Konsequenzen aus Infektionen immer nochunterschätzt |
25.08.1997 00:00 Uhr |
Medizin
Schon seit einiger Zeit kursieren Spekulationen, daß möglicherweise
viele Krankheiten ungeklärter Genese auf Infektionen zurückgehen. Mit
Helicobacter pylori fing es an, erst kürzlich kamen Chlamydien als mögliche
Erreger für Arteriosklerose und Herzinfarkt dazu. Spielen auch bei
Autoimmunkrankheiten Infektionen eine Rolle? Auf der Jahrestagung der
deutschen Gesellschaft für Pathologie in Berlin goß Professor Dr. Rolf
Zinkernagel aus Zürich Wasser auf die Mühlen.
Zinkernagels Hypothese sieht folgendermaßen aus: Viele sogenannte
Autoimmunkrankheiten seien eigentlich T-zellabhängige Immunreaktionen gegen
unbekannte oder nicht erkannte triviale Viren oder andere infektiöse Keime.
Der Züricher Wissenschaftler unterscheidet zytopathogene (oder zytotoxische) und
nicht-zytopathogene Erreger. Erstere befallen die Zelle und zerstören sie. Es kommt
zu einer akuten, sozusagen klassischen Infektionskrankheit. Würden die Viren von
der Immunabwehr nicht effizient beseitigt, wäre dies für den Körper schädlich.
Anders verhält es sich hingegen mit nicht-zytopathogenen Erregern: Sie zerstören die
Zellen nicht, sondern leben als Parasit in ihnen weiter. Die Infektion ist oft chronisch;
das Virus selbst schadet dem Wirt aber nicht. Es geht mit der Zelle und dem Wirt
ein "gentleman-agreement" ein. Da das Immunsystem jedoch nicht unterscheiden
kann, ob der Eindringling zytopathogen oder nicht-zytopathogen ist, wird es
virusbefallene Zellen zerstören, und dadurch die Krankheit auslösen. Wann und
warum dies geschieht, ist für Zinkernagel eine Frage der Balance zwischen
Virusbefall und T-Zell-Antwort.
Anhand der Infektion mit Hepatitis B illustrierte Zinkernagel seine Vorstellungen: Das
Virus ist nicht-zytopathogen, 30 Prozent der Infizierten werden klinisch kaum krank.
Rund 60 Prozent der Infizierten erkranken an einer Hepatitis, manche können nach
30 bis 60 Jahren ein Leberzellkarzinom entwickeln.
Damit ist jedoch nicht geklärt, warum der eine krank wird und der andere nicht oder
welche Parameter das Gleichgewicht beeinflussen. In Versuchen simulierten
Zinkernagel und andere Wissenschaftler verschiedene Gleichgewichts-Varianten.
Die experimentelle Grundlage bildeten Studien mit Mäusen, die zu verschiedenen
Zeitpunkten an bestimmten Körperstellen mit unterschiedlichen Mengen oder
Stämmen des nicht-zytopathogenen lymphozytären Choriomeningitis-Virus (LCMV)
infiziert wurden.
Bei einer gewöhnlichen Infektion gelangt ein Antigen über Antigen-präsentierende
Zellen (APC) nach und nach aus der Peripherie in das Lymphsystem. Dort wird eine
effektive T-Zellantwort induziert, wenn das Antigen über mehrere Tage in
ausreichender Menge im Lymphsystem nachweisbar ist.
Erreicht ein Antigen nicht das Lymphsystem, wird es von den Immunzellen ignoriert.
Warzenviren beispielsweise sitzen in den Keratinozyten, außerhalb der Reichweite
der nächsten APC. Auch das Tollwut-Virus wird vom Immunsystem erst erkannt,
wenn die befallenen Neuronen lysiert werden. Eine andere Möglichkeit für das
Versagen des Immunsystems ist, daß die T-Zell-Kapazitäten erschöpft sind, bevor
das Antigen ausreichend eliminiert werden konnte.
An weiteren Tiermodellen wurden die unterschiedlichen Gleichgewichte von
Immunantwort und Verteilung des viralen Antigens sowie ihr Einfluß auf die
Krankheit folgendermaßen studiert: Wird Versuchsmäusen unter dem
Insulin-Promotor das Gen für ein Glykoprotein des LCMV eingebaut, exprimieren
diese Mäuse in den ß-Inselzellen des Pankreas ein Antigen des Virus. Daß das
Immunsystem dieses Antigen in dem peripheren Organ nicht erkennt, die Inselzellen
also nicht zerstört, wird daran sichtbar, daß die Mäuse normoglykämisch bleiben.
Dies ist jedoch nicht darauf zurückzuführen, daß die spezifischen T-Zellen das
Antigen tolerieren. Denn infiziert man die Mäuse zusätzlich mit LCMV, werden die
T-Zellen aktiv, greifen die Pankreaszellen an, und die Mäuse entwickeln einen
Diabetes. Werden die Tiere mit einem sich weniger stark vermehrenden
LCMV-Glykoprotein-produzierenden Virus infiziert, bleiben sie gesund. Gesund
bleiben sie auch, wenn ihre LCMV-spezifischen T-Zellen eliminiert wurden.
Ob eine T-Zell-Antwort gegen ein Virus ausgelöst wird, hängt also davon ab, mit
welcher Geschwindigkeit, über welchen Zeitraum und in welcher Menge das Antigen
das lymphatische Gewebe erreicht. Zytotoxische Viren ließen im Verlauf der
Selektion nur diejenigen überleben, deren Immunsystem schnell und effizient
reagierte. Nicht-zytotoxische Viren hingegen etablierten ein breites Spektrum
verschiedener Gleichgewichtsformen, die über den immunologischen Auslöser zu
chronischen Krankheiten führen können.
Die HIV-Theorie
Kehren wir von den Experimenten zu den Hypothesen zurück: Auch HIV könnte, so
postuliert Zinkernagel, ein nicht-zytopathogenes Virus sein. Aids wäre dann die
Folge einer konventionellen T-Zellantwort, die dem Körper mehr schadet als nutzt.
Nicht das Virus, sondern T-Zellen (CD8+) würden die HIV-infizierten Zellen
zerstören. Theoretisch läßt sich daraus folgern, daß ein infizierter Mensch ohne diese
Immunantwort möglicherweise nicht erkranken würde. Das Virus würde gefahrlos
im Körper persistieren.
Tatsächlich entwickelten HIV-Patienten, deren Immunsystem wegen einer
Transplantation supprimiert war, langsamer Symptome als eine Vergleichsgruppe.
Ursprünglich wurde dieses Phänomen mit der geringeren Anzahl der CD4+-Zellen
erklärt, die vom Virus geschädigt werden könnten. Zinkernagel verweist auf die
andere Möglichkeit: Es gab weniger HIV-spezifische CD8+-Zellen und damit
weniger immunologische Zellzerstörung.
Ohne Immunantwort also keine Erkrankung. Der logische Schluß: Die
Immunreaktion müßte unterdrückt werden. Aber nicht zu jedem Zeitpunkt wäre eine
solche Therapie angebracht. Im fortgeschrittenen Stadium der Krankheit ist jede
Erholung vom Ausmaß des Schadens und der Regenerationsfähigkeit der Zellen
abhängig. Zu bedenken ist auch, daß die spezifischen CD8+-Zellen vollständig
eliminiert werden müßten. Könnten sie sich wieder ausbreiten, würden sie
möglicherweise noch mehr Schaden anrichten, weil sich das Virus inzwischen weiter
vermehrt hat.
Beim Erfolg einer solchen Therapie, so ergänzt Zinkernnagel, wären die
epidemiologischen Konsequenzen gesunder Virusträger zu berücksichtigen.
PZ-Artikel von Stephanie Czajka, Berlin
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