Gesundheit: Was steuert unser Verhalten |
10.08.1998 00:00 Uhr |
Medizin
Die noch recht junge Disziplin der Gesundheitspsychologie will dazu
beitragen, gesundheitsfördernde Maßnahmen effizienter zu gestalten. Die
Anfänge für das erst später definierte Fach Gesundheitspsychologie legten
Modelle wie das 1960 von Miller veröffentlichte TOTE-Modell. Die
Autoren versuchten damit, menschliches Handeln, seine Bedingungen und
Umstände zu erklären und im günstigsten Fall vorherzusagen oder zu
beeinflussen. Das Modell sieht - ganz im Einklang mit der aufkommenden
Denkrichtung der Kybernetik - eine Handlung als strukturierte Abfolge
zielgerichteter Operationen.
TOTE steht für Test der Ausgangslage, Operation, Test und Exit. Der Ablauf der
Teilschritte wird durch Pläne gesteuert, die Ist-Zustände werden darauf geprüft, ob
der Soll- oder der Zielzustand bereits erreicht wurde. Die Autoren nehmen an, daß
das Schema nach Rückkopplung mehrmals bis zum Erfolg durchlaufen kann.
Die ärztliche Einstellung des Bluthochdrucks kann sehr gut nach dem TOTE-Modell
beschrieben werden. Das Modell setzt Bewußtheit und Wissen, Zielgerichtetheit, die
Möglichkeit einer Rückmeldung, zum Beispiel in Form einer Dokumentation der
Meßwerte, und eine hierarchisch-sequentielle Organisation der Maßnahmen voraus.
Die Stufenschemata zur Hypertonie- oder Asthmatherapie sind ebenso geeignete
Beispiele wie die exakte individuelle Dosisfindung bei einem Diabetiker.
Health-Belief-Modell
Im Gegensatz zum TOTE-Modell bezieht das etwa gleich alte Health-Belief-Modell
menschliche Überlegungen mit in die theoretische Erklärung ein. Für eine
gesundheitsrelevante Handlung, beispielsweise ein bestimmtes Ernährungsverhalten
oder das Befolgen einer Arzneimitteltherapie, nennt es folgende Faktoren:
Dramatisch erlebte Symptome wie Luftnot oder starke Schmerzen rücken eine
Bedrohung ins Bewußtsein. Viele chronische Erkrankungen werden gerade aus
diesem Grund nicht als bedrohlich angesehen. Ein hoher Blutdruck tut ebensowenig
weh wie ein erhöhter Blutzucker. Eine längere Anfallsfreiheit führt zu dem
Trugschluß, daß das Asthma abgeheilt und die Therapie überflüssig geworden sei.
Ebenso schätzt der Mensch seine subjektive Verletzlichkeit meist nicht nach rational
statistischen Kriterien ein, sondern unterliegt häufig einem typischen Fehlschluß. Er
glaubt, daß es eher die anderen als ihn selbst treffe, raucht weiter oder "vergißt" die
Medikation. Diese Fehleinschätzung läßt Menschen auch zu schnell und ohne Gurt
Auto fahren, Vorsorgeuntersuchungen versäumen und Impfungen verweigern.
Viele Aufklärungsmaßnahmen verfolgten das Ziel, eine Bedrohung in ihren Folgen
besonders dramatisch, aufrüttelnd und angsterzeugend darzustellen, so zum Beispiel
die Anti-Raucher-Kampagnen der siebziger Jahre. Nach heutiger Auffassung
überschätzt das Health-Belief-Modell den Einfluß einer bedrohten Gesundheit. Bei
einer sehr krassen Darstellung aktiviert nämlich der Mensch Bewältigungsstrategien
(Coping), die zu einer Abwertung, Verzerrung oder einfach Nichtbeachtung der
Information führen. Trotzdem darf der Apotheker im Rahmen seiner Betreuung das
Thema Spätschäden nicht ausklammern. Nur eine wahrgenommene Bedrohung kann
den Betroffenen motivieren, vor allem dann, wenn sie mit Fingerspitzengefühl im
persönlichen Gespräch erklärt wird.
React-Modell
Dieses Modell, das den deutschen Namen Theorie der Handlungsveranlassung trägt,
untersucht vor allem die Quellen der Handlungsintention. Es nimmt an, daß einerseits
persönliche Überzeugungen oder Einstellungen und andererseits Normen zu einer
Absicht führen, das Verhalten zu ändern. Unter Einstellung ist die subjektive
Erwartung an ein Verhalten und dessen Bewertung, unter "Norm" der
Erwartungsdruck durch andere, spezifische Bezugspersonen zu verstehen. Der
Schlüssel zu einer Verhaltensänderung liegt in diesem Modell darin, die Einstellungen
und Normen zu verändern, was über die Intentionsbildung letztlich zum gewünschten
Verhalten führen soll.
Theorie des geplanten Verhaltens
Ajzen hat sein Modell 1985 um die subjektive Kontrollierbarkeit einer Handlung
erweitert. Darunter wird die Einschätzung verstanden, ob eine Person eine Handlung
als tatsächlich geeignet ansieht, ein Ziel zu erreichen. Daneben wird sich die Person
fragen, ob sie selbst in der Lage ist, diese Handlung auszuführen. Ein Raucher, der
von vorneherein nicht daran glaubt, mit dem Rauchen aufhören zu können, scheitert
eher in seinen Bemühungen, zum Nichtraucher zu werden. Er wird auch keinen
Nikotin-Kaugummi anwenden, wenn er nicht von der Wirksamkeit dieses
Medikaments überzeugt ist.
Besonders wichtig für die Compliance ist es, ob der Patient eine konsequente
Therapie für wirksam und sich selbst für zuverlässig hält. Eine skeptische Einstellung
und geringe Wirksamkeitserwartung können durch objektive Informationen über
Therapieerfolge oder konkrete Fallberichte aus dem Erfahrungsbereich des
Apothekers korrigiert werden. Ein Tagebuch mit Eintragungen zu
Arzneimittelanwendung und Peak-flow-Messung hilft dem Patienten, die eigene
Zuverlässigkeit besser einzuschätzen. Nicht selten führt der Glaube, man sei
voraussichtlich nicht in der Lage, ein Arzneimittel regelmäßig anzuwenden, zur
Non-Compliance. Mit dem Tagebuch kann der Patient selbst die Wirksamkeit der
Therapie prüfen und Einflüsse der persönlichen Lebensführung direkt ablesen.
Zudem liefert er durch die eigenen Messungen die Grundlage der ärztlichen
Entscheidung und steht engagierter hinter der Therapie.
Gemeinsamkeiten der Theorien
Fuchs und Schwarzer haben fünf einflußreiche Faktoren herausgearbeitet, die in den
meisten Theorien zum Gesundheitsverhalten genannt werden.
Konsequenzerwartungen: Hierin spiegelt sich die Kosten-Nutzen-Rechnung eines
Betroffenen wider, die nicht nur monetäre Aspekte berücksichtigt. Wie beurteilt er
zum Beispiel sportliche Aktivität oder Diät in Bezug zu ihrem Nutzen? Auch eine
regelmäßige Arzneitherapie kostet Mühe. Vielleicht erwartet er sogar spürbare
Kosten in Form von Nebenwirkungen. Außerdem hat die drastisch erhöhte
Zuzahlung zu Kosten im wahrsten Sinne des Wortes geführt.
Selbstwirksamkeitserwartungen: Manche Personen zweifeln im voraus an ihrer
Fähigkeit, ein Verhalten konsequent und auf Dauer auszuführen. Vergeßliche
Menschen versuchen schon gar nicht, regelmäßig an ihre Tabletten zu denken.
Andere können nicht glauben, daß sie ihre Lebensumstände wirksam verändern
können. Die eigenen Erfahrungen und die Beobachtung anderer scheinen zu
beweisen, daß man zu einer langfristigen Ernährungsumstellung nicht in der Lage ist.
Aus ähnlichem Grund sieht man die im Notfall von Laien eingesetzten
Erste-Hilfe-Maßnahmen als nicht ausreichend an. Wer seine Fähigkeiten noch nie
unter Beweis gestellt hat, glaubt nicht ernsthaft, in einer unübersichtlichen
Notsituation überlegt und richtig helfen zu können.
Für Asthmapatienten werden heute vermehrt Schulungen angeboten, die das
Verhalten im Notfall trainieren. Mit dem "Ampelschema" kann der Patient selbst
besser entscheiden, bei welchem Beschwerdebild welche Maßnahme zu treffen ist.
Nach entsprechendem Training sieht sich der Patient für den Notfall besser gerüstet
und wird eher das Richtige tun.
Wahrgenommene Vulnerabilität und Schweregrad eines Problems: Hieraus erwächst
die klassische Art von Einsicht in ein gesundheitsbezogenes Risiko, deren Triebkraft
die Angst vor negativen Folgen darstellt. Jedoch sind Angstappelle nur in
wohldosierter Form einzusetzen, um Coping-Strategien zu vermeiden.
Soziale Erwünschtheit: Viele gesundheitsschädliche Verhaltensweisen werden
beibehalten, weil sie in einem sozialen Rahmen ausgeführt und als erwünscht beurteilt
werden. Rauchen, Essen und Alkoholgenuß sind typische Beispiele. Bei einer
Arzneitherapie könnte die Umkehrung wirksam werden. Wer will vor anderen
Leuten schon zugeben, daß er auf die Insulinspritze oder den Asthmaspray
angewiesen ist? Nimmt der Patient nach dem Frühstück im Hotel vielleicht deshalb
seine Medikamente nicht, weil er sich beobachtet fühlt?
Den Patienten einbeziehen
Eine kausale Behandlung chronischer Krankheiten ist auch heute nur in
Ausnahmefällen möglich. Die Therapie dauert meist lange Zeit, eventuell lebenslang.
Somit erscheint es mehr als angemessen, daß die moderne Medizin den Patienten
stärker in das Geschehen einbezieht. Bei der Betrachtung der Konzepte fallen einige
Faktoren auf, die vor dem Hintergrund gesundheitspsychologischer Erkenntnisse gut
erklärbar sind. Es werden immer häufiger Tagebücher empfohlen, die die Patienten
selbst führen sollen. Grundlage der Eintragungen sind, wenn möglich,
Selbstmessungen kritischer Parameter wie Peak-flow-, Blutglucose-, Harnglucose-,
Hamaceton- oder Blutdruckwerte. Auch Schmerztagebücher für onkologische oder
Kopfschmerzpatienten gehören hierher.
Der Patient wird dabei vom passiven Zuschauer zum Akteur; er kann Probleme und
den Zusammenhang mit Ernährung oder Lebensführung objektiver erkennen. Der
erste Schritt zu einer kompetenten, gesundheitsfördernden Verhaltensweise ist dann
getan.
Der Grundstein dafür kann nur durch verständliche, logische und motivierende
Sachinformation gelegt werden. Dabei fördert es die Motivation, die
Kosten-Nutzen-Erwartungen realistisch zu diskutieren. Weitere wichtige
Sachinformationen betreffen das Patientenwissen zu den Arzneimitteln, zum Beispiel
wann die Wirkung eintritt, wie lange sie anhält, wie hoch die Höchst-, Mindest-,
Einzel- und Tagesdosis ist.
Der Apotheker braucht dazu Fähigkeiten, die über die klassische Pharmazie
hinausgehen. Er braucht Einblicke in die gängigen und möglichen Therapieverfahren,
wobei er nicht nur die Wirkweise der eingesetzten Arzneimittel, sondern auch deren
Anwendung, Risiken und klinischen Ziele im Ablauf einer Therapie kennen sollte.
Die pharmazeutische Betreuung kann nur dann gut gelingen, wenn neben die Position
des Heilberuflers die Sichtweise des Patienten tritt.
Je deutlicher die Medizin erkennt, daß das Patientenverhalten für den Therapieerfolg
ebenso entscheidend ist wie medikamentöse Aspekte, desto wichtiger wird eine
Zusammenarbeit der Heilberufe Arzt und Apotheker mit dem Ziel der
Therapieverbesserung.
PZ-Artikel von Thomas Wurm, Passau
© 1997 GOVI-Verlag
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