KI hat viele Daten – aber keine Geistesblitze |
Jennifer Evans |
03.07.2025 14:00 Uhr |
Denken über Disziplinen hinweg: Kreativität hat verschiedene Stufen. An der Spitze steht nicht die KI, sondern der Mensch. / © Adobe Stock/mirifadapt
Kreativität kommt nicht nur in der Kunst vor, sondern ist das Herzstück naturwissenschaftlicher, technischer und mathematischer Durchbrüche. Das hebt Julio M. Ottino, Professor für Chemie- und Bioingenieurwesen an der Northwestern University im US-Staat Illinois, in einem Beitrag des Fachblatts JAMA hervor. Doch können computergestützte Werkzeuge und künstliche Intelligenz da mithalten?
Kreative Revolutionen entstehen oft dort, wo sich Denkweisen überschneiden, vermischen oder auf überraschende Weise neu kombinieren lassen. Ottino plädiert für eine systemübergreifende Sichtweise auf Kreativität. Denn ihr größtes Potenzial liegt seiner Ansicht nach in der Grenzüberschreitung.
Messbar wird der Einfallsreichtum durch das sogenannte »Break-with«, was er als das höchste Niveau von Kreativität bezeichnet, weil es Paradigmen ablöst. Diese Art von Innovation unterscheidet sich laut Ottino deutlich von der kombinatorischen Kreativität, wie sie viele KI-Modelle zeigen. Diese puzzeln nämlich nur aus bereits bestehenden Elementen neue Lösungen zusammen, schaffen aber selten etwas radikal Neues.
Transformative Kreativität dagegen führt zu völlig neuen Rahmenbedingungen. Und noch jenseits davon liegt dem Autor zufolge der »Break-with«, der einen solchen konzeptionellen Fortschritt bedeutet, dass er bisherige Weltanschauungen vollständig auf den Kopf stellt. Als Beispiele dafür nennt er etwa die Quantenmechanik in der Physik oder den Kubismus in der bildenden Kunst.
Obwohl KI sich durch kombinatorische Kreativität auszeichne, falle es großen Sprachmodellen schwer, transformativ kreativ zu sein. Noch dazu begrenzten ihre Trainingsdaten die Möglichkeit, Lösungen zu finden, die einen echten Bruch mit der Vergangenheit darstellten.
Um zu erklären, was er meint, führt Ottino eine Reihe historischer Persönlichkeiten an und zeigt, wie etwa der Astrophysiker Galileo Galilei, der Mathematiker Jules Henri Poincaré oder der Physiker Niels Bohr Wissenschaft mit Kunst verknüpften und auf diese Weise völlig neue Perspektiven entwickelten.
Auch Louis Pasteur hatte Talent für Kunst, schuf Dutzende von Porträts seiner Familie und Freunde mit Pastellfarben, Kohle und vor allem Lithografien. Im Alter von 20 Jahren verschob sich allerdings seine Leidenschaft hin zur Wissenschaft. Doch weiterhin bebilderte er gern selbst eigene Publikationen. Und an der École des Beaux-Arts unterrichtete er, wie Chemie in der bildenden Kunst eingesetzt werden kann.
Diese Vorlieben sensibilisierten ihn möglicherweise für die Entdeckung der Chiralität, meint Ottino. Also jene Eigenschaft von Molekülen, sich nicht durch Rotation oder Translation mit dem Spiegelbild zur Deckung bringen zu lassen, wie die menschlichen Hände. Pasteurs Arbeit mit Spiegelbildern in der Lithografie könnte für diese Entdeckung von entscheidender Bedeutung gewesen sein, weil er ein grundsätzliches Gespür dafür hatte. Das zeigt, wie eng Wahrnehmung, Visualisierung und wissenschaftliche Erkenntnis verwoben sind.
Und was ist mit der KI? Die bleibt in den Augen des Autors gefangen im Käfig ihrer Trainingsdaten. Solange Maschinen keine echten Paradigmenwechsel vollziehen können, sei die Poleposition in Sachen Kreativität weithin vom Menschen besetzt, so der Wissenschaftler. Doch er räumt den digitalen Assistenten auch was Positives ein. Sie animierten uns dazu, bessere Fragen zu stellen. Und das wiederum setze unser kreatives Potenzial frei.