Therapie bei Abhängigkeit von Hypnotika |
07.07.1997 00:00 Uhr |
Medizin
Trotz der
negativen Presse der Benzodiazepine in den medizinischen
Fachzeitschriften hat sich im Verordnungsverhalten der
Ärzte in den letzten Jahren wenig geändert, äußerte
Privatdozent Dr. Stephan Volk auf dem Rhein/Main-Convent,
einer Interdisziplinären Vortrags- und
Diskussionsveranstaltung in Frankfurt. Der Leiter der
Spezialambulanz für Schlafmedizin im Frankfurter
Universitätsklinikum für Psychiatrie und Psychotherapie
II setzt in seiner Klinik auf die nicht-medikamentöse
Behandlung von Schlafstörungen.
Im Einzelfall können laut Volk bereits nach
einer viermonatigen kontinuierlichen Einnahme von
Benzodiazepin-Schlafmitteln beim Absetzen körperliche
Entzugssymptome beobachtet werden. Die "Task Force
on Sedative Hypnotics" der Weltgesellschaft für
Psychiatrie vertritt in ihrer Konsensuserklärung sogar
die extreme Auffassung, Hypnotika maximal über einen
Zeitraum von 14 Tagen zu verordnen und die Einnahme
keinesfalls über fünf Wochen auszudehnen. In der Praxis
muß demnach also gleich bei der ersten Verordnung mit
dem Patienten über das Absetzen des Schlafmittels
gesprochen werden.
In der Schlafambulanz hat Volk vor allem mit Patienten zu
tun, die langfristig niedrige Dosen von Schlafmitteln
einnehmen. Beim abrupten Absetzen nach einer etwa
einjährigen Behandlungsdauer kommt es zu
Reboundphänomenen wie Angst, Unruhe und Schlaflosigkeit,
die nach einigen Tagen abklingen.
Bei 5 bis 30 Prozent der Patienten treten zwei bis drei
Tage nach dem Absetzen der Benzodiazepine somatische,
vegetative und psychische Entzugssymptome wie
Tachykardie, Schwitzen und Wahrnehmungsveränderungen auf
- die Patienten hören alles viel lauter und haben den
Eindruck, der Raum käme auf sie zu. Solche Symptome
halten etwa 5 bis 15 Tage an. In schweren Fällen könne
es auch zu epileptischen Anfällen, Muskelzittern und
Verwirrtheitszuständen kommen.
Auf Transmitterebene geschieht bei Benzodiazepin-Entzug
folgendes: Die längere Einnahme führt zu einer Abnahme
von Benzodiazepin-Rezeptoren im Umfeld des
GABA-Rezeptors. Ein abruptes Absetzen der Benzodiazepine
führt zu mangelhafter inhibitorischer GABA-Wirkung im
Zentralnervensystem mit nachfolgender zentraler
Erregungssteigerung.
Hochdosisabhängige Patienten sollten laut Volk
stationär aufgenommen werden. Er rät, beim abrupten
Absetzen die gefährlichen Entzugssymptome durch rasche
Aufsättigung mit dem Antiepileptikum Carbamazepin oder
Carbamazepin plus Tryptophan aufzufangen. In
Einzelfällen gelinge auch ein Wechsel auf die neueren
Nicht-Benzodiazepin-Hypnotika wie Zopiclon und Zolpidem,
die später sehr viel leichter abgesetzt werden können.
Volk empfiehlt auch niedergelassenen Ärzten, die
Behandlung ausschleichend zu beenden. Dies geschieht
entweder durch die Umstellung auf flüssige Arzneiformen,
die dann tropfenweise reduziert werden, oder durch
Intervallbehandlung. Das heißt, mit dem Patienten wird
vereinbart, daß die Einnahme nur an sechs Tagen der
Woche erfolgen soll, ein von ihm selbst bestimmter Tag
soll Benzodiazepin-frei bleiben. In der zweiten Woche
werden die Medikamente nur an fünf Tagen der Woche
eingenommen und so weiter. Jeder Schritt müsse durch den
Arzt positiv bestärkt werden, und der Patient solle sich
selbst dafür belohnen. Der Entzug müsse allerdings
individuell gefaßt werden. Je nach Einnahmedauer kann
sich die Absetzphase über mehr als ein halbes Jahr
erstrecken.
In der Frankfurter Klinik wird die Entzugsbehandlung
durch verhaltensmedizinische Therapie unterstützt. Die
Patienten sollen Schlaf- und Traumtagebücher führen.
Sie werden dort auch über die Physiologie des normalen
Schlafs sowie über eine adäquate Schlafhygiene
aufgeklärt und bekommen Anleitung zur Stimuluskontrolle
(spezielle Schlafanweisungen). Die Vermittlung der
Schlafbeschränkung, Gedankenstopptraining und paradoxe
Schlafanweisung helfen den Patienten, sich von der Angst,
nicht einschlafen zu können, zu befreien.
Entspannungsverfahren wie progressive Muskelentspannung,
autogenes Training, gestufte Aktivhypnose und Hatha-Yoga
sind für Volk ein wichtiger Bestandteil des
Behandlungskonzepts chronisch Schlafgestörter und
Schlafmittelabhängiger.
Am Beispiel einer 52jährigen Patientin, die drei Jahre
lang täglich 4 mg Flunitrazepam eingenommen und bereits
zwei gescheiterte Absetzversuche hinter sich gebracht
hatte, erklärte Volk ein mögliches Schema der
Entzugsbehandlung. Die Therapie erstreckte sich über 12
Monate. In den ersten vier Wochen wurde die Menge
Flunitrazepam auf täglich 2 mg reduziert und durch die
abendliche Gabe von 2 g Tryptophan ergänzt, das ab der
fünften Woche auf 1,5 g gesenkt wurde. Bis zum fünften
Monat wurde die Menge des Flunitrazepams weiter auf 0,5
mg pro Tag abgesenkt. Ab dem siebten Monat bekam die
Patientin das Benzodiazepin nur noch in Intervallen,
zunächst an vier Abenden der Woche, im achten Monat an
zwei und im neunten Monat an einem Abend der Woche. Die
Patientin hatte außerdem zehn Wochen lang je eine
Stunden pro Woche Hatha-Yoga-Übungen erlernt, die zu
Hause wiederholt wurden.
Seit einem halben Jahr nimmt sie noch 0,6 g Tryptophan am
Abend, schläft nach eigenen Angaben rasch ein, wacht
drei- bis viermal in der Nacht auf, kann aber wieder
einschlafen. Die Patientin schläft nach wie vor nicht
gut, so Volk, aber besser als unter Flunitrazepam und hat
vor allem nicht mehr das Gefühl, abhängig zu sein.
PZ-Artikel von Susanne Poth, Frankfurt
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