»Konjunktur-Luftschloss« im Koalitionsvertrag |
Lukas Brockfeld |
24.04.2025 09:00 Uhr |
Die Spitzen von Union und SPD bei der Vorstellung ihres Koalitionsvertrags. / © IMAGO/Frank Ossenbrink
Das deutsche Gesundheitssystem wird dank des demografischen Wandels sowie steigender Personal- und Behandlungskosten immer teurer. Allein im vergangenen Jahr verzeichnete die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) ein Defizit von mehr als sechs Milliarden Euro. Die meisten Krankenkassen haben ihre Zusatzbeiträge daher zum Jahreswechsel deutlich erhöht. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass diese Beitragssteigerungen nicht ausreichen werden, um das Gesundheitssystem nachhaltig zu finanzieren. Nach Berechnungen des privatwirtschaftlichen Forschungsinstituts IGES könnte die Gesamtbelastung der Bürger durch Sozialversicherungsbeiträge in zehn Jahren bei knapp 49 Prozent liegen.
Die wahrscheinliche künftige schwarz-rote Koalition konnte sich bisher nicht auf konkrete Maßnahmen zur Stabilisierung der GKV-Finanzen verständigen. Im Koalitionsvertrag heißt es lediglich, dass man die Einnahmen der GKV durch ein höheres Beschäftigungsniveau vergrößern und die Kosten auf der Ausgabenseite reduzieren möchte. Zusätzlich soll eine Expertengruppe zur Entwicklung möglicher Maßnahmen ins Leben gerufen werden, erste Ergebnisse dürften allerdings nicht vor 2027 vorliegen.
Im Interview mit der PZ sagte der als künftiger Gesundheitsminister gehandelte CDU Politiker Tino Sorge, dass es auch darauf ankomme, durch neues Wirtschaftswachstum neue Einnahmen für die GKV zu generieren. »Gelingt 100.000 Bürgergeld-Empfängern der Wechsel in einen sozialversicherungspflichtigen Job, bringt uns das bis zu drei Milliarden Euro. Eine starke Wirtschaft ist das Fundament für einen starken Sozialstaat«, erklärte der Christdemokrat.
Die Pläne der Koalition wurden vielfach als unzureichend kritisiert. Jetzt meldet sich auch der Dachverband der Betriebskrankenkassen (BKK) zu Wort. »CDU/CSU und SPD malen in ihrem Koalitionsvertrag ein Konjunktur-Luftschloss, das die galoppierenden Ausgaben und Sozialversicherungsbeiträge völlig negiert. Doch in den 4588 Zeilen des Koalitionsvertrages tauchen die Begriffe Lohnnebenkosten und Sozialabgaben kein einziges Mal auf«, klagt Franz Knieps, Vorstandsvorsitzender des BKK Dachverbandes, in einer Pressemitteilung.
Die künftige Regierung müsse angesichts des Milliardendefizits dringend handeln und sich zu wirksamen Maßnahmen durchringen. »Ein Wegducken würde sich ebenso rächen wie eine weltpolitisch kaum einzuhaltende Wette auf ein anhaltend hohes Beschäftigungsniveau mit sprudelnden Einnahmen für die GKV«, so Knieps.
Außerdem sei nicht davon auszugehen, dass höhere Beschäftigungszahlen zu deutlich höheren GKV-Einnahmen führen. »Im vergangenen Jahr waren so viele Menschen hierzulande in Lohn und Brot wie seit 1990 nicht mehr, und dennoch hat die Ausgabendynamik in der GKV sämtliche Einnahmezuwächse aufgefressen. So schnell wie die Ausgaben derzeit steigen, können wir die Menschen gar nicht in Arbeit bringen, damit diese wackelige Gleichung der Koalitionäre aufgeht«, klagt der Vorstandsvorsitzende des BKK Dachverbandes.
Die schon jetzt sehr hohen Sozialabgaben seien außerdem eine Belastung für die Unternehmen und die gesamte Wirtschaft. »Deutsche Unternehmen fürchten zu hohe Arbeitskosten. Im verarbeitenden Gewerbe liegt Deutschland bei den Arbeitskosten unter den großen Exportländern bereits weit vorn. Mit jedem Prozentpunkt, um den der Beitragssatz zur Krankenversicherung steigt, müssen Arbeitgebende durchschnittlich 15 Cent mehr pro geleisteter Arbeitsstunde an Arbeitgeberbeiträgen zahlen. Bei rund 61 Milliarden geleisteten Arbeitsstunden in Deutschland im Jahr 2024 kommt da einiges zusammen: insgesamt rund 9,2 Milliarden Euro«, erläutert Franz Knieps.
Anne-Kathrin Klemm, Vorständin des BKK Dachverbandes, klagt, dass die künftige Regierung bereits teure Maßnahmen plane, die die Gesetzliche Krankenversicherung weiter belasten dürften. Als Beispiele nennt sie unter anderem die geplante Erhöhung des Apothekenfixums und die Entbudgetierung von Fachärzten in unterversorgten Regionen.
»Notwendig sind jetzt also eine einnahmenbasierte Ausgabenpolitik und die kurzfristig greifende Steuerfinanzierung versicherungsfremder Leistungen. Dies würde Luft für strukturelle Maßnahmen schaffen, damit Einnahmen und Ausgaben langfristig nicht immer weiter auseinanderdriften«, so Klemm. Zusätzlich müsse der Bundeszuschuss für die Kassen dynamisiert und die Finanzierungsverantwortung für Krankenhausinvestitionen von den Ländern übernommen werden. Für Arzneimittel sowie Heil- und Hilfsmittel solle ein reduzierter Mehrwertsteuersatz gelten. »Mit diesem Maßnahmenpaket könnte die GKV um gut 30 Milliarden Euro jährlich entlastet werden«, schätzt Klemm.