Für die dritte Welt bleibt nur Prävention |
27.07.1998 00:00 Uhr |
Medizin
Während die HIV-Infektionsrate derzeit in vielen Industrieländern stabil
oder sogar rückläufig ist, verbreitet sich der Erreger in den
Entwicklungsländern mit ungeheurem Tempo. Gesundheitspolitiker und
-organisationen verabschiedeten in Genf jetzt neue Initiativen zur
Prävention.
Die Infektionswelle mit dem Humanen Immundefizienzvirus (HIV) rollt mit
ungebrochener Macht um den Erdball. Ausmaß und Verbreitung sind in den
einzelnen Regionen jedoch sehr unterschiedlich. Während in den meisten
Industrienationen und in einer "Handvoll" Entwicklungsländern zum ersten Mal seit
siebzehn Jahren eine gleichbleibende oder sogar abnehmende Infektionsrate
beobachtet wird, steigt sie im größten Teil der Dritten Welt auf ungeahnte Höhen.
Auf dem 12. Welt-Aids-Kongreß, der kürzlich in Genf zu Ende ging, mußten die
Epidemiologen daher eingestehen, daß die Realität weit grausamer ist als die
Prognosen der letzten Jahre. Weltweit sind mehr als 30 Millionen Menschen mit
HIV infiziert. Was die Beobachter besonders alarmiert: Allein in den letzten beiden
Jahren seit dem letzten Welt-Aids-Kongreß 1996 in Vancouver wurden 10
Millionen Neuinfektionen registriert. Wie Dr. Peter Piot (Direktor des
UNAIDS-Programmes) in Genf berichtete, wird das Virus statistisch jeden Tag auf
16.000 Menschen übertragen, von denen 90 Prozent in der Dritten Welt leben.
Im Vergleich zu den vorhergehenden Jahren hat sich das Muster der
HIV-Verbreitung geändert. Die deutlichste Zunahme wird in den afrikanischen
Ländern südlich der Sahara beobachtet. In einigen Hauptstädten sind inzwischen 35
Prozent der Einwohner HIV-infiziert. Die Länder Botswana und Zimbabwe haben
eine Prävalenzrate von 25 Prozent erreicht; hier ist also jeder vierte Erwachsene
HIV-positiv. Die mittlere Lebenserwartung in diesen Ländern wurde dadurch auf
den Stand von 1968 zurückgeworfen (von 62 auf 50 Jahre).
HIV verbreitet sich vor allem in Indien und Südafrika
Obwohl die Infektionsraten in Asien, Lateinamerika und Osteuropa niedriger sind,
verdoppelte oder verdreifachte sich in einigen Ländern die HIV-Prävalenz seit 1994.
Zu den neuen Brennpunkten gehören beispielsweise Indien (4 Millionen
HIV-Infizierte) und Südafrika (2,9 Millionen HIV-Infizierte, davon 700.000
Neuinfektionen allein 1997). Piot: "Da vom Tag der Infektion bis zum Tod durch
Aids in der Regel neun Jahre vergehen, werden sich die sozialen und ökonomischen
Folgen dieser Zahlen erst mittelfristig manifestieren." Da ein präventiver Impfstoff
nicht zur Verfügung steht und die antiretrovirale Kombinationstherapie für die Dritte
Welt zu kostspielig ist, liegt in diesen Regionen die einzige realistische Chance im
Kampf gegen Aids in der Prävention.
Veranstaltungen zu diesem Thema bildeten daher einen Schwerpunkt auf dem
diesjährigen Welt-Aids-Kongreß. Darüber hinaus wurden in Genf zahlreiche neue
Initiativen angekündigt.
Eine davon hat sich zum Ziel gesetzt, die Mutter-Kind-Übertragungsrate von HIV zu
vermindern. Jedes Jahr werden 600.000 Babys in der Schwangerschaft, während
der Geburt oder durch das Stillen mit dem mütterlichen HIV infiziert. Auch hier
besteht eine Kluft zwischen Industrie- und Entwicklungsländern. Ohne Behandlung
von Mutter und Kind variiert die Übertragungsrate zwischen 15 und 25 Prozent
respektive 25 bis 45 Prozent (die Differenzen beruhen auf Unterschieden in der
Geburtsbetreuung und im Stillverhalten). In den reichen Staaten ist es daher seit
1994 Standard, HIV-infizierte Frauen und die Neugeborenen mit dem
antiretroviralen Wirkstoff Zidovudin (AZT) zu behandeln. Die werdenden Mütter
erhalten ab der 14. Schwangerschaftswoche AZT oral und während der Geburt
intravenös. Das Neugeborene wird sechs Wochen lang mit AZT behandelt und nicht
gestillt. Dadurch konnte die Infektionsrate der Kinder drastisch gesenkt werden.
Dieses Regime, das etwa 1.800 DM kostet, ist für die Dritte Welt zu teuer.
Eine Studie der amerikanischen Centers for Disease Control and Prevention (CDC)
und der Mahidol Universität Bangkok hat jedoch gezeigt, daß bereits eine
Kurztherapie mit AZT das Risiko der HIV-Übertragung auf das Kind um die Hälfte
(von 18,9 Prozent auf 9,4 Prozent) reduziert. Bei diesem Regime erhält die Mutter
zweimal 300 Milligramm AZT pro Tag ab der 36. Schwangerschaftswoche bis zum
Beginn der Wehen, dann alle drei Stunden bis zur Geburt. Auf eine Therapie des
Kindes wird verzichtet.
Neugeborene vor Infektion schützen
Eine gemeinsame Initiative von UNICEF, WHO und Vereinten Nationen will hier
ansetzen. In einem ersten Schritt wurden elf Staaten in das Programm aufgenommen
(Botswana, Burkina Faso, Kambodscha, Honduras, Ruanda, Sambia, Zimbabwe,
Elfenbeinküste, Tansania, Thailand und Uganda). Der AZT-Hersteller Glaxo
Wellcome wird den Arzneimittelpreis für dieses Programm um rund 75 Prozent
senken. Die vierwöchige Behandlung kostet dann etwa 80 DM. "Doch die
Verfügbarkeit von Medikamenten allein löst das Problem der
Mutter-Kind-Übertragung nicht", erklärte Piot. Die Genfer Initiative will daher auch
das medizinische Umfeld der Schwangeren durch kostenlose HIV-Tests, Betreuung
rund um die Geburt, Beratung für Frauen und deren Partner beeinflussen.
Unter dem Aspekt der Prävention wurde auch ein Plan zur Beschleunigung der
Impfstoffentwicklung verabschiedet, der spezifisch auf die Bedürfnisse der
Entwicklungsländer ausgerichtet ist. Die Bill-Gates-Stiftung (1,5 Millionen Dollar),
die Weltbank (1 Million Dollar) und die britische Regierung (200.000 Pfund) haben
der "International Aids Vaccine Initiative" neue Finanzmittel zugesagt. Damit stehen
nun 15 Millionen Dollar für drei bis sechs internationale Teams zur Verfügung, die
Tests von vielversprechenden Impfstoffen in Epidemiegebieten medizinisch und
logistisch vorantreiben sollen.
Grundsätzlich bestehen zahlreiche technische und medizinische Unsicherheiten, die
bei der Entwicklung einer präventiven HIV-Vakzine berücksichtigt werden müssen.
Dazu gehören die unterschiedlichen HIV-Stämme und ihre Untereinheiten, deren
Gene bis zu 30 Prozent differieren, sowie neue Virus-Mischformen (rekombinante
Viren). Sie entstehen, wenn Personen mit verschiedenen Subtypen infiziert werden
und sich diese im Organismus neu kombinieren.
Uneinig sind sich die Experten auch in der Frage, wie stark eine potentielle Vakzine
die humorale und zelluläre Immunabwehr stimulieren muß, um Menschen langfristig
vor einer HIV-Infektion zu schützen. Darüber hinaus fehlt nach wie vor ein
geeignetes Tiermodell, das den Verhältnissen im menschlichen Organismus
entspricht. Aus diesem Grund werden alle derzeit denkbaren Konzepte für die
Impfstoffentwicklung überprüft.
Neben Totimpfstoffen und attenuierten Vakzinen forschen Wissenschaftler an
folgenden Varianten:
Bei der letzten Methode werden Teile der HIV-DNA in Bakterien-Plasmide
eingebracht und in die Muskulatur gespritzt. Die HIV-DNA bahnt sich einen Weg in
den Zellkern, wo sie in m-RNA umgeschrieben wird. Daraufhin wird die
Proteinbiosynthese gestartet. Die neuen HIV-Eiweißmoleküle gelangen an die
Oberfläche der Zellen und lösen eine Immunantwort aus.
Nur ein neuer Impfstoff verspricht Hoffnung
Insgesamt wurden oder werden 39 Impfstoff-Kandidaten getestet, doch nur einer
(Aidsvax, Firma VanGen) wird seit Juni in den USA in einer Phase-III-Studie am
Menschen untersucht. Hierbei handelt es sich um eine bivalente gp 120 Vakzine, die
auf den beiden HIV-Stämmen MN und GNE8 basiert. In die Studie sollen 5000
Hochrisikopersonen (Homosexuelle und sero-diskordante Paare) integriert werden.
Eine Ausweitung der Studie auf 2.500 Drogenabhängige in Thailand ist vorgesehen.
Die Organisatoren erwarten, daß sie ein Jahr für die Rekrutierung der
Impfkandidaten benötigen werden; erst nach drei Jahren wird man abschätzen
können, ob die Vakzine einen Effekt zeigt.
Auch der Optimismus bezüglich der Therapierbarkeit von HIV-Infektionen, der sich
vor zwei Jahren nach dem Welt-Aids-Kongreß in Vancouver unter Patienten und
Wissenschaftlern verbreitet hatte, ist verflogen. Mit der damals propagierten
Tripeltherapie gelingt es zwar, die Viruslast im Blut zu verringern. Dennoch ist an ein
Ausmerzen des Virus im Organismus nicht zu denken. Professor Anthony Fauci
(Bethesda, Maryland) präsentierte Daten, wonach sich die Viren bereits unmittelbar
nach der Infektion in Reservoire (Lymphknoten, Makrophagen, dendritische Zellen)
"verschanzen" und sich somit dem Angriff der Medikamente entziehen. Die Chancen,
HIV aus diesen Verstecken zu verbannen, sind laut Fauci mit den heutigen
Therapiemethoden gering. Er plädierte dafür, mit der Therapie möglichst früh zu
beginnen, damit diese Reservoire möglichst klein und die Immunabwehr intakt bleibt.
Im Gegensatz zu Fauci mehren sich jedoch auch die kritischen Stimmen, die vor
einer zu frühen Kombinationstherapie warnen. Dafür gibt es mehrere Gründe:
Patienten, die nach dem HAART-Prinzip (Highly Active Antiretroviral Therapy)
therapiert werden, müssen täglich bis zu 30 Tabletten teils nüchtern, teils nach den
Mahlzeiten oder mit großen Flüssigkeitsmengen zu sich nehmen. Derartige
Therapieregime, die von ausgeprägten Nebenwirkungen begleitet sein können, sind
auch von disziplinierten Patienten kaum durchzuhalten. Non-Compliance von
HIV-Infizierten hat jedoch zur Folge, daß vermehrt resistente Viren auftreten. Nach
Angaben des Genfer Infektiologen Luc Perrin (Science 1998; 280: 18711873)
treten unter der HAART-Therapie bei 30 bis 50 Prozent der Patienten
Virusresistenzen auf, für die keine effektiven Alternativschemata zur Verfügung
stehen. Diese Entwicklung ist besonders folgenschwer für HIV-Infizierte, die
frühzeitig also noch vor dem Auftreten von Symptomen mit der
Kombinationstherapie begonnen haben, um die Viruslast im Blut zu reduzieren.
PZ-Artikel von Vera Zylka-Menhorn, Genf
© 1997 GOVI-Verlag
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