Lehren aus der Pandemie |
Severe Acute Respiratory Syndrome Coronavirus 2 (SARS-CoV-2): Fast drei Jahre lang brachte dieses Virus das Zusammenleben von Menschen auf der ganzen Welt durcheinander. / © CDC/Alissa Eckert, MSMI; Dan Higgins, MAMS
Das Severe Acute Respiratory Syndrome Coronavirus 2, der Pandemieerreger SARS-CoV-2, tauchte erstmals im Dezember 2019 in der chinesischen Stadt Wuhan auf, wo es zu einer auffälligen Häufung von Lungenentzündungen mit zunächst unbekannter Ursache kam. Schnell breitete sich der Erreger auf der ganzen Welt aus; in Deutschland wurde ein erster Fall Ende Januar 2020 registriert (Kasten). Die von SARS-CoV-2 verursachte Erkrankung erhielt später den Namen Covid-19: Corona Virus Disease 2019.
Zu Beginn der Pandemie musste vieles schnell gehen und es ging auch schnell: die Sequenzierung des Erregers – im Januar 2020 abgeschlossen –, die Entwicklung von Diagnostiktests – unter Federführung von Forschenden der Berliner Charité nur kurze Zeit später abgeschlossen –, die Identifizierung der Übertragungswege (Tröpfchen und Aerosole) – im Frühjahr 2020 belegt – und die Entwicklung von Impfstoffen – erste EU-Zulassung im Dezember 2020 (Kasten).
Besonders bei älteren Menschen und bei Patienten mit bestimmten Vorerkrankungen war die Sterblichkeit dennoch hoch. Insgesamt sind laut Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) weltweit bislang 7,1 Millionen Menschen an Covid-19 gestorben (Stand: 19. Februar 2025).
27. Januar 2020: Erster bestätigter Fall in Deutschland. Ein Mitarbeiter des Autozulieferers Webasto in Stockdorf bei München ist an Covid-19 erkrankt.
30. Januar 2020: Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) erklärt eine »gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite«.
4. März 2020: Apotheken in Deutschland wird es per Ausnahmeregelung erlaubt, Händedesinfektionsmittel in großen Mengen herzustellen und in Verkehr zu bringen.
9. März 2020: Erste Todesfälle in Deutschland. Ein 78-Jähriger und eine 89-Jährige in Nordrhein-Westfalen sind an Covid-19 gestorben. Bis Juni 2023 sterben im Verlauf der Pandemie laut Robert-Koch-Institut (RKI) rund 174.400 Menschen in Verbindung mit Covid-19.
22. März 2020: Bund und Länder beschließen weitreichende Beschränkungen sozialer Kontakte. Bis zum Ende der Pandemie gibt es abhängig vom Infektionsgeschehen immer wieder Lockerungen und Verschärfungen der Kontaktbeschränkungen.
1. April 2020: Das RKI empfiehlt das Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung, beispielsweise eine Stoffmaske, im öffentlichen Raum. Weitaus besseren Schutz bieten FFP2-Masken, die jedoch zunächst nicht in ausreichendem Maß verfügbar sind.
8. April 2020: Mit der SARS-CoV-2-Arzneimittelversorgungsverordnung werden unter anderem Austauschregeln für die Apotheken gelockert und eine Botendienst-Vergütung eingeführt.
16. Juni 2020: Die Bundesregierung startet die Corona-Warn-App.
9. Dezember 2020: Angehörige von Risikogruppen haben laut Coronavirus-Schutzmasken-Verordnung Anspruch auf eine bestimmte Anzahl kostenloser FFP2-Masken. Die Verteilung erfolgt über die Apotheken.
21. Dezember 2020: Die EU-Kommission erteilt dem mRNA-Impfstoff Tozinameran (Comirnaty®) von Biontech/Pfizer die Zulassung. Die Impfkampagne beginnt Ende Dezember. Bis Februar 2024 sind in Deutschland 76,5 Prozent der Bevölkerung vollständig gegen Covid-19 geimpft und 62,8 Prozent geboostert.
März 2021: Alle Bürger können kostenlos von geschultem Personal mit Antigen-Schnelltests getestet werden.
31. Mai 2021: EU-Zulassung für Comirnaty für Kinder ab zwölf Jahren. Die Ständige Impfkommission empfiehlt die Covid-19-Impfung für 12- bis 17-Jährige ab August 2021.
10. Juni 2021: Roll-out des digitalen Impfnachweises in der Corona-Warn-App oder in der CovPass-App. Auch Apotheken können Impfbescheinigungen ausstellen.
8. Februar 2022: Apotheken bieten Impfungen gegen Covid-19 an.
3. Februar 2023: Das RKI stuft die Gefährdung durch Covid-19 für die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland von »hoch« auf »moderat« herab.
1. März 2023: In Deutschland entfallen alle Test- und Maskenpflichten.
5. Mai 2023: Die WHO erklärt die »gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite« aufgrund von Covid-19 für beendet.
Kein menschliches Immunsystem kannte anfangs den neuen Erreger. Um Ansteckungen zu vermeiden, musste man sich separieren. / © Getty Images/Patrick Fraser
Die Coronapandemie war für heutige Generationen die erste Pandemie zu Lebzeiten – möglicherweise wird sie aber nicht die einzige bleiben. Sie führte auch aufgrund der Schutzmaßnahmen zu gravierenden Belastungen der Bevölkerung und der Wirtschaft. Aus wissenschaftlicher Sicht hat sie einige wichtige Erkenntnisse gebracht, die dazu genutzt werden sollten, die Reaktion auf kommende Pandemien zu optimieren. Der Lernprozess ist noch nicht beendet, denn SARS-CoV-2 ist nicht verschwunden und bis heute lernen wir dazu, wie dieses Virus die Gesundheit des Menschen beeinträchtigen kann.
Mit SARS-CoV-2 ging ein neues Virus um die Welt, das auf eine immunologisch naive Bevölkerung traf. Kein Mensch hatte einen spezifischen Immunschutz gegen den Erreger. Es war für das Verständnis der Erkrankung wichtig und für die Forschung eine Chance, das Immunsystem bei der Arbeit zu untersuchen.
Da die spezifische Abwehr fehlte, musste bei Infizierten die unspezifische Abwehr das Coronavirus bekämpfen. Hierbei erkennen Zellen virustypische Moleküle und schlagen Alarm, indem sie Interferone freisetzen, die wiederum Abwehrmechanismen aktivieren. Infektiologen erkannten schnell, dass das angeborene Immunsystem auf diese Weise das invasive Virus weitgehend daran hinderte, sich über viele Zelltypen und Organe auszubreiten. Das war eine neue Erkenntnis: Zuvor hatte man angenommen, dass die Interferonreaktion lokal begrenzt sei und sich nicht weit im Körper ausbreite.
Neu war auch die Erkenntnis, wie bedeutsam die T-Zellen als Teil der spezifischen Immunabwehr sind. »Früher konzentrierte man sich mehr auf Antikörper und vergaß oft die T-Zell-Antworten«, sagte Professor Dr. Rosemary Boyton, Immunologin am Imperial College London, kürzlich gegenüber der Nachrichtenseite des Fachjournals »Nature« (DOI: 10.1038/d41586-025-00128-w).
In vielen Studien wurden etwa Antikörpertiter, nicht aber die T-Zell-Reaktionen gemessen, vor allem weil die Titer leichter zu bestimmen sind. Während der Pandemie wurde aber zunehmend klar, dass die Antikörper mit der Zeit verschwinden, während die T-Zellen einen dauerhaften Schutz vermitteln.
Es zeigte sich zudem, dass die Immunreaktionen in verschiedenen Geweben unterschiedlich ausfallen. Ein Fokus der Forschung lag dabei auf der Nase als Eintrittspforte des Virus. Eine Immunität an dieser Stelle kann eine Infektion verhindern, während effektive Immunreaktionen in der Lunge schwere Krankheitsverläufe vermeiden können.
In den Fokus der Forschung gerieten bald auch die lang anhaltenden Folgeerkrankungen von Covid-19, die man heute als Long Covid subsummiert. Starke Erschöpfung, neurokognitive Probleme, Kurzatmigkeit und Schlafstörungen können noch monatelang nach der Infektion anhalten. Die angeborene Immunabwehr kann bei den meisten Infizierten diese postviralen Zustände verhindern – aber nicht bei allen.
Das Phänomen Long Covid gehört zu den bedeutendsten Folgen der Erkrankung Covid-19. Die Forschung zu Long Covid zeigte, dass die meisten Erreger solche zum Teil schweren Langzeitschäden auslösen können (DOI: 10.1038/s41591-022-01810-6). Hier sind vor allem Grippeviren, das Epstein-Barr-Virus, aber auch das Dengue-, Chikungunya- und das Ebolavirus sowie Bakterien und Parasiten wie etwa Giardia lamblia zu nennen.
Das Ausmaß der postinfektiösen Syndrome und die Ursachen waren bis zur Coronapandemie kaum erforscht. Trotz intensiver Bemühungen sind die Pathomechanismen bis heute nicht verstanden. Autoimmunreaktionen, Viruspersistenz, Gefäßentzündungen oder Mitochondrien-Funktionsstörungen könnten unter anderem eine Rolle spielen.
Weltweit waren laut einer Schätzung von US-amerikanischen Forschenden aus dem Jahr 2024 insgesamt 400 Millionen Menschen im Verlauf der Pandemie an Long Covid erkrankt (DOI: 10.1038/s41591-024-03173-6). Dies verursachte Folgekosten von etwa 1 Billion US-Dollar (960 Milliarden Euro) – was etwa 1 Prozent der globalen Wirtschaft entspricht. Eine weitere Erforschung der Pathomechanismen sei daher dringend notwendig, um die Prävention und Therapie von Long Covid und anderen postinfektiösen Syndromen zu verbessern, so die Autoren.
Die neu entwickelten Impfstoffe erhielten als Erstes Angehörige von Risikogruppen: ältere Menschen und Menschen mit Vorerkrankungen. / © Getty Images/Luis Alvarez
Ein Großteil der immunologischen Erkenntnisse stammt aus der Impfstoffentwicklung und ist umgekehrt auch relevant für diese. So hatte man zu Beginn der Pandemie in Ermangelung von Impfstoffen zur aktiven Immunisierung auf eine passive Immunisierung mit neutralisierenden Antikörpern gesetzt, um die Infektion bei schweren Verläufen einigermaßen kontrollieren zu können. Eine Reihe von Präparaten kam auf den Markt. Allerdings verloren diese Wirkstoffe unter anderem aufgrund des von ihnen selbst ausgehenden Selektionsdrucks bei einem schnell mutierenden Virus rasch an Wirksamkeit. Das Virus veränderte hierfür die von den Antikörpern erkannten Antigene. Die hoch komplexen Medikamente waren somit schon kurz nach ihrer Zulassung nutzlos.
Impfstoffe hingegen schienen zu funktionieren – und das bereits nach nur einem Jahr Entwicklungszeit. Zweifel waren anfangs angebracht, weil es zum einen prinzipiell eine Herausforderung ist, gegen ein RNA-Virus einen Impfstoff zu entwickeln. Zum anderen sprachen die Erfahrungen, die man bis dahin mit der Entwicklung von Coronavirus-Impfstoffen gemacht hatte, nicht für einen Erfolg.
Die Impfstoffhersteller konnten aber aus zurückliegenden Untersuchungen mit gegen SARS-CoV-1 gerichteten Vakzinen lernen, das richtige Antigen auswählen und mit neuen Technologien die Impfstoffentwicklung so beschleunigen, dass erste Präparate fast auf den Tag genau ein Jahr nach Beginn der Pandemie verfügbar wurden.
Als Erster erhielt Ende Dezember 2020 der mRNA-Impfstoff Comirnaty® der kooperierenden Unternehmen Biontech und Pfizer eine EU-Zulassung, gefolgt vom ebenfalls mRNA-basierten Spikevax® von Moderna. Damit kamen die ersten Vertreter einer neuen Impfstofftechnologie auf den Markt, die inzwischen aufgrund der milliardenfachen Anwendung und der detaillierten Studien als die am besten untersuchte gelten kann.
Später kamen noch die zwei Vektorimpfstoffe von Janssen (Jcovden®) und Astra-Zeneca (Vaxzevria®) sowie deutlich später die Proteinimpfstoffe von Novavax (Nuvaxovid®) und Hipra Human Health (Bimervax®) hinzu.
Aus der Erforschung der Vakzinen und der Begleitung der Impfkampagnen konnten einige Lehren gezogen werden. So war der Schutz, den die Covid-19-Impfstoffe etablierten, systemisch. Das bedeutet, dass sie zwar schwere Krankheitsverläufe, aber nicht die eigentliche Infektion verhindern konnten. Hierzu wäre ein lokaler Immunschutz um die Eintrittsstellen des Virus in den Organismus – eine Schleimhautimmunität – erstrebenswerter gewesen.
Solch ein Schutz könnte durch nasal applizierte Lebendimpfstoffe erreicht werden. Diese befinden sich aber immer noch in relativ frühen Entwicklungsphasen und haben es noch nicht bis zur Zulassung geschafft.
Bei beiden Adenovirus-basierten Vakzinen kam es in sehr seltenen Fällen zu Hirnvenenthrombosen und Thrombosen mit Thrombozytopenie-Syndrom (TTS), die in einzelnen Fällen tödlich endeten. Deren Mechanismus wurde schließlich von Forschenden aus Greifswald aufgeklärt. Ähnliche Thrombosen werden auch nach natürlichen Infektionen mit Adenoviren beobachtet. Die Covid-19-Vektorimpfstoffe werden aktuell in Deutschland nicht mehr angewendet.
Regelmäßige Antigen-Schnelltests gehörten in der Pandemie zum Alltag. / © Adobe Stock/BASILICOSTUDIO STOCK
Durch den Einsatz der mRNA-Impfstoffe lernte man auch einiges über die Bedeutung des angeborenen Immunsystems. Dieses ist nämlich für die Wirkung, aber auch für die zum Teil ausgeprägten Impfreaktionen verantwortlich. Wie bei einer Lebendimpfung werden bei einer Impfung mit mRNA-Impfstoffen auch zytotoxische T-Zellen aktiviert, indem Antigene, die dem Immunsystem präsentiert werden, von den Zellen selbst synthetisiert werden.
Allerdings werden Antigene, und damit auch endogen synthetisierte Antigene, nur präsentiert, wenn Zellen des Impflings ein geeignetes Molekül zur Antigenpräsentation (MHC-I-Komponente) herstellen können. Da das MHC-I-Repertoire begrenzt ist, muss damit gerechnet werden, dass nicht alle geimpften Personen die antigenen Peptide präsentieren können. Diese Personen müssten demzufolge als CD8-T-Zell-Nonresponder eingestuft werden – ein Aspekt, der noch besser erforscht werden muss.
Dass sich mit den mRNA-Impfstoffen gegen Covid-19 eine neue Impfstofftechnologie etabliert hat, ist grundsätzlich positiv zu werten. Denn für potenzielle zukünftige Pandemien gelten mRNA-Impfstoffe als vielversprechend: Sie sind effektiv und sicher, können vergleichsweise rasch entwickelt und produziert werden. Für einzelne virale Pandemiekandidaten läuft bereits die Entwicklung. So arbeitet Biontech an einem Impfstoff gegen Mpox und Moderna hat größere Summen von der US-Regierung erhalten, um eine mRNA-Vakzine gegen das Vogelgrippevirus vom Typ H5N1 zu entwickeln.
FFP2-Masken schützen effektiv vor Ansteckungen mit SARS-CoV-2 – wenn sie richtig getragen werden: Mund und Nase müssen bedeckt sein und die Maske muss eng anliegen. / © Adobe Stock/PixelboxStockFootage
Insbesondere zu Beginn der Pandemie, als erst sehr wenige Menschen eine Immunität gegen den neuen Erreger aufgebaut hatten, waren nicht pharmazeutische Interventionen (NPI) das einzige Mittel zur Eindämmung des Infektionsgeschehens: Abstands- und Hygieneregeln, Kontaktbeschränkungen, das Tragen von Schutzmasken, Schnelltests und Quarantäne. Das »Flachhalten der Kurve« war unerlässlich, um eine Überlastung des Gesundheitssystems zu vermeiden. Einzelne oder auch alle NPI waren in Teilen der Bevölkerung äußerst unbeliebt und ihre Wirksamkeit wurde nicht zuletzt deshalb immer wieder infrage gestellt.
Zur Aufarbeitung der Pandemie zählt daher auch auszuwerten, wie gut die einzelnen NPI ihren Zweck erfüllt haben und Ansteckungen verhindern konnten. Das ist auch mit Blick auf eine kommende Pandemie wichtig, denn die grundsätzliche Situation, dass man die rasche Ausbreitung eines Erregers in der Bevölkerung eindämmen muss, ohne dafür adäquate pharmakologische Mittel zur Verfügung zu haben, wird bei jeder neuen Pandemie mindestens zu Beginn dieselbe sein.
Besprechungen und Konferenzen finden seit der Pandemie häufig (auch) online statt. / © Adobe Stock/Andrey Popov
In Folge 4 der neuen Staffel des Podcasts »Das Coronavirus-Update« von NDR Info gehen die beiden Wissenschaftsjournalistinnen Korinna Hennig und Daniela Remus der Frage nach der Effektivität der NPI nach. Sie erinnern zunächst daran, dass zu Beginn der Pandemie ein exponentieller Anstieg der Fallzahlen verhindert werden musste. Die Reproduktionszahl R, die angibt, wie viele Personen ein Infizierter ansteckt, wurde zunächst auf 2,4 bis 3,3 geschätzt. Ohne Eindämmungsmaßnahmen wäre sehr schnell die gesamte Bevölkerung infiziert gewesen.
Die Notwendigkeit, solche Maßnahmen rasch zu ergreifen, ohne dass es zu diesem Zeitpunkt schon direkte Evidenz geben kann, wird auch bei künftigen Pandemien gegeben sein. Direkte Evidenz für die Wirksamkeit von Schutzmasken wäre etwa eine Studie, in der eine Hälfte der Probanden Maske trägt und die andere nicht. Es leuchtet unmittelbar ein, dass eine solche Studie bei einem Erreger mit potenziell tödlichem Verlauf nicht möglich ist.
Professor Dr. Jörg Meerpohl, Evidenzforscher an der Universität Freiburg, betont aber im Podcast: »Absence of evidence is not evidence of absence.« Soll heißen: Bloß, weil in der vorhandenen limitierten Evidenz keine eindeutigen Effekte gesehen wurden, bedeute das nicht zwingend, dass eine Maßnahme nicht wirkt. Häufig gebe es indirekte Evidenz, etwa Analogieschlüsse von anderen respiratorischen Viren. Wie effektiv die NPI waren, zeigt sich auch daran, dass die Zirkulation anderer Atemwegserreger wie dem Respiratorischen Synzytialvirus und Influenzaviren stark reduziert war. So fiel in den Wintern 2020/2021 und 2021/2022 die Grippewelle vollständig aus.
Ob die einzelnen NPI in der Coronapandemie effektiv waren, hat rückblickend die britische Royal Society untersucht (DOI: 10.1098/rsta.2023.0211). Selbst im Nachhinein sind die Effektstärken der einzelnen Maßnahmen aber kaum zu ermitteln, da meistens mehrere davon parallel ergriffen wurden. Professor Dr. Lars Schaade, während der Pandemie Vizepräsident des Robert-Koch-Instituts (RKI) und mittlerweile RKI-Präsident, sagt dazu im Podcast: »Jede einzelne Maßnahme bringt 10 bis 20 Prozent, vielleicht 30 Prozent, viel mehr aber auch nicht. Der eigentliche Effekt, der letztlich den R-Wert senkt und damit zur Verlangsamung der Übertragung führt, ergibt sich daraus, dass sich die Einzeleffekte multiplizieren.« Dies nennt man Multilayer-Prinzip.
Getestet, geimpft, genesen: Unter Anwendung der 3G-Regel wurden nach und nach wieder öffentliche Veranstaltungen möglich. Wer positiv getestet war, musste zu Hause bleiben. / © Adobe Stock/okrasiuk
Laut dem Bericht der Royal Society waren Maßnahmen zur Kontaktreduktion am wirkungsvollsten zur Eindämmung der Infektionen, und zwar umso mehr, je strenger sie waren. Professor Dr. Dirk Brockmann, Modellierer an der TU Dresden, verdeutlicht den Effekt der Reduktion von Gruppengrößen an einem Beispiel. Bei einer Gruppe von zehn Personen in einem Raum ergeben sich 45 Ansteckungsmöglichkeiten: Jede Person kann jede andere Person infizieren; allerdings sind ein Kontakt von Person A mit Person B und ein Kontakt von Person B mit Person A identisch, sodass man das Ganze durch 2 teilen muss: 10 x 9 ÷ 2 = 45 Infektionsmöglichkeiten. Teilt man die Gruppe in zwei Hälften auf, ergeben sich für die dann nur noch fünf Personen jeweils zehn Infektionsmöglichkeiten (5 x 4 ÷ 2 = 10), bezogen auf die ursprünglich zehn Personen 20 (2 x 5 x 4 ÷ 2 = 10). Durch Halbierung der Gruppengröße wird somit die Zahl der Infektionsmöglichkeiten mehr als halbiert.
Auch Masken konnten Ansteckungen verhindern, und zwar FFP2-Masken besser als OP-Masken. Dabei war der Fremdschutz höher als der Eigenschutz. SARS-CoV-2 ist unter anderem über Aerosole übertragbar. Da sich Aerosole in Innenräumen sehr schnell verteilen, konnten sich auch Personen anstecken, die sich weit entfernt von einer infizierten Person aufgehalten hatten. Lüftungsanlagen konnten das nur bedingt verhindern.
Allerdings hängt die Effektivität einer Atemschutzmaske stark davon ab, ob sie richtig getragen wird. Bekanntermaßen soll sie Mund und Nase vollständig bedecken, regelmäßig gewechselt und nicht von innen angefasst werden. Da hierbei viele Fehler gemacht wurden, sei das Masketragen in Deutschland auf Bevölkerungsebene nicht sehr effektiv gewesen, heißt es im Podcast.
Antigen-Schnelltests waren ebenfalls sehr wirksam, um Infektionen zu entdecken und Ansteckungen zu vermeiden – aber nur, wenn sich positiv getestete Personen in Quarantäne begaben. Gesteigert wurde die Effizienz der Tests noch durch die Kombination mit Apps wie der Corona-Warn-App. Bei einem neuen Pandemieerreger sollten Tests daher wieder genutzt werden, auch um womöglich mehr Kontakte zulassen zu können, lautet das Fazit von Hennig und Remus.
Dass auch in Deutschland das Abwasser mittlerweile auf bestimmte Erreger gemonitort wird, ist eine Folge der Pandemie. / © Shutterstock/kittirat roekburi
Auch die Surveillance war ein bedeutender Faktor in der Pandemiebekämpfung. Die Ausbreitung von Erregern im Blick zu haben, ist in Deutschland die Aufgabe des RKI. In der Coronapandemie musste die Bundesbehörde die Beobachtung und Analyse des Infektionsgeschehens rasch verstärken. »Dabei wurden bestehende Systeme zur Surveillance akuter Atemwegsinfektionen ausgebaut und auch neue Systeme etabliert«, heißt es im abschließenden Tätigkeitsbericht der RKI zu den Pandemiejahren (Stand November 2023).
So wurden etwa die Meldungen von SARS-CoV-2-Infektionen, -Hospitalisierungen und -Todesfällen, die von Ärzten über die lokalen Gesundheitsämter und die zuständigen Landesbehörden weiter an das RKI übermittelt wurden, verbessert. Auf Grundlage dieser Meldungen konnte das RKI tägliche Fallzahlen veröffentlichen und Situationsberichte erstellen. Zudem wurden die Daten an internationale Behörden weitergegeben. Dabei sei die Datenerhebung »durch diverse Digitalisierungsvorhaben (…) kontinuierlich verbessert« worden, schreibt das RKI. Die digitale Infrastruktur des Meldewesens werde weiterentwickelt.
Außer durch direkte Meldungen erhält das RKI auch Informationen aus der syndromischen Surveillance. Darunter wird die Überwachung von Erkrankungen verstanden, bei der Symptomkomplexe (Syndrome) wie etwa akute Atemwegserkrankungen (ARE) gemeldet werden. Das kann entweder von Ärzten, Krankenhäusern oder aus der Bevölkerung heraus erfolgen. Ein Beispiel hierfür ist das Grippeweb, eine seit 2011 existierende Online-Plattform, auf der die Bevölkerung das Vorliegen oder Fehlen von ARE-Symptomen regelmäßig melden kann. Ein weiteres Beispiel ist das Sentinelsystem für Influenza, das etwa 700 Arztpraxen umfasst, die regelmäßig ARE melden und entsprechende Proben an das RKI schicken. Beide Systeme wurden in der Pandemie an den neuen Erreger angepasst.
Die Surveillance von SARS-CoV-2 ging deutlich über ein Monitoring hinaus. So wurde ein Teil der Viren, die bei Patienten nachgewiesen wurden, komplett sequenziert. Das erlaubte es, die Ausbreitung von Varianten zu erkennen und die Virusevolution eng zu verfolgen, was etwa Informationen für Impfstoffanpassungen lieferte.
Des Weiteren meldete das RKI die Gesamtmortalität an das Projekt EuroMOMO und erfasste die Belastung der Krankenhäuser. Hierzu wurde ein bundesweites Register für Intensivkrankenhausbetten aufgebaut. Seit April 2020 erfasst das DIVI-Intensivregister täglich die freien und belegten Behandlungskapazitäten in der Intensivmedizin von 1300 Akutkrankenhäusern in Echtzeit.
Das RKI überwachte in der Pandemie zudem die Verbreitung von SARS-CoV-2 über seroepidemiologische Studien, die Impfquoten, die körperliche und psychische Gesundheit der Bevölkerung (mit der Corona Health App) sowie die Risikowahrnehmung und das Schutzverhalten (in den COSMO-Befragungen).
SARS-CoV-2 und andere Krankheitserreger wie etwa Grippeviren werden mit den Fäkalien und dem Urin ausgeschieden und können daher im Abwasser nachgewiesen werden. Regelmäßige Untersuchungen von Proben aus verschiedenen Standorten können somit zur Überwachung der Infektionslage – unabhängig von der Teststrategie – beitragen. In der Pandemie entstand AMELAG, das SARS-CoV-2 überwacht (Kasten).
Für das System AMELAG (Abwassermonitoring für die epidemiologische Lagebewertung) werden aus bis zu 70 Kläranlagen bundesweit wöchentlich Proben entnommen. Dafür wird automatisiert eine 24-Stunden-Mischprobe erstellt, die an das zuständige Labor geschickt und dort mittels quantitativer Polymerase-Kettenreaktion (PCR) auf Erreger getestet wird. Derzeit werden neben SARS-CoV-2 noch Influenza-A- und -B-Viren sowie seit Neuestem das Respiratorische Synzytialvirus (A und B) bestimmt. Im PIA-2-Projekt werden zudem Polioviren nachgewiesen, worüber Ende November 2024 in Deutschland erstmals von der Schluckimpfung abgeleitete Polioviren identifiziert wurden. Prinzipiell ist es auch möglich, die Nukleinsäuren von Erregern in Abwasserproben zu sequenzieren. Darüber lassen sich zum Beispiel verschiedene Virusvarianten von SARS-CoV-2 bestimmen.
Es könnte auch bei der Identifizierung von neuen Erregern mit pandemischem Potenzial helfen. Inwieweit auch Influenza-Virustypen wie das Vogelgrippevirus H5N1 sequenziert und erkannt werden können, werde derzeit geprüft, informiert das RKI auf Nachfrage der PZ. Da die Strukturen des Abwassermonitorings bereits bestehen, könnte bei einer zukünftigen Pandemie ein neuer Erreger schnell auch im Abwasser überwacht werden – vorausgesetzt, sein Genom ist bekannt und er ist prinzipiell im Abwasser vorhanden. »Der Vorteil ist jetzt, dass viele Länder auf der Welt nun ein bestehendes, gut ausgebautes Abwassermonitoring haben und gut vernetzt sind«, heißt es vom RKI.
Aus Sicht der Behörde müssen einige neu etablierte Surveillance-Strukturen verstetigt und die digitale Infrastruktur gestärkt und ausgebaut werden. Wichtig sei etwa, eine Verknüpfung von Datenquellen zu schaffen, um so beispielsweise Meldedaten mit Daten des Erregererbguts abgleichen zu können.
Die Flut an wissenschaftlichen Erkenntnissen, die im Verlauf der Pandemie gewonnen wurden, mussten auch kommuniziert werden. Der hohe Informationsbedarf in der Bevölkerung führte zu einem bis dahin nicht gekannten Umfang an Wissenschaftskommunikation. Täglich meldeten Zeitungen Infektionszahlen, Virologen-Podcasts erlebten Höhenflüge, die Entwicklung der Impfstoffe wurde mit gleicher Spannung verfolgt wie die Identifizierung von Impfnebenwirkungen.
Professor Dr. Christian Drosten von der Berliner Charité wurde in der Pandemie unter anderem mit dem Podcast »Das Coronavirus-Update« bei NDR Info bundesweit bekannt. Der Spezialist für Coronaviren war teilweise heftigen Anfeindungen ausgesetzt. / © Imago/Reiner Zensen
Eine wichtige Lehre aus der Coronapandemie ist, dass zur Pandemiebekämpfung die Bevölkerung die Ernsthaftigkeit der Situation und den Sinn von Schutzmaßnahmen verstanden haben muss. Ob Masken, Impfungen oder Tests: Die Bereitschaft, Maßnahmen mitzutragen, muss beim größten Teil der Bevölkerung vorhanden sein. Sonst laufen sie ins Leere. Dafür müssen die entscheidenden wissenschaftlichen Erkenntnisse gut verständlich kommuniziert werden, was in der Coronapandemie nicht immer der Fall war.
Wichtig bei der Wissenschaftskommunikation (nicht nur in einer Pandemie) sind eine hohe Transparenz und Verständlichkeit der Informationen und die Nutzung von verschiedenen Kanälen, um möglichst viele Menschen zu erreichen. Gegen Fake News und Verschwörungstheorien muss effektiv vorgegangen werden.
Die Pandemie hat auch gezeigt, dass ein Gleichgewicht zwischen der Geschwindigkeit der Informationsverbreitung und der Aufrechterhaltung wissenschaftlicher Qualitätsstandards gefunden werden muss. Nicht jeder Preprint muss als wissenschaftliche Erkenntnis kommuniziert werden. Auch die Grenzen des bisherigen Wissens sind klar zu benennen.
Da bestenfalls die ganze Bevölkerung erreicht werden sollte, ist deren Heterogenität zu berücksichtigen. Es sollten verschiedene Zielgruppen mit unterschiedlichem Wissen, Bildungsniveau sowie sprachlichen und kognitiven Voraussetzungen angesprochen werden. So könnten Informationen speziell für schlecht erreichbare Gruppen, wie Menschen mit niedrigerem Bildungsniveau oder Kinder, bereitgestellt werden.
Zudem ist die Kooperation zwischen verschiedenen Fachbereichen essenziell, um komplexe Themen ganzheitlich zu kommunizieren und keine sich widersprechenden Aussagen zu machen. Als problematisch erwiesen sich in dieser Hinsicht Interessenkonflikte zwischen der Wissenschaft auf der einen Seite und der Politik auf der anderen Seite, die zu Widersprüchen führten und die Bevölkerung verunsicherten.
Theo Dingermann ist Apotheker und emeritierter Professor für Pharmazeutische Biologie. Wissenschaftskommunikation begleitet ihn seit Beginn seiner Berufung als Frankfurter Hochschullehrer im Jahr 1990. Er ist Autor von fünf Lehrbüchern der Pharmazeutischen Biologie, der Immunologie und der Molekularen Genetik. Seit einigen Jahren krönt er sein Anliegen, komplexe biologische/pharmazeutische Themen einer interessierten Leserschaft zu vermitteln, als Quereinsteiger und Mitglied der PZ-Redaktion.
Christina Hohmann-Jeddi studierte Biologie an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz und am University College Cork in Irland. Seit 2001 arbeitet sie bei der Pharmazeutischen Zeitung, erst als Volontärin, dann als Redakteurin und seit 2003 als Leiterin des Ressorts Medizin.
Annette Rößler studierte Pharmazie an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn und erhielt 2002 die Approbation als Apothekerin. Sie arbeitete mehrere Jahre in Krankenhaus- und verschiedenen öffentlichen Apotheken in Schweden und Deutschland. Nach Volontariat bei der Springer-Medizin-Verlagsgruppe und Tätigkeit als Redakteurin im Newsroom der Ärzte Zeitung wechselte sie 2011 zur Pharmazeutischen Zeitung.