Lecanemab im Handel |
Sven Siebenand |
30.09.2025 07:00 Uhr |
Eine Behandlung mit Lecanemab kommt nur in frühen Krankheitsphasen der Alzheimer-Krankheit infrage. Sie kann dazu beitragen, dass der Krankheitsverlauf abgebremst wird. / © Adobe Stock/DimaBerlin
Bei der Alzheimer-Krankheit handelt es sich um eine primär degenerative zerebrale Erkrankung, die schleichend beginnt und sich langsam, aber stetig über einen Zeitraum von mehreren Jahren bis Jahrzehnten entwickelt. Deshalb versteht man sie heute als ein Kontinuum mit Progression von einer frühen asymptomatischen Phase über eine prodromale Phase der leichten kognitiven Störung (Mild Cognitive Impairment, MCI) bis hin zur leichten, mittelschweren und schweren Demenz.
Die Alzheimer-Demenz ist mit einem Anteil von circa 60 bis 80 Prozent die häufigste Form beziehungsweise Ursache der Demenz und entspricht der letzten Phase der Alzheimer-Krankheit. Sie geht mit fortschreitendem Verlust der Gedächtnisleistung sowie der Alltagskompetenz und Selbstständigkeit einher. Die MCI beschreibt dagegen ein klinisches Syndrom, das mit objektivierbaren leichten kognitiven Beeinträchtigungen bei im Wesentlichen erhaltener Alltagskompetenz einhergeht.
Lecanemab ist ein rekombinanter, gegen β-Amyloid (Aβ) gerichteter Antikörper. Das Target sind vor allem lösliche β-Amyloid-Protofibrillen, der Antikörper bindet aber auch an fibrilläres Amyloid in den Plaques. Lecanemab reduziert auf diese Weise Aβ-Plaques.
Der Antikörper ist zur Behandlung von Erwachsenen mit klinisch diagnostizierter MCI und leichter Demenz aufgrund der Alzheimer-Krankheit zugelassen. Der Antikörper darf aber nur bei Personen mit per Test bestätigter Amyloid-Pathologie verwendet werden, wenn sie zudem Apolipoprotein E ε4 (ApoE ε4)-Nichtträger oder heterozygote ApoE ε4-Träger sind.
Der Test auf den ApoE ε4-Status muss vor Einleitung der Behandlung mit Lecanemab durchgeführt werden, um eine Informationsgrundlage bezüglich des Risikos für das Auftreten von Amyloid-assoziierten Bildgebungsanomalien (Amyloid-Related Imaging Abnormalities, ARIA) zu schaffen. Das Risiko für ARIA ist bei homozygoten ApoE ε4-Trägern höher und daher dürfen diese Patienten nicht mit dem neuen Antikörper behandelt werden.
ARIA verlaufen üblicherweise asymptomatisch, sie können aber auch schwerwiegende und lebensbedrohliche Ereignisse auslösen. Unterschieden werden ARIA mit Ödem (ARIA-E), welche sich im MRT als Hirnödem oder Flüssigkeitsansammlungen im Bereich der Hirnfurchen (Sulci) darstellen, und ARIA mit Hämosiderinablagerung (ARIA-H), was Mikroblutungen und superfizielle Siderose umfasst. Die Konsequenz: Vor dem Therapiestart muss zur Beurteilung auf vorbestehende ARIA ein aktuelles (nicht älter als sechs Monate) MRT des Gehirns vorliegen.
MRT-Untersuchungen stehen auch vor der 3., 5., 7. und 14. Dosis des Antikörpers an. Die empfohlenen MRT-Untersuchungen sollten regelhaft ungefähr eine Woche vor der nächsten geplanten Verabreichung der Leqembi-Infusion durchgeführt und befundet werden.
Weist der Patient zu irgendeinem Zeitpunkt während der Behandlung Symptome auf, die auf das Vorhandensein von ARIA hindeuten, können zusätzliche MRT-Untersuchungen durchgeführt werden. Auf der Grundlage der Ergebnisse dieser Untersuchungen kann der Arzt entscheiden, die Behandlung vorübergehend zu unterbrechen oder ganz zu beenden.
Basis der Zulassung von Lecanemab war die randomisierte Studie Clarity AD, an der 1795 Erwachsene mit früher symptomatischer Alzheimer-Krankheit teilnahmen. Für die EU-Zulassung erfolgte eine Posthoc-Analyse, bei der lediglich ApoE ε4-Nichtträger und heterozygote ApoE ε4-Träger (n = 1521) berücksichtigt wurden.
Für den primären Endpunkt, den CDR-SB-Score (Clinical Dementia Rating – Sum of Boxes), welcher Kognition und Alltagsfunktion bei Patienten anhand verschiedener Domänen abbildet, zeigte sich eine Verlangsamung der Krankheitsprogression um 31 Prozent im Vergleich zur Placebogruppe nach 18 Monaten (Differenz: –0,54 Punkte).
Im sekundären Endpunkt ADAS-Cog14 (Alzheimer’s Disease Assessment Scale Cognitive Subscale 14), der speziell die kognitive Leistungsfähigkeit der Patienten abbildet, kam es zu einer Reduktion der Progression um 26 Prozent (Differenz: –1,51 Punkte). Im sekundären Endpunkt ADCS-MCI-ADL-Score (Alzheimer’s Disease Cooperative Study-Activities of Daily Living), der die Selbstständigkeit der Patienten im Alltag bewertet, kam es zu einer Verlangsamung der Verschlechterung um 33 Prozent (Differenz: +1,94 Punkte).
In einer offenen Verlängerungsphase der Clarity-AD-Studie zeigte sich ein zunehmender Behandlungseffekt bei fortgesetzter Lecanemab-Therapie über 48 Monate im Vergleich zu gematchten Kontrollgruppen.
Lecanemab wird einmal alle zwei Wochen intravenös über eine Stunde infundiert. Die empfohlene Dosis sind 10 mg/kg Körpergewicht. Eine Anpassung bei leichter bis mittelschwerer Leber- oder Nierenfunktionsstörung ist nicht erforderlich. Eine Überwachung auf Anzeichen infusionsbedingter Reaktionen für circa 2,5 Stunden sollte nach der ersten Infusion erfolgen.
Der Arzt sollte die kognitiven Funktionen und Symptome des Patienten etwa alle sechs Monate beurteilen, um das Fortschreiten der Erkrankung zu überwachen. Die Behandlung sollte abgebrochen werden, sobald der Patient das Stadium eine mittelschweren Alzheimer-Krankheit erreicht hat.
Leqembi darf bei Personen mit Blutungsstörungen, die nicht adäquat kontrolliert sind, nicht zum Einsatz kommen. Ferner ist die Anwendung tabu, wenn bei der MRT-Untersuchung vor der Behandlung eine intrazerebrale Blutung, mehr als vier Mikroblutungen, oberflächliche Siderose, vasogenes Ödem oder andere Befunde auftreten, die auf eine zerebrale Amyloidangiopathie hinweisen können. Kontraindiziert ist die Einleitung der Antikörper-Therapie auch bei Personen, die eine laufende Behandlung mit Antikoagulanzien erhalten.
In der Fachinformation heißt es ferner: Wenn eine Antikoagulation während der Therapie mit Lecanemab begonnen werden muss, ist die Behandlung mit dem Antikörper zu unterbrechen. Sie kann wieder aufgenommen werden, wenn eine Antikoagulation nicht mehr medizinisch angezeigt ist. Die gleichzeitige Anwendung von Acetylsalicylsäure (ASS) oder anderen Thrombozytenaggregationshemmern ist zulässig. Im Zusammenhang mit der Anwendung von Thrombozytenaggregationshemmern sei kein erhöhtes Risiko für ARIA oder intrazerebrale Blutungen beobachtet worden.
Zu den sehr häufigen Nebenwirkungen von Lecanemab zählen neben ARIA auch Kopfschmerz und infusionsbedingte Reaktionen.
Zur Förderung der sicheren und wirksamen Anwendung von Lecanemab muss die Einleitung der Behandlung bei allen Patienten über ein zentrales Registrierungssystem erfolgen, das im Rahmen eines Programms für den kontrollierten Zugang implementiert wird. Mit Lecanemab behandelte Patienten müssen zudem eine Patientenkarte erhalten und über die Risiken der Therapie informiert werden.
Leqembi muss im Kühlschrank bei 2 bis 8 °C aufbewahrt werden.
Lecanemab darf vorläufig bei den Sprunginnovationen eingruppiert werden. Es ist kein Wundermittel und kann die Alzheimer-Erkrankung nicht heilen. Aber der Antikörper ist die erste verlaufsmodifizierende Therapie, die es auf den deutschen Markt geschafft hat. Die bereits verfügbaren Acteylcholinesterase-Hemmer und Memantin wirken rein symptomatisch.
Wegen der sehr eng gefassten Indikation kommt nur ein geringer Teil von Patienten für die Therapie mit Lecanemab infrage – in Deutschland ist es vielleicht eine kleine fünfstellige Zahl. Das sind nicht viele, aber wenn diese Patienten rechtzeitig gefunden werden, dürfen sie tatsächlich einen Erfolg erwarten.
Patienten, die mit Lecanemab behandelt werden, verweilen länger in frühen Krankheitsstadien – mit zunehmender Stärke des Behandlungseffekts im Zeitverlauf. Innerhalb von 18 Monaten ist ein »Gewinn« von etwa sechs Monaten zu erwarten, der sich bei einer vierjährigen Therapie auf zwölf Monate verlängern kann. Auch auf die Lebensqualität der Betroffenen wirkt sich die Therapie positiv aus, was betreuende Personen entlastet.
Wichtig ist, dass der neue Antikörper möglichst nur von Ärzten eingesetzt wird, die viel Erfahrung mit der Alzheimer-Behandlung haben. Denn vor und unter der Therapie gibt es eine Menge zu prüfen – vom ApoE ε4-Status über regelmäßige MRT-Untersuchungen und deren Auswertung (Stichwort: ARIA) bis hin zur Kontraindikation Antikoagulation. Gerade erst gab es einen Rote-Hand-Brief zu dem Wirkstoff, der am Anfang der Therapie noch eine weitere MRT-Untersuchung vorschreibt. Das ist auch sinnvoll, denn ARIA sind vor allem ein Phänomen der ersten Monate.
Es gilt zukünftig sicher auch, weiter zu lernen, etwa ob Frauen möglicherweise weniger von Lecanemab profitieren als Männer. Eine Post-hoc-Auswertung, die zu diesem Ergebnis kam, ist ein Hinweis, aber kein Beweis. Wichtig sind daher nun Registerstudien, nicht nur zu möglichen Gender-Effekten.
Spannend wird sein, wie der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) den Zusatznutzen von Lecanemab einstuft. Den Beschluss erwartet der Hersteller im ersten Quartal 2026. Aus pharmazeutischer Sicht kann man sagen, dass Lecanemab sicher keinen Wow-Effekt hervorruft, aber ein Anfang geschafft ist. Mit Donanemab wird aller Voraussicht nach demnächst ein weiterer ähnlicher Antikörper auf den deutschen Markt kommen. Es ist zu hoffen, dass künftige Generationen von Wirkstoffen mit noch besseren Effekten folgen werden. Gegebenenfalls nehmen auch Therapien, die vor allem auf das Tau-Protein abzielen, an Fahrt auf.
Sven Siebenand, Chefredakteur