»Kein Entweder-oder« |
Das Hilfswerk action medeor hat Niederlassungen in Tansania und Malawi. Hier führen Mitarbeiter regelmäßig Qualitätskontrollen bei den lokal bevorrateten Medikamenten durch. / Foto: action medeor/B. Breuer
»In vielen ärmeren Ländern der Welt konnte die Behandlung anderer Krankheiten wegen der Corona-Pandemie nicht fortgeführt werden«, sagte Sid Peruvemba, Vorstandssprecher des Medikamentenhilfswerks action medeor anlässlich einer Studie der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die die Ausfälle der weltweiten Gesundheitsversorgung seit Pandemie-Ausbruch untersuchte. Betroffen sind schwere Krankheiten wie Krebs ebenso wie die Notversorgung von Patienten mit Blutkonserven.
Allein an den »großen Drei« Malaria, Tuberkulose und HIV/Aids sterben weltweit rund 2,6 Millionen Menschen. Die Behandlung dieser Krankheiten ist nach Angaben der WHO um bis zu 46 Prozent eingebrochen. Weil die Logistikketten unterbrochen sind und Medikamente und Schutzausrüstungen fehlen, gibt es weniger Impfungen, Malarianetze, HIV- und Tuberkulose-Medikamente. Auch der Hunger breitet sich wieder stärker aus, vor allem Kinder sind gefährdet. In Afrika erzeugt der Lockdown große wirtschaftliche Not, auch wenn das Virus selbst in den meisten Ländern dort bis jetzt nicht so viele Opfer gefordert hat wie viele Experten anfangs befürchteten.
Seit mehr als 50 Jahren trägt das spendenfinanzierte Hilfswerk action medeor in vielen Ländern der Erde dazu bei, die Gesundheit von Menschen zu verbessern – mit dringend benötigten Medikamenten in der Not- und Katastrophenhilfe, langfristig angelegten Projekten zur nachhaltigen Stärkung der Gesundheitsstrukturen vor Ort sowie pharmazeutischer Fortbildung. Im Lager des Medikamentenhilfswerks mit Hauptsitz im niederrheinischen Tönisvorst werden auf 4000 Quadratmetern etwa 170 verschiedene Medikamente und rund 560 medizinische Bedarfsartikel und Geräte bevorratet. 2019 wurden fast 15.000 Pakete mit einem Gesamtgewicht von mehr als 500 Tonnen in 101 Länder verschickt, vor allem in Afrika, Lateinamerika und Asien.
2019 hat das Medikamentenhilfswerk 14.700 Pakete in mehr als 100 Länder verschickt. / Foto: Foto: action medeor/J. Scheffler
In diesem Jahr aber war Vieles anders. »Die schon fertig gepackten Lieferungen für die Medikamentenhilfe gingen ab März nicht mehr hinaus und die dringend benötigten Schutzausrüstungen und Arzneimittel unserer Lieferanten kamen aufgrund des komplett gestoppten Waren- und Personenverkehrs nicht mehr herein«, so der Pressesprecher von action medeor, Dr. Markus Bremers, im Gespräch mit der PZ. Dieser Engpass war zwar auf rund zehn Wochen begrenzt, aber bei 100 Prozent des Warenverkehrs sei man auch heute nicht. Immer noch gingen weniger Flüge, die außerdem jetzt teurer seien als vor der Pandemie. Das treibt die Transportkosten in die Höhe. Geblieben ist ein gutes Spendenaufkommen, das sich trotz Krise um nur knapp 7 Prozent verringert hat. »Die Pandemie hat auch Menschen hierzulande gezeigt, wie es sich anfühlen kann, wenn einem das bestehende Gesundheitssystem eventuell nicht mehr helfen kann, weil es an seine Grenzen stößt. Und dass man womöglich ein Existenzproblem bekommt, wenn man krank wird. Für viele Menschen in ärmeren Ländern ist das ein Leben lang die Realität«, so Bremers.
2019 erhielt action medeor 7,7 Millionen Euro an freien und gebundenen Spenden, 0,9 Millionen Euro entfielen auf Sachspenden und 3,9 Millionen Euro waren Fördermittel, die meisten vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) und dem Auswärtigen Amt (AA). »Wichtiger Bestandteil der Medikamentenhilfe sind Schmerzmittel und Antibiotika«, sagt die Pharmazeutin Dr. Irmgard Buchkremer, die unter anderem für die Qualitätssicherung von Arzneimitteln und die Auditierung der Herstellerfirmen in Asien und Europa bei action medeor zuständig ist. Außer zur Akuttherapie nehme aber auch der Bedarf an Medikamenten zur Behandlung chronischer Krankheiten zu, zum Beispiel Diabetes, Hypertonie oder Depressionen. Zurückzuführen sei das auf die zunehmend langjährige Versorgung von Menschen in Dauerkrisengebieten, beispielsweise dem Jemen.
Wie die meisten Player am Pharmamarkt, bezieht auch das Hilfswerk seine Arzneimittel für die Medikamentenhilfe überwiegend aus China und Indien. Einige werden in Tansania produziert, wo action medeor, ebenso wie in Malawi, weitere Niederlassungen unterhält. So können Gesundheitsstationen in den Regionen schnell und kostengünstig mit Medikamenten und pharmazeutischem Know-how versorgt werden. »Da, wo wir die Gesundheitssysteme lokal unterstützen können, tun wir es auch«, erklärt Bremers. Der Ausbruch der Pandemie habe diesen Weg noch beschleunigt.
Aber auch wenn mittlerweile annähernd so viele Arzneimittelpakete Tönisvorst verlassen wie vor dem Pandemie-Ausbruch, hakt es an anderen Stellen. »Wir können noch nicht reisen und das hat Folgen für die Projektarbeit und die pharmazeutische Fachberatung vor Ort«, so Bremers.
Super Noten: Die Pharmaziestudentin Wema Aswile aus Dar es Salam will im Anschluss an den Master noch ihren Doktor machen. / Foto: Foto: action medeor
2019 wurden in der pharmazeutischen Fachberatung unter anderem Projekte wie GMP-Schulungen in Nepal und Ghana durchgeführt, außerdem die Weiterbildung von medizinisch-pharmazeutischem Fachpersonal und die Ausbildung von Studenten gefördert – immer mit dem Ziel, den lokalen Zugang zu sicheren Medikamenten und die Lebensqualität langfristig zu verbessern. Die 25-jährige Wema Aswile aus Dar es Salam erhielt Anfang des Jahres ein Stipendium der action-medeor-Stiftung für einen Masterstudiengang der Pharmazie an der Muhimbili-Universität in Tansania. Apotheker werden in dem südostafrikanischen Land dringend gesucht, denn hier versorgen weniger als drei Pharmazeuten rund 100.000 Einwohner. In Deutschland liegt diese Zahl bei über 70.
Die laufende Projektarbeit, Schulungen und Beratungen der Partner in den Entwicklungsländern hat sich durch den Ausbruch von Covid-19 bis auf Weiteres auch bei action medeor schwerpunktmäßig ins Netz verlagert. Die pharmazeutischen Trainings und Förderungen der Studierenden in Tansania erfolgen digital, ebenso die Schulungen von Lehrpersonal und die Kooperation mit Aufsichtsbehörden. Bei vielen Gesundheitsprojekten hat die Aufklärung über erforderliche Hygienemaßnahmen oberste Priorität.
Dass die meisten Staaten Afrikas bis jetzt von einer hohen Covid-19-Mortalitätsrate verschont blieben, wirft Fragen auf. Ein wesentlicher Grund scheint die deutlich jüngere Bevölkerung im Vergleich zu westlichen Industrienationen zu sein. Die schweren Verläufe der Krankheit sind bei jüngeren Menschen seltener. Zudem haben die im Umgang mit Epidemien wie Ebola oder Lassafieber erfahrenen afrikanischen Staaten sehr schnell mit einem Lockdown des öffentlichen Lebens reagiert.
»Was uns in der Logistik Schwierigkeiten gemacht hat, trug vielleicht dazu bei, dass sich das Virus in Afrika bisher nicht so ausbreiten konnte«, vermutet Bremers. Auch ein weiterer Grund für das Ausbleiben der ganz großen Katastrophe wird diskutiert. Menschen in Entwicklungsländern müssen sich ihr Leben lang mit einer Vielzahl von Krankheitserregern auseinandersetzen, was vermutlich zu einem gut trainierten und abwehrstarken Immunsystem führt. Hinzu kommt die im Vergleich zu Industriestaaten deutlich geringer ausgebaute Infrastruktur. Afrikanische Gesellschaften sind weniger mobil als hierzulande und bei einem sogenannten Infektionshotspot werden die Keime einfach weniger verteilt.
Aber auch wenn die Menschen in Afrika weniger an einer Covid-19-Erkrankung direkt versterben, viele Tausend finden den Tod durch die indirekten Folgen des Virus. Weil in den vergangenen Monaten keine Impf- und Präventionsprogramme durchgeführt wurden, Schutzausrüstungen und Medikamente fehlten oder viele Menschen sich aus Angst vor Ansteckung und mangels Aufklärung nicht trauten, in die örtlichen Krankenstationen zu gehen, um Krankheiten wie Tuberkulose, Malaria oder HIV/Aids behandeln zu lassen. Laut Peruvemba zeigt die Pandemie zweierlei: dass es zwischen Corona-Schutz und der Behandlung anderer Erkrankungen kein Entweder-oder geben dürfe. »Und dass die Stärkung der örtlichen Gesundheitssysteme die Zukunftsaufgabe ist.«