Neue Strategien bei Multipler Sklerose |
29.09.1997 00:00 Uhr |
Medizin
Bei der Diagnose, Therapie und Versorgung von MS (Multiple
Sklerose)-Patienten ist es in den letzten Jahren zu einem Paradigmenwandel
gekommen. Die Ärzte stehen dieser Erkrankung, von der in Deutschland
mehr als 100 000 Menschen betroffen sind, nicht mehr so hilflos gegenüber
wie noch vor zehn oder fünfzehn Jahren.
Während eines von Hoechst Marion Roussel organisierten Presseseminars in Bühl
definierte Dr. Peter Rieckmann aus Würzburg die MS als eine organspezifische
Autoimmunerkrankung, bei der noch unklar ist, welches die relevanten Zielantigene
sind. Als pathogenetisch bedeutsam gelten Adhäsionsmoleküle, die dazu führen, daß
Zellen aneinander haften. Die Adhäsionsmoleküle fördern sowohl den Kontakt der
Immunzellen untereinander als auch den zwischen Immun- und Endothelzellen, und
zwar an der Grenzfläche, wo die Immunzellen über die Blut-Hirn-Schranke in das
zentrale Nervensystem einwandern. Außerdem gibt es Marker der zellulären
Aktivität, die anzeigen, in welchem Aktivitätsstadium sich die Nervenzelle befindet
oder ob sie bereits dem programmierten Zelltod, der Apoptose, unterliegt.
Wie Rieckmann betonte, ist der klinische Verlauf einer MS im Einzelfall nicht sicher
vorhersagbar; weder die initiale klinische Symptomatik noch die Häufigkeit der
Schübe geben eindeutige Hinweise, zu welchem Zeitpunkt das Auftreten bleibender
Behinderungen erwartet werden muß. Mit Hilfe serieller kernspintomographischer
Untersuchungen konnte gezeigt werden, daß die subklinische Krankheitsaktivität -
gemessen am Auftreten neuer Läsionen - wesentlich höher ist als die klinisch
nachweisbare Frequenz von MS-Schüben. In einigen Langzeitbeobachtungen
ergaben sich Zusammenhänge zwischen der initialen Zahl der im NMR (Nuclear
magnetic resonance, Kernspinresonanz) erkennbaren Läsionen und dem Ausmaß
der Behinderung nach fünf bis zehn Jahren.
Auf der Suche nach Aktivitäts- und Prognosemarkern
Durch die serielle Bestimmung verschiedener immunologischer Marker, welche bei
der Aktivierung und Migration von Immunzellen über die Blut-Hirn-Schranke eine
Rolle spielen, ist es gelungen, paraklinisch die Krankheitsaktivität im Blut oder im
Liquor cerebrospinalis nachzuweisen. So gelang es mit Hilfe einer hochsensitiven
Methode zum Nachweis von Zytokinen in Blutzellen, die mRNA für die wichtigsten
proinflammatorischen Zytokine (Tumornekrosefaktor-alpha und Interferon-gamma)
sowie für die immunmodulierenden Zytokine (zum Beispiel Interleukin-10) zu
quantifizieren. In seriellen Untersuchungen konnte außerdem gezeigt werden, daß
bereits bis zu vier Wochen vor Beginn eines neuen MS-Schubs ein Anstieg dieser
Marker in den Blutzellen stattfindet. Diese Veränderungen wurden auch in
Assoziation zu neu auftretenden, mit Gadolinium angereicherten Läsionen im NMR
beobachtet. Rieckmann räumte ein, daß es bisher noch keine klare Antwort gibt auf
die Frage, ob sich aus den hochsensitiven Methoden zum Nachweis von Zytokinen
in Blutzellen Entscheidungshilfen für die Therapie der MS ableiten lassen.
Immuntherapeutische Strategien
Dr. Peter Pöhlau aus Bochum erwähnte, daß sich die bei dieser Krankheit
ablaufenden Autoimmunprozesse hauptsächlich gegen die Myelinscheiden der
Nervenfasern im Gehirn und Rückenmark richten, wodurch akute neurologische
Funktionsstörungen, die sogenannten Schübe, ausgelöst werden. Die schubförmige
Verlaufsform geht mit fortschreitender Behinderung in die sekundäre, chronisch
progrediente Form über. Bei etwa 15 Prozent der Patienten beginnt die Erkrankung
von Anfang an ohne Schübe mit anschließenden Verbesserungen; diese Form wird
als primär chronisch progredient bezeichnet.
Entsprechend dem Schädigungsmechanismus wurden verschiedene Immuntherapien
entwickelt. Pöhlau erwähnte die bereits im Handel befindlichen Interferone beta-lb
und -beta-la sowie die intravenösen Immunglobuline, die sich derzeit noch in
klinischer Prüfung befinden. In randomisierten, doppelblinden, placebokontrollierten
Studien wurde der Einfluß dieser Pharmaka auf Schubrate, Progression der
Behinderung und (teilweise) auch auf die im Kernspintomogramm erkennbare
Krankheitsaktivität überprüft.
Neues Therapeutikum ist Copolymer-1, das in den USA sowie in Israel bereits zur
Behandlung von Patienten mit schubförmiger MS zugelassen ist. Hoechst Marion
Roussel und Gry-Pharma, die den Wirkstoff gemeinsam vertreiben wollen, erwarten
die erste europäische Zulassung von Copolymer-1 (Copaxone) für Anfang 1998.
Copolymer-1 ist das Acetatsalz einer Mischung aus synthetischen Polypeptiden, die
aus den vier Aminosäuren L-Alanin, L-Glutaminsäure, L-Lysin und L-Tyrosin
zusammengesetzt sind. Einige Fachleute vermuten, daß Copolymer-1 über eine
Kreuzreaktivität mit basischem Myelinprotein (MBP) und eine Hemmung der
zellvermittelten Immunreaktion auf das MBP-Antigen wirkt.
Nach einigen erfolgversprechend verlaufenen Pilotstudien wurde Copolymer-1 im
Rahmen einer multizentrischen Phase III-Studie, an der sich 11
US-Universitätskliniken beteiligten, an Patienten mit schubförmig-remittierender MS
untersucht; primärer Endpunkt war ein Unterschied bezüglich der Schubrate. Nach
Abschluß der zweijährigen Studie betrug die Schubrate in der Verumgruppe 1,19 ±
0,13 und in der Placebogruppe 1,68 ± 0.13, was einer Reduktion in der
Copolymer-l-Gruppe um 29 Prozent entspricht. Auch die Krankheitsprogression
war in der Verumgruppe verlangsamt. Am deutlichsten ausgeprägt war der Effekt
bei Patienten, die noch keine oder erst geringe Behinderungen aufwiesen. Das neue
Wirkgemisch hat sich als relativ nebenwirkungsarm erwiesen. Da die
Autoimmunprozesse bei der MS immer weitere Strukturen einbeziehen, kommt es
nach Pöhlau wesentlich darauf an, die Patienten frühzeitig zu behandeln.
PZ-Artikel von Dieter Müller-Plettenberg, Bühl
© 1997 GOVI-Verlag
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