenz nennt,
nämlich die Fähigkeit, neue Probleme kognitiver oder motorischer Art in
angemessen kurzer Zeit zu lösen.
PZ-Artikel von Stephanie Czajka, Berlin
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