Inverse Impfung gegen Autoimmunerkrankungen |
Theo Dingermann |
13.09.2023 12:00 Uhr |
An einer »umgekehrten Impfung«, die Immunreaktionen gegen bestimmte Strukturen löscht statt auslöst, arbeiten Forschende in Chicago. / Foto: Adobe Stock/weyo
Impfen dient dem Schutz vor Infektionen durch ein spezifisches Training des Immunsystems. Allerdings erschöpft sich das Immunsystem nicht in der Abwehr bedrohlicher Fremdmoleküle. Denn gleichermaßen muss es sicherstellen, dass harmlose und körpereigene Moleküle toleriert werden.
Ein Mechanismus, der verhindert, dass das adaptive Immunsystem in unangemessener Weise gegen harmlose Fremdantigene, kommensale Mikroben oder periphere Gewebeantigene anspringt, wird als peripheres Toleranzsystem bezeichnet. Dieses adressieren Forschende um Andrew C. Tremain und Dr. Rachel P. Wallace von der Pritzker School for Molecular Engineering an der University of Chicago in einer Publikation, die jetzt in »Nature Biomedical Engineering« erschien. Das System besteht darin, dass in der Leber unschädliche Partikel mit dem Label »harmlos« gekennzeichnet werden, sodass sie vom Immunsystem ignoriert werden. Ein solches Label ist zum Beispiel das Anheften des Zuckers N-Acetyl-Galactosamin (pGal), ein Derivat der Galactose.
Dieses System nutzten die Forschenden für eine sogenannte inverse Immunisierung. Das Prinzip dahinter: Alle Moleküle, die ein »Harmlos«-Label tragen, werden vom Immunsystem nicht angegriffen. Daher koppelte das Team um Tremain pGal an körpereigene Antigene, die bei Autoimmunreaktionen fälschlicherweise angegriffen werden.
Durch »Impfen« mit so markierten Proteinfragmenten, gelang es dem Team, in einem Mausmodell für die Multiple Sklerose (MS) Toleranz gegen die Autoimmunreaktionen zu induzieren und den Krankheitsverlauf zu stoppen. Auch in nicht humanen Primaten testeten die Forschenden ihren Ansatz zur Induktion von Toleranz erfolgreich.
Bereits in früheren Arbeiten hatten Forschende aus der Gruppe von Professor Dr. Jeffrey A. Hubbell, dem Seniorautor der Publikation, gezeigt, dass Antigene durch die Konjugation mit einem Glykopolymer, das in der Seitenkette einen pGal-Rest enthält, bei intravenöser Verabreichung gezielt von hepatischen antigenpräsentierenden Zellen aufgenommen werden, was eine T-Zell-vermittelte Antigentoleranz induziert.
In der aktuellen Arbeit verwendeten die Forschenden ein Mausmodell der sogenannten experimentellen Autoimmunenzephalomyelitis (EAE), einem etablierten Modell für MS. Ähnlich wie bei MS des Menschen kommt es hier zu Autoimmunreaktionen, die sich gegen Myelinpeptide richten und so die Myelinschicht der Nervenzellen angreifen. Zur Induktion von Toleranz impften die Forschenden solchen Mäusen ein mit pGal konjugiertes Peptid, das aus den Aminosäuren 18 bis 62 des Myelin-Oligodendrozyten-Glykoproteins besteht (pGal-MOG18-62). Dieses Peptid enthält das für das System relevante immundominante MOG35-55-Epitop, das bei den Tieren zur Krankheitsinduktion verwendet wird.
Die Tiere, die an den Tagen 0, 3 und 6 nach der experimentellen Induktion der EAE mit pGal-MOG18-62 behandelt wurden, zeigten einen vollständigen Schutz vor der Krankheit. Mindestens zwei Dosen des Peptids waren hierfür erforderlich.
Um zu testen, ob eine pGal-Antigen-Behandlung auch nach dem Ausbruch der Krankheit eine Toleranz induzieren kann, wurden Tiere an den Tagen 5 und 7 nach der Krankheitsinduktion behandelt. Dabei zeigten die Tiere, die nach fünf Tagen immunisiert wurden, eine sehr niedrige Krankheitsaktivität. Tiere, die ab Tag 7 behandelt wurden, zeigten eine deutliche Verringerung der Krankheitsaktivität über den Krankheitsverlauf und einen signifikant niedrigeren klinischen Score am Endpunkt der Studie im Vergleich zu unbehandelten Tieren.
Auch in einem Mausmodell für die schubförmig remittierende Multiple Sklerose (RRMS) konnte eine Behandlung mit einem pGal-Peptid einen Rückfall verhindern und die motorischen Funktionen der Tiere für den Rest der 50-tägigen Studie aufrechterhalten.