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Prägung und Erziehung

Kultur beeinflusst Schmerzerlebnis

Die Bewertung eines Schmerzes fällt sehr individuell aus. Welche Kultur wie mit Schmerz umgeht und was Heilberufler wissen sollten, erläutert der Schmerzexperte Dr. Patric Bialas im Gespräch mit der PZ.
Jennifer Evans
24.05.2022  07:00 Uhr

Grundsätzlich ist die Beschreibung und Einschätzung von Schmerzen zwar sehr individuell, variiert aber auch je nach Kulturkreis. Einige Menschen schildern Schmerzempfindungen emotional und expressiv, andere hingegen eher distanziert und scheinbar emotionslos, berichtet Dr. Patric Bialas, Leiter des Fachbereichs Schmerzmedizin am Universitätsklinikum des Saarlandes. Es gehe um weitaus mehr als einen bloßen »physiologischen Nervenimpuls«, betont er und weist in diesem Zusammenhang auf eine wichtige begriffliche Unterscheidung hin. Während das Schmerzempfinden, also die eigentliche Reizweiterleitung, in allen Kulturen gleich ist, unterscheiden sich hingegen Schmerzschwelle und Schmerztoleranz.

Welche Bedeutung Schmerz für ein Individuum hat, ist zum Teil unabhängig von physiologischen Vorgängen und geprägt durch Erziehung oder Beobachtung von Familie und anderen Bezugspersonen. Wie haben sie sich bei Schmerz verhalten, welche Ratschläge gaben sie? Außerdem kommen bei der Schmerzäußerung gesellschaftliche Normen und Werte ins Spiel. Als Schmerzverstärker können zudem Emotionen wie Schuld, Furcht, Zorn, Trauer oder Niedergeschlagenheit wirken.

Damit nicht genug: Meist beeinflusst dem Facharzt für Anästhesiologie zufolge auch die Situation, in der ein Schmerz wahrgenommen wird, das Erleben dessen sowie die unterschiedlichen Medizin- und Heilsystemvorstellung eines Kulturkreises.

Missversändnisse durch Falschinterpretation

Bezugnehmend auf Beispiele, unter anderem aus diversen wissenschaftlichen Beiträgen des Humanethnologen Professor Dr. Wulf Schiefenhövel, erläutert Bialas, welche Tendenzen bei verschiedenen Kulturen zu beobachten sind. Naturvölker wie die Eipo in Westneuguinea etwa könnten sehr gut Schmerzen tolerieren, solange sie die Ursache dafür kennen würden, berichtet er. Andernfalls entwickelten sie Ängste, Depressionen, Traurigkeit sowie eine sinkende Schmerztoleranz.

Die Beziehung zwischen Krankheit und Symptom in der jeweiligen Kultur zu kennen, zahlt sich für Heilberufler im Alltag aus. So unterscheidet die türkische Landbevölkerung nach Angaben des Mediziners nicht zwischen Körper und Seele, während Patienten aus dem Orient hingegen soziale Ursachen für körperliche Probleme ablehnen. »Aus der Gruppe ausgegrenzt zu sein wiegt schwerer als das eigentliche Symptom«, begründet er und warnt gleichzeitig davor, dass dieser Umstand bei der Behandlung schnell zu Missverständnissen führen und eine medikamentöse Therapie in die falsche Richtung lenken könne.

Fehlinterpretationen entstehen darüber hinaus durch Wortwahl und Ausdrucksform rund um das Schmerzerlebnis, wie Bialas mit Blick auf Publikationen des Medizinhistorikers Dr. Norbert Kohnen zur Schmerzwahrnehmung fremder Kulturen berichtet. So fällt es dem Nordeuropäer nach Bialas Angaben, generell schwerer, Klagen zu ertragen. Die Iren ziehen sich eher zurück, da sie es für nicht angebracht erachten, Schmerzen zu äußern. US-Amerikaner dagegen gehen frühzeitig zum Arzt und schildern ihm ohne größere Emotionen die Beschwerden, damit er sie schnell und rational behandeln kann.

Im Gegensatz dazu äußern Menschen aus südlichen Ländern ihre Schmerzen häufig sehr ausdrucksstark, damit ihnen familiäre Zuwendung zuteil wird. Philippinische Patienten neigen dazu, ihr Leid zu ertragen und fügen sich dem Schicksal. Die Ausdruckformen von Schmerz verleiteten westlich denkende Heilberufler zuweilen dazu anzunehmen, dass das gezeigte Beschwerdebild eher übertrieben sei und unterschätzten unter Umständen den tatsächlichen Zustand, gibt Bialas zu Bedenken.

In Italien oder besonders in ländlichen Regionen der Türkei gelte es, schwierige Lebenssituationen gemeinsam mit der Familie zu meistern. »Der eigene Schmerz und das persönliche Leiden müssen zugelassen und gezeigt werden, sodass die Familie darauf reagieren kann«, sagt er. Auf der anderen Seite bewältigten protestantische Nordamerikaner britischer oder nordeuropäischer Herkunft ihren Schmerz meist rational, indem sie sich einem Arzt anvertrauten. Menschen auf den Philippinen dagegen erduldeten ihre Schmerzen und seien dabei eher schicksalsgläubig.

Es zeigt sich, dass Sender und Empfänger im wahrsten Sinne oft verschiedene Sprachen sprechen. Während die Nachkriegsgeneration in Westeuropa ihre Befindlichkeiten meist zu unterdrücken versucht, neigen dem Schmerzexperten zufolge die Menschen im Mittelmeerraum und Nahen Osten eher dazu, ihrem Unwohlsein expressiv etwa durch Wehklagen, Schreien oder Weinen Ausdruck zu verleihen.

Toleranz durch Wertschätzung

Bialas fordert mehr Toleranz sowie transkulturelle Kompetenz in unserer Gesellschaft. Das gelingt seiner Ansicht nach jedoch nur, wenn die Heilberufler selbst ihrem Berufsnachwuchs schon die entsprechende Aufmerksamkeit und Wertschätzung für die Kultur des Patienten vorleben. »Wir haben eine Vorbildfunktion«, betont der Schmerzexperte gegenüber der PZ. Er selbst hat gerade einen neuen »Leitfaden Schmerzmedizin« veröffentlicht, in dem er das Thema kulturelle Schmerzaspekte aufgreift.

Zudem sollten junge Ärzte und Ärztinnen in seinen Augen künftig stärker reflektieren, warum eine Therapie womöglich zunächst nicht funktioniert. Umkehrt müsse sich aber auch der Patient auf die kulturelle Veränderung einlassen, hebt Bialas hervor.

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