Das Universum im Kopf |
03.08.1998 00:00 Uhr |
Medizin
Wie kommt das Wissen der Welt in unser Gehirn? Erst in diesem
Jahrzehnt beginnen Hirnforscher das geheimnisvolle Zusammenspiel der
Sinnesorgane mit dem Gehirn zu verstehen. Den "genialen
Selbstorganisationsprozeß" im Kopf erläuterte Professor Wolf Singer vom
Frankfurter Max-Planck-Institut für Hirnforschung auf dem europäischen
Forum der Neurowissenschaften in Berlin.
In den ersten Lebensjahren steuert die Aufnahme von Sinneseindrücken die
Vernetzung der Nervenzellen. Obwohl ein Mensch lebenslang lernen könne, seien
die Erfahrungen der ersten sechs Lebensjahre unersetzlich, erläuterte Singer.
Weitgehend abgeschlossen ist der Ordnungsprozeß im Gehirn erst mit der Pubertät.
Bis dahin werden bis zu 60 Prozent der einmal hergestellten Verbindungen zwischen
den Nervenzellen wieder gelöst und neu geknüpft. Diese Ergebnisse haben
praktische Bedeutung. Heute diagnostizieren und behandeln Pädoaudiologen
kindliche Hörstörungen schon in den ersten Lebensmonaten, da diese den
Spracherwerb nachhaltig behindern. Auch Schielstellungen der Augen korrigieren
Ärzte möglichst frühzeitig, denn die Großhirnrinde braucht für die Ausbildung der
entsprechenden Zellverbände Signale aus beiden Augen. Andernfalls geht die
Fähigkeit zum räumlichen Sehen verloren.
Das Gehirn benötigt Reize aus der Außenwelt, um seine Organisation selbst zu
gestalten. Dabei stehen dem Nervensystem zwei Informationsquellen zur Verfügung.
Das Erbmaterial der Nervenzellen birgt das phylogenetische Gedächtnis; es sorgt für
die Verschaltung der Synapsen und schafft neuronale Muster. Das individuelle
Gedächtnis erwächst aus den Erfahrungen mit der Umwelt und steuert die aktuellen
Verschaltungen und deren Intensität. "Das Gehirn", erklärte Singer, "bildete eine
Reihe von Mechanismen heraus, mit denen sich elektrische Aktivität in strukturelle
Veränderungen seiner Architektur übersetzen läßt." Dadurch kann das sich
entwickelnde Gehirn seine eigene Intelligenz zur weiteren Verfeinerung seiner
Struktur nutzen.
Besonders gut kennen die Forscher die Prozesse der Selbstorganisation beim
Sehenlernen. Die visuellen Informationen gelangen von der Netzhaut über den
Sehnerv zum Thalamus im Zwischenhirn und von dort zum Sehsegment im hinteren
Bereich der Großhirnrinde. Die drei Millimeter dünne Großhirnrinde ummantelt das
Gehirn. Diese Schicht ist dicht mit Nervenzellen bepackt. Die Organisation der
Großhirnrinde in bestimmte Felder, darunter auch die Lage der sensorischen Areale,
entwickelte sich schon sehr früh in der Evolution. Das Aufbauprinzip blieb von den
Vögeln bis zum Menschen erhalten, jedoch vergrößerte sich die Fläche der
Großhirnrinde im Laufe der Entwicklungsgeschichte enorm.
Im Sehsegment werden die visuellen Eindrücke nach festgelegten, zum Teil
angeborenen Kriterien geordnet. Seine Ergebnisse verteilt das Sehsegment an mehr
als dreißig untereinander vernetzte Hirnregionen. Jedes Areal kümmert sich um einen
Teilaspekt - darunter Farbe, Form und Bewegung der Objekte. Bei der
Verarbeitung der Signale spielen relativ einfache Bausteine zusammen. Das
Wechselspiel einzelner Komponenten wie signalübertragender Moleküle, Synapsen
und Nervenzellverbände, sogenannte "neuronale Ensembles", steuert auch den
Entwicklungsprozeß des Gehirns. Nach den Prinzipien des anfänglichen
Überangebots, Versuch und Irrtum, Konkurrenz und Beseitigung des
Nichtangepaßten führt dieser Prozeß zu einer Vernetzung und Gruppierung von
Nervenzellen, die für bestimmte Merkmale kodieren.
Für die klassische Hypothese, daß im Gehirn eine Zentrale existiert, in der sämtliche
Informationen zusammenfließen und verarbeitet werden, fanden die Hirnforscher
keinerlei Hinweise. Wie schafft es das Gehirn dennoch die verschiedenen neuronalen
Ensembles zu einer zeitgleich empfundene Wahrnehmung zu bündeln? 1989 fanden
Singer und seine Kollegen die ersten Hinweise dafür, daß sich verschiedene
Neuronen, die mit der gleichen Aufgabe befaßt sind, gleichzeitig entladen. Mit Hilfe
dieser "zeitlichen Bindung" könnten Nervenzellen sensomotorische Reize verarbeiten
und das Gedächtnis ausbilden, vermuten die Hirnforscher heute.
Aufgrund der neuen Forschungsergebnisse verabschiedeten sich die Hirnforscher
endgültig von dem seit drei Jahrhunderten bestehenden Konzept, Leib und Seele
seien getrennt. "Diese Vorstellung ist von Grund auf falsch", stellte Singer klar. Auch
der Vergleich des Gehirns mit einem gigantischen Computersystem erwies sich
inzwischen als untauglich. In biologischen Systemen könne nicht zwischen Hard- und
Software unterschieden werden. Sowohl die Zellen als auch deren Stoffwechsel
bildeten die "Software". Diese gestalte mit Hilfe eines Spektrums an elektrischen und
biochemischen Impulsen die Welt in unseren Köpfen.
PZ-Artikel von Angela Haese, Berlin
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