Saccharin: Kein Ende des Streits umKarzinigenität |
13.04.1998 00:00 Uhr |
Medizin
In den USA sind die Bemühungen, Saccharin von der Liste der
karzinogenen Stoffe zu streichen, erneut gescheitert. Daran konnten auch
die Ergebnisse einer bereits 1970 begonnenen Langzeituntersuchung nichts
ändern. Das dort kein Hinweis auf die Auslösung von Blasentumoren
gefunden wurde, konnte die Skeptiker in den US-Behörden nicht
überzeugen.
Dr. Thorgeirsson vom National Institutes of Health, Bethesda, Maryland, und
Mitarbeiter hatten den Tieren von Geburt an täglich Natrium-Saccharin in einer
Menge verabreicht, die fünffach über den für Menschen empfohlenen Höchstmengen
liegt. In keiner der Urinproben, die in den letzten beiden Lebensjahren der Tiere
gesammelt worden waren, fanden sich daraufhin Calciumphospat-haltige Präzipiate.
Sie werden für die Auslösung der Blasentumoren bei Ratten verantwortlich gemacht,
auf die sich der Verdacht der Karzinogenität von Saccharin im wesentlichen gründet.
Bei den Autopsien von Makaken, Grünen Meerkatzen und Rhesusaffen, denen bis
zu 24 Jahre lang Saccharin zugefüttert worden war, konnte Thorgeirsson auch in
Gewebeuntersuchungen keine Hinweise auf Blasentumoren oder deren Vorstufen
entdecken. Die Autoren kommen zu dem Schluß, daß Saccharin in der Nahrung für
Primaten ungefährlich ist.
Die Ergebnisse, die jetzt publiziert wurden, standen bereits Ende Oktober letzten
Jahres einem Gremium des National Institute of Environmental Health Sciences zur
Verfügung. Es sollte entscheiden, ob Saccharin von der Liste der Substanzen
gestrichen werden kann, die möglicherweise karzinogen sind. Eine Neuauflage des
Report on Carcinogens" ist für 1999 geplant. Mit vier zu drei Stimmen entschied
sich das Gremium jedoch gegen ein "Delisting". Damit setzten sich jene Stimmen
durch, die Saccharin für krebserregend halten, obwohl es mit Ausnahme einer
Versuchsserie an Ratten aus dem Jahr 1979 dafür kaum Belege gibt.
In jenem Jahr hatten kanadische Forscher Ratten mit Megadosen Saccharin
gefüttert. Von 200 Tieren entwickelten 17 (15 davon männliche) daraufhin
Blasentumoren. In der Kontrollgruppe von 100 Tieren traten nur zwei Tumoren auf.
Die kanadische Regierung führte daraufhin eine Apothekenpflicht ein. Saccharin
durfte nur noch an Diabetiker abgegeben werden. In den USA entschied man sich
für einen Warnhinweis auf saccharinhaltigen Produkten.
Die Bedenken gegen Saccharin sind wesentlich älter als die wissenschaftlichen
Hinweise auf eine Schädlichkeit. Bereits 1907 sprach sich eine US-Behörde für ein
Verbot aus. Der verantwortliche Beamte soll dann von Präsident Theodore
Roosevelt persönlich als Idiot" zurückgepfiffen worden sein. Unter der
Präsidentschaft von William Haward Taft wurde erneut ein Verbot erwogen. Der
drohende Zuckermangel im ersten und zweiten Weltkrieg verhinderte, daß es dazu
kam.
Wirtschaftlich hatte Saccharin damals noch keine Bedeutung. Wegen des
metallischen Nachgeschmacks wurde es allenfalls von Diabetikern verwendet. Dies
änderte sich schlagartig 1937 mit der Entdeckung von Cyclamat. Als Süßstoff
wesentlich schwächer als Saccharin, unterdrückte es doch den Nachgeschmack von
Saccharin. 1958 kam "Sweet 'N Low" auf den Markt. Es fand bei den
schlankheitsbewußt gewordenen Amerikanern reißenden Absatz, bis Cyclamat
1969 wegen vermuteter krebsauslösender Wirkung verboten wurde. Daraufhin
wurde auch Saccharin näher untersucht. Es wurden jene Rattenversuche
durchgeführt, auf die sich der Verdacht der Karzinogenität seither stützt.
Der Widerstand gegen Saccharin ist nicht allein durch die Ergebnisse eines
Tierversuchs zu erklären, zumal keine der später durchsehen epidemiologischen
Studien ein erhöhtes Krebsrisiko von Saccharinkonsumenten aufzeigen konnten. Es
spielt offenbar eine Rolle, daß sich seinerzeit die Industrielobby gegen die Bedenken
der Verbraucherbehörden durchsetzen konnte. Inzwischen hat sich in dieser
Auseinandersetzung das Blatt gewendet. Dies liegt nicht daran, daß der Einfluß der
Verbraucherverbände in den USA gestiegen ist. Die Verdienstmöglichkeiten der
Industrie für Saccharin sind jedoch gesunken, seit 1981 mit Aspartam ein weiterer
Süßstoff auf den Markt kam. Bereits 1985 wurde mit der neuen Substanz mehr
Geld umgesetzt als mit Saccharin. Heute wird in den USA dreimal so viel Aspartam
wie Saccliarin verwendet. Im Falle eines Wegfalls der Warnhinweise rechnen die
Hersteller laut einem Bericht des Wallstreet Journals nur mit einem Anstieg der
Absatzchancen von Saccharin um zehn Prozent.
PZ-Artikel von Rüdiger Meyer, Hannover
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