Lieferengpässe und Menschenwürde |
Lukas Brockfeld |
11.11.2024 09:00 Uhr |
Der Medizinethiker erklärte, dass man in den vergangenen Jahren verschiedene Ansätze entwickelt habe, die den Umgang mit einem Mangel an knappen, aber lebensnotwendigen Ressourcen regeln sollen.
In Italien habe man beispielsweise während der Corona-Pandemie versucht, Beatmungsgeräte so zu verteilen, dass dadurch möglichst viele Lebensjahre gerettet werden. »Doch das bedeutet eine Schlechterstellung von schwer- oder chronisch kranken Menschen. Also von denen, denen es ohnehin schlecht geht«, klagte Maio. Das gleiche Problem ergebe sich bei dem Ansatz, Beatmungsgeräte anhand der Überlebenswahrscheinlichkeit der Patienten zu verteilen.
»Triage ist eine Vorgehensweise von Ressourcenverteilung, die man in Kriegszeiten anwendet. Man hat gesagt: Auf dem Schlachtfeld, da retten wir die Soldaten, die wir vielleicht noch weiterverwenden können. Das kann man nicht auf die normale Medizin übertragen«, betonte der Mediziner. Auch bei der Verteilung knapper, aber lebenswichtiger Arzneimittel ergebe sich das Problem, dass manche Patienten das Nachsehen haben.
In vielen Kulturen sei ein solches Vorgehen im Notfall akzeptiert. Im englischen Utilitarismus sei die Ansicht vorherrschend, dass gut sei, was am meisten Nutzen bringt. Aus dieser Perspektive sei ein Vorgehen, dass auf die Maximierung von Lebensjahren abzielt, vernünftig. In den deutschsprachigen Ländern orientiere man sich dagegen vorrangig an der Menschenwürde und der Kantischen Ethik.
»Nach der Kantischen Ethik ist der Mensch Zweck an sich. Jeder Mensch hat einen Wert, und wir dürfen nicht einen Menschen opfern, um hundert Menschen zu retten. Das ist mit der Menschenwürde unvereinbar und geht nicht nach unserem Grundgesetz«, betonte der Medizinethiker. Aufgrund der Menschenwürde habe jeder Patient ein Anrecht auf eine ausreichende Versorgung.
Für die Versorgung mit Arzneimitteln bedeute das, dass man keine Priorisierung vornehmen könne. Die Apotheken zeichneten sich dadurch aus, dass sie das Menschenrecht auf eine ausreichende Versorgung verwirklichen. Die Politik dürfe die Apotheken mit dieser großen Verantwortung nicht alleine lassen.
»Eine gerechte Verteilung in der Versorgung gibt es nicht, wenn die notwendigen Medikamente knapp sind«, betonte Maio. Die Politik müsse daher unbedingt die Notwendigkeit einer ausreichenden Apothekenstruktur erkennen und entsprechend handeln. Andernfalls könne sich eine Situation entwickeln, die sich unmöglich verantworten ließe.
Anschließend hielt Professor Wolf-Dieter Ludwig, Vorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, einen Vortrag. In diesem sprach der Mediziner über verschiedene aktuelle Vorhaben zur Vermeidung von Lieferengpässen in Deutschland und Europa.
Zum Ende des Apothekertages stellten sich Ann Kathrin Strunz, Giovanni Maio und Wolf-Dieter Ludwig zusammen den Fragen der Zuhörerinnen und Zuhörer. Gemeinsam sprach man über die Defizite in der Arzneimittelversorgung und über mögliche Lösungsansätze.