| Lukas Brockfeld |
| 01.03.2024 10:00 Uhr |
Die Überalterung der Gesellschaft wird zum Problem für die Sozialversicherungen. / Foto: IMAGO/Michael Gstettenbauer
Die Deutschen werden immer älter. Für die Sozialversicherungen der Bundesrepublik ist das ein großes Problem, da immer weniger Nettobeitragszahler für immer mehr Leistungsempfänger aufkommen müssen. Ein Gutachten, das von Professor Stefan Fetzer und Professor Christian Hagist im Auftrag der Verbänden »Die Familienunternehmer« und »Die jungen Unternehmer« erstellt wurde, warnt jetzt, dass die Sozialversicherungsbeiträge bis zum Jahr 2050 von derzeit knapp 41 Prozent auf dann mehr als 50 Prozent steigen könnten.
Es sei jedoch nicht davon auszugehen, dass es tatsächlich zu diesem starken Anstieg der Abgabenlast kommt. »Durch die steigenden Beitragssätze würde ein Kipppunkt erreicht, bei dem die junge Generation den Generationenvertrag einseitig aufkündigen und sich entweder in Schwarzarbeit oder Auswanderung verabschieden wird«, warnen die Wissenschaftler. Um einen Zusammenbruch der Sozialversicherungen zu verhindern, seien tiefgreifende Reformen notwendig.
Die Gutachter legen konkrete Vorschläge zur Reform der Gesetzlichen Rentenversicherung (GRV), Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) und der Sozialen Pflegeversicherung (SPV) vor. Dabei geht es um gewaltige Summen. Die Sozialversicherungen kamen im Jahr 2022 zusammengenommen auf Ausgaben von von fast 800 Milliarden Euro. Zum Vergleich: Der Bundeshaushalt lag im selben Jahr bei 496 Milliarden Euro.
Das Gutachten geht davon aus, dass die Ausgaben der GKV in den kommenden Jahrzehnten deutlich steigen werden, ein »weiter so« sei daher langfristig nicht finanzierbar. Die Autoren schlagen deshalb unter anderem eine Kontaktgebühr von 15 Euro vor, die bei jedem Besuch eines ambulanten Arztes, eines Zahnarztes oder der Notaufnahme eines Krankenhauses fällig wird. Im Gegenzug solle die Eigenbeteiligung für Krankenhausaufenthalte wegfallen. Die Professoren gehen davon aus, dass eine solche Gebühr die Patienten zu mehr »Eigenverantwortung« motiviere und zur Vermeidung unnötiger Arztbesuche beitrage. So könnten die Gesetzlichen Krankenversicherungen jährlich etwa 15 Milliarden Euro sparen. Die Idee kommt einem bekannt vor: Bis Ende 2012 gab es bereits eine Praxisgebühr, allerdings fiel diese nur einmal pro Quartal an.
Außerdem wünschen sich die Gutachter eine Effizienzsteigerung durch Digitalisierung. Da diese in Deutschland bisher eher schleppend voran kam, gäbe es hier erhebliches Potenzial. Die Autoren verweisen auf eine McKinsey-Studie aus dem Jahr 2022, die davon ausgeht, dass eine weitgehende Digitalisierung etwa 12 Prozent der Gesamtkosten des Gesundheitssystems einsparen könne. Stefan Fetzer und Christian Hagist halten diese Schätzung für zu optimistisch. Trotzdem könne die Digitalisierung das befürchtete Wachstum der Ausgaben für Verwaltung und medizinische Leistungen deutlich begrenzen.
Außerdem geht das Gutachten davon aus, dass sich die Effizienz des Gesundheitssystems durch mehr Wettbewerb zwischen den Krankenkassen verbessern ließe. Dafür müssten viele Vorschriften liberalisiert und der Spielraum bei Selektivverträgen erhöht werden. Bisher würde ein »Verbändekartell« selektivvertraglich zustande kommende, alternative Versorgungsmodelle verhindert. Durch einen größeren Wettbewerb könne nach Ansicht der Professoren erstmals der Markt die besten Versorgungsmodelle finden.
Keine großen Einsparmöglichkeiten sehen die Gutachter dagegen im Arzneimittelbereich. Hier sei von konstant steigenden Kosten auszugehen. Ursache sei das überproportionale Wachstum der Ausgaben für sehr teure Medikamente. In den kommenden Jahren seien therapeutische Durchbrüche, beispielsweise bei genbasierten Arzneimitteln, zu erwarten, die ebenfalls erhebliche Kosten mit sich bringen dürften. Daher könne den wachsenden Arzneimittelausgaben kaum etwas entgegengesetzt werden, auch wenn die existierenden Sparmöglichkeiten genutzt würden.
Das Gutachten legt außerdem eine Reihe an Reformvorschlägen für die Gesetzlichen Rentenversicherungen und die Soziale Pflegeversicherungen vor. Professor Fetzer und Professor Hagist schlagen beispielsweise eine Erhöhung des Renteneintrittsalters und eine Lockerung der Anlagerichtlinien des Pflegevorsorgefonds vor.
Die vorgeschlagenen Reformen dürften vielen Menschen nicht gefallen. Doch nach Einschätzung der Professoren sind sie notwendig: »Entweder der Generationenvertrag wird neu aufgesetzt und insbesondere die Baby-Boomer-Generationen beteiligen sich noch kurzfristig an den von ihnen maßgeblich verursachten Folgen des demografischen Wandels oder aber die jüngeren Generationen werden den Generationenvertrag einseitig aufkündigen«, heißt es im Fazit des Gutachtens. Ein Kollaps der jetzigen Sozialversicherungssysteme hätte dramatische Folgen für die Gesellschaft, vor allem für die bald in Rente gehenden Baby-Boomer.
Nach Ansicht von Stefan Fetzer und Christian Hagist dürfte eine noch stärkere Belastung der Beitragszahler kaum auf Akzeptanz stoßen. Daher seien Reformen, die entweder Leistungen kürzen oder aber mehr Effizienz in die Systeme bringen, unvermeidlich. Die nächste Legislaturperiode sei der Zeitpunkt der Wahrheit: »Dann muss nicht nur eine Zeitenwende in der Sozialpolitik verkündet, sondern direkt beschlossen und umgesetzt werden – sonst droht die Soziale Marktwirtschaft zu kippen«, heißt es am Ende des Gutachtens.