Medizin
Mindestens jeder fünfte Mensch in westlichen Industrienationen leidet
an einem gestörten Schlaf-Wach-Rhythmus. Noch stärker prädisponiert sind
Frauen und Ältere. Am häufigsten trifft es chronisch Kranke; von ihnen
schlafen nach einer Untersuchung in internistischen Rehabilitationskliniken
fast 40 Prozent nicht befriedigend ein oder durch.
Nur etwa jeder zweite Schlafgestörte gibt seine Beschwerden beim Arztbesuch an,
die meisten Patienten vermuten ein Nicht-Abschalten-Können von Problemen oder
körperliche Erkrankungen als Ursache ihrer Störungen. Primärärztlich erkannt und
behandelt werden letztlich nur rund 40 Prozent der Betroffenen. Eine Situation, die
nicht nur aus mechanischer sondern auch aus ökonomischer Sicht wenig
befriedigend ist.
Folgen der Behandlungslücken
Unzureichend therapierte Betroffene sind tagsüber müde und damit weniger
leistungsfähig, ihre Unfallhäufigkeit ist deutlich erhöht. Untersuchungen bei
Schlafapnoe-Patienten und Schnarchern ergaben im Vergleich zu Gesunden ein 37-
beziehungsweise 17mal erhöhtes Risiko ausgeprägter Tagesmüdigkeit. Etwa 10mal
schwerer als Gesunde erlernen Betroffene neue Aufgaben am Arbeitsplatz.
Die Folgekosten durch übermüdungsbedingte Unfälle werden allein in Deutschland
mit jährlich rund 20 Milliarden DM veranschlagt, 4 Milliarden davon für
Verkehrsunfälle. Hinzu kommen erhebliche Kosten durch Frühberentungen bei nicht
diagnostizierten, und unbehandelten Fällen (circa 300.000 DM pro Fall beim
Schlafapnoeiker) sowie Ausgaben für entstandene Folgeerkrankungen, falsch oder
zu lang eingesetzte Medikamente oder durch die Entwicklung von
Arzneimittelabhängigkeiten.
Nach Schätzungen von Experten sind etwa zwei Prozent der Deutschen von
Benzodiazepinen abhängig; häufigster Grund für die oft jahrelange Dauereinnahme
sind Rebound-Insomnien bei Absetzen der Medikation. Trotzdem gehören die
Benzodiazepine hierzulande mit jährlich etwa 290 Millionen Verordnungen nach wie
vor zu den am häufigsten eingesetzten Hypnotika.
Die Deutsche Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin (DGSM) führt die
Mißstände bei der Erkennung, Behandlung und Prävention von
Schlaf-Wach-Störungen unter anderem auch auf Informationsdefizite bei Ärzten und
Patienten zurück. Unterstützt von dem Pharmaunternehmen Synthelabo Arzneimittel
hat die DGSM daher für Allgemeinmediziner und Fachärzte wissenschaftliche Fort-
und Weiterbildungsseminare zu diesem Thema gestartet. Sie strebt darüber hinaus
eine engere Vernetzung von Schlafzentren und Praxen sowie einen besseren
Informationsaustausch zwischen Spezialisten und Nichtfachleuten übers Internet an.
Geplant ist außerdem die Einrichtung eines digitalen Schlafstörungs-Atlas mit
Fallbeispielen zu jeder der 88 möglichen Diagnosen.
Die Diagnostik der Schlaf-Wach-Störungen orientiert an der ICSD, der
Internationalen Klassifikation der Schlafstörungen. Als Mindestsymptomdauer gelten
sechs Wochen; unterschieden wird nach den beiden Leitsymptomen
"Tagesschläfrigkeit" und "Ein- und Durchschlafstörungen". Schulmediziner fordern
darüber hinaus eine Differenzierung nach organischen, psychiatrischen oder primär
bedingten Ursachen, was jedoch in der Praxis meist zu kurz kommt.
Oft würden die Beschwerden pauschal als psychogen abgetan und entsprechend mit
Psychopharmaka behandelt, beklagen die Experten. Sie fordern, Schlafstörungen
nicht nur als Symptom zu betrachten. Vielmehr müsse auch in Erwägung gezogen
werden, daß es sich bei der Insomnie um eine Grunderkrankung mit komplexer
Genese handelt, die eine komplexe Therapie erfordert.
Die Feststellung der Schlafstörungen erfolgt in zwei Schritten: Zunächst wird
versucht, durch die Beseitigung schlafstörender Einflüsse von außen (Lärm,
Arbeitsbedingungen, Medikamente, Alkohol), von innen (erhöhte Anspannung,
psychische Belastungen) sowie von schlafstörenden Verhaltensweisen
(unregelmäßige Bettzeiten, spätes schweres Essen) die Beschwerden auszuschalten.
Mißlingt dies und können darüber hinaus organische Ursachen wie
Schilddrüsenerkrankungen ausgeschlossen werden, wird der Patient zur detaillierten
Abklärung an eine Schlafambulanz, einen Schlafmediziner oder ein
schlafmedizinisches Zentrum überwiesen.
In der Therapie beklagen Fachleute das Ungleichgewicht zwischen medikamentösen
und psychotherapeutischen Maßnahmen. Letztere müßten nach Auffassung der
Schlafmediziner stärker berücksichtigt werden, zumal sie inzwischen wissenschaftlich
gut fundiert seien. Als "innovatives Therapiemanagement" propagieren die Experten
dementsprechend:
- Begleitung jeder Schlafmitteltherapie von mindestens einer
verhaltensmedizinischen Maßnahme.
- Schlafmittelauswahl nach dem spezifischen Anforderungsprofil des einzelnen
Patienten.
- Langzeittherapien nur nach strukturierten Konzepten aus Intervalleinnahme
und/oder Substanzkombination.
- Bei Therapie-Nonresponse: Spätestens nach jeweils sechs Monaten
Konsultation der nächsten medizinischen Instanz (Hausarzt - Facharzt -
Schlafmediziner).
Hypnotika der Wahl
Unter den derzeit auf dem Markt befindlichen Hypnotika seien solche Substanzen zu
empfehlen, die über den Benzodiazepin-Rezeptor das GABA-System unterstützen,
so das Expertenurteil bei den DGSM-Fortbildungsveranstaltungen. Als
Stoffbeispiele wurden Benzodiazepine wie Flurazepam oder Lormetazepam und die
neueren Benzodiazepin-Rezeptoragonisten Zalpidem und Zopiclon genannt.
Letztere scheinen gegenüber den Benzodiazepinen eine größere therapeutische
Breite, geringere Toxizität und ein geringeres Abhängigkeitspotential aufzuweisen.
Die Expertenwarnung bleibt trotzdem die gleiche: Alleinige
Hypnotika-Langzeittherapie möglichst generell vermeiden.
PZ-Artikel von Bettina Neuse-Schwarz, Bad Vilbel
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