Titel
Bei vielen Patienten wird die Nahrungsaufnahme zum Problem.
Einerseits kann die Erkrankung selbst zu Appetitlosigkeit und einem
veränderten Geschmacksempfinden führen, so daß die Freude am Essen
schwindet. Andererseits können bestimmte Krankheiten den Patienten
daran hindern, normal zu schlucken. Neurologische Kau- und
Schluckstörungen wie nach apoplektischem Insult, Stenosen im
Kopf-Hals-Bereich oder Bewußtlosigkeit bei Intensivpatienten machen eine
normale Ernährung unmöglich. Eine weitere Gruppe von Patienten darf sich
gar nicht herkömmlich ernähren, wenn beispielsweise ein Morbus Crohn
gerade frisch operiert wurde. All diesen Menschen droht eine
Mangelernährung.
Egal ob essentielle Nährstoffe fehlen oder der Patient Gewicht verloren hat, jede Art
der Mangelernährung beeinflußt den Krankheitsverlauf negativ.
Mangelerscheinungen führen häufig zu Komplikationen bei der Wundheilung wie
Dekubitus und zu Störungen der Infektabwehr wie Pneumonie. Deshalb gilt es, den
Patienten erst gar nicht in eine Mangelsituation geraten zu lassen. Denn es ist leichter,
einen gewissen Status zu erhalten als den Verlust wieder auszugleichen. Künstliche
Ernährung hilft aus diesem Dilemma.
Künstliche Ernährung kann auf unterschiedliche Weise zugeführt werden. Enterale
Ernährung wird entweder getrunken oder über eine Sonde appliziert, das heißt, der
Gastrointestinaltrakt muß in jedem Fall intakt sein. Weil der Magen-Darm-Trakt
selbst noch Verdauungsleistung erbringen muß, werden physiologische
Regelmechanismen des Körpers aufrechterhalten. Dadurch erhält man die
Darmmukosa als natürliche Bakterienschranke. Bei der parenteralen Applikation
erhält der Betroffene seine Nahrung über einen zentral- oder periphervenös gelegten
Katheter. Weil die Verdauungsleistung des Gastrointestinaltrakts ganz entfällt,
müssen alle Substrate in Form ihrer kleinsten Bausteine vorliegen.
Enterale Ernährung stärkt die Abwehrkräfte
Der Gastrointestinaltrakt ist nicht nur für die Digestion und Resorption von
Nahrungssubstraten zuständig, er ist auch immunologisch, hormonell und
bakteriologisch aktiv. Man nimmt an, daß enteral zugeführte Nahrung die
Mukosabarriere schützt, eine bakterielle Translokation verhindert sowie para- und
endokrine Regulationsmechanismen beeinflußt.
Streßulzera sind typische intensivmedizinische Komplikationen. Neben Antacida
oder H2-Blockern schützt eine enterale Ernährung die Schleimhaut und verhütet
dadurch ein Geschwür. Welche Mechanismen dieser Beobachtung allerdings
zugrunde liegen, ist noch nicht abschließend geklärt. Tatsache ist, daß es durch die
enterale Nährstoffzufuhr sowohl im Antrum als auch im Duodenum zu einer
Rezeptorstimulation kommt, über die wiederum neurohumorale Reflexe initiiert
werden. Dadurch werden die gastrale Motilität und Säureproduktion reguliert und
die Mukosa geschützt. Sehr wichtig scheinen auch ein adäquater intestinaler Blutfluß
und ein normaler metabolischer Zustand der Magenmukosa zu sein.
Unter einer bakteriellen Translokation versteht man den Durchtritt von lebenden
Bakterien und Endotoxinen durch die Darmwand in die Pfortader sowie in die
mesenterialen Lymphknoten. Der Weg in andere Organe wie Leber oder Lunge ist
von hier aus möglich. Man vermutet, daß eine fehlende enterale Substratzufuhr
zusammen mit einem Streßereignis die Translokation und die Aufnahme von
Bakterien und Endotoxinen in ortsständige Makrophagen fördern. Besonders die
Kupfferzellen der Leber und die Alveolarmakrophagen scheinen eine entscheidende
Rolle zu spielen, da hier entzündungsfördernde Mediatoren wie der
Tumornekrosefaktor (TNF) oder Interleukin-1 produziert werden. Werden diese
Substanzen vermehrt freigesetzt, verstärkt sich ein Sepsissyndrom. Diese Erklärung
unterstreicht die Bedeutung des Darms als Schlüsselorgan bei einem
Multiorganversagen und ist zumindest tierexperimentell heute akzeptiert. Die
Tierversuche werden durch zahlreiche klinische Studien unterstützt, die eine
signifikant niedrigere Sepsisrate, eine verminderte Infektionshäufigkeit und einen
kürzeren Krankenhausaufenthalt durch eine enterale Ernährung im Vergleich zu einer
parenteralen Ernährung zeigen.
Die bei Sepsis oder Trauma vermehrt freigesetzten Entzündungsmediatoren
beeinflussen den Intermediärstoffwechsel. So bewirkt TNF einen deutlichen Anstieg
der Plasma-Triglyceridkonzentration und steigert die Proteolyse zugunsten der
Synthese von Akutphase-Proteinen und Glucose. Geht man davon aus, daß die
parenterale Ernährung mit einer gesteigerten Translokationsrate und einer
vermehrten Aufnahme von Erregern und Endotoxinen in die ortsständigen
Makrophagen assoziiert ist, so müßten in der Folge vermehrt Zytokine und katabole
Hormone ausgeschüttet werden.
Einteilung der Trink- und Sondennahrung
Die enterale Ernährung ist definiert als flüssige Nährstoffzufuhr unter Einbeziehungen
des Gastrointestinaltrakts. Wird die Nährlösung oral aufgenommen, spricht man von
Trinknahrung; gelangt sie per Sonde (transnasal oder perkutan) in den Magen,
Zwölffingerdarm oder Dünndarm (gastral, duodenal oder jejunal), spricht man von
Sondennahrung. Trinknahrungen entsprechen in ihrer Zusammensetzung häufig den
Sondennahrungen. Beide gehören zu den bilanzierten Diäten.
Bilanzierte Diäten sind auf einen bestimmten Zweck, zum Beispiel für eine spezielle
Funktionseinschränkung, zugeschnitten. Sie decken als vollbilanzierte Diäten den
Nahrungsbedarf für unbegrenzte Zeit oder werden als teilbilanzierte Diäten als
Ergänzungsnahrung eingesetzt. Teilbilanzierte Diäten gehen in der Offizin täglich über
den Handverkaufstisch: Reduktionsdiäten (wie Modifast, Slimfast, BioNorm, Figura
Fit, Tri-S-Zym) oder Heilnahrung. Bilanzierte Diäten unterteilen sich in zwei große
Gruppen: in nährstoff- und chemisch definierte Diäten.
Nährstoffdefinierte (hochmolekulare) Diäten (NDD)
Diese Kostformen, auch Formuladiäten genannt, stellen praktisch die
Standardernährung für diejenigen Patienten dar, die nicht essen wollen oder dürfen.
Die Nährstoffe sind in Form und Relation so enthalten wie in einer normalen
Mischkost, deshalb die Bezeichnung hochmolekular. Der Kohlenhydratbedarf wird
von Di- und Oligosacchariden bestritten, der Fettanteil besteht bevorzugt aus
pflanzlichen Fetten mit einem hohen Anteil an ungesättigten Fettsäuren. Biologisch
hochwertiges Eiweiß als Milch-, Sojaeiweiß oder Proteingemische versorgen den
Organismus mit essentiellen Aminosäuren. Vitamine und Mineralstoffe bewahren vor
Mangelerscheinungen. Die handelsüblichen Diäten verfügen über eine
Standard-Energierelation von etwa 15 Prozent Protein/30 Prozent Fett/55 Prozent
Kohlenhydrate (wie Biosorb Sonde, Fresubin, Nutrodipp, Ensure, Salvimulsin
Standard).
Eine Untergruppe der Formuladiäten sind krankheitsspezifisch bilanzierte Diäten
(teilweise sind die Nährstoffe modifiziert), die bei spezieller Stoffwechsellage zum
Einsatz kommen. Häufig werden sie in der Geriatrie und in der Onkologie (oft als
orale Zusatzernährung) eingesetzt, weil hier Unterernährung und Appetitlosigkeit
sehr vielen Patienten zu schaffen machen.
- So gibt es NDD sowohl ballaststoffarm als auch ballaststoffreich (circa 10 bis
15 Gramm Ballaststoffe/l; wie Biosorb plus Sonde, Enrich, Fresubin plus,
Nutrodip Faser, Salviplus, Sonana 500 Plus, Sandosource G.I. Control).
Ballaststoffe sind in der enteralen Ernährungstherapie dann indiziert, wenn der
Patient über ausreichende Sekretion von Enzymen und eine genügend große
Resorptionsfläche verfügt. In der Diabetesdiät sind sie unverzichtbar, um die
Glucoseresorption zu verzögern. Bei Patienten, die auf ballaststoffreie Diäten
mit Durchfällen reagiert haben, lohnt sich eine Umstellung auf
ballaststoffhaltige Varianten.
- Bei Fettverdauungsstörungen (zum Beispiel bei chronischer Pankreatitis,
Erkrankungen der Leber und Galle) sind Produkte mit hohem Anteil an
mittelkettigen Triglyceriden (MCT, Fettsäuren mit sechs bis zwölf
Kohlenstoffatomen) sinnvoll, da diese rasch gespalten werden und als freie
Fettsäuren über die Pfortader in die Leber gelangen. Hinweis: Das Kürzel
MCT ist Namensbestandteil der hierfür in Frage kommenden Produkte.
- Bei hohem Energie- und Nährstoffbedarf stehen hochkalorische Diäten mit
1,4 bis 1,6 kcal/ml anstatt der normalkalorischen Menge von 1kcal/ml zur
Verfügung. Hochkalorische Nahrungen werden eingesetzt, wenn ein Patient
einen hohen Energiebedarf hat (bei Verbrennung), wenn er massiv an
Gewicht verliert (bei Tumorpatienten) oder wenn das Flüssigkeitsvolumen
gering bleiben soll (bei Herzerkrankungen). Pie-mal-Daumen-Regel: 1000
Kalorien pro Tag zusätzlich bewirken eine Gewichtszunahme von einem
Kilogramm pro Woche. Diäten mit erhöhtem Kaloriengehalt erfordern eine
ausreichende Resorptionsleistung. Um eine solche Nährlösung leicht
verdaulich zu machen, ist zumeist ein Teil der Fette als MCT enthalten (wie
Ensure Plus, Salvimulsin MCT 800, Nutrodip Energie Sonde, Fresubin 750
MCT). Es gibt aber auch niederkalorische Diäten mit meist 0,75 kcal/ml
(Sondalis 0,75 Plus, Nutrison Low Energy).
Chemisch definierte (niedermolekulare) Diäten, (CDD)
Sie enthalten die Hauptnährstoffe nicht mehr in natürlicher Form, sondern nur noch
deren Einzelbausteine (Aminosäuren statt Eiweiß; in der Fettkomponente ein hoher
Anteil an MCT; vorwiegend monomere Kohlenhydrate, daneben Di- und
Oligosaccharide). Sie werden auch bei stark eingeschränkter Verdauungs- und
Resorptionsleistung bereits in den oberen Darmabschnitten vollständig resorbiert.
Die Zusammensetzung weicht von den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für
Ernährung ab, weil die Fettkomponente zugunsten des Kohlenhydratanteils
zurückgenommen wird, um eine leichtere Verdaulichkeit zu gewährleisten.
Man verwendet sie, wenn der Darm weitgehend entlastet werden muß, zum Beispiel
in der Darmchirurgie oder bei Darmerkrankungen wie Colitis ulcerosa oder Morbus
Crohn. Die früher gebräuchlichen Elementardiäten (auch Astronautenkost genannt)
führten aufgrund der einzelnen Aminosäuren zu Durchfällen und Erbrechen und
schmeckten miserabel. Sie wurden ersetzt durch Oligopeptid-Diäten mit Bausteinen
aus mehreren Aminosäuren (Oligopeptide). Das Ergebnis: eine bessere
Verträglichkeit. Der Geschmack ist zwar nicht mehr so unangenehm, trotzdem
eignen sich diese Diäten besser zur Sondenernährung (wie Nutricomp Peptid F,
Peptisorb flüssig, Salvipeptid MCT, Survimed OPD).
Anwendungstips für die Zusatz- und ausschließliche Trinknahrung
Zusatznahrung kommt für diejenigen Patienten in Betracht, die aufgrund ihrer meist
chronischen Erkrankung zu wenig essen. Sie nehmen zwar die normale Mischkost zu
sich, aber wegen Schmerzen oder Verstimmungen bis hin zu Depressionen viel zu
wenig. Erreicht man trotz dieser Supplemente keine zufriedenstellende
Nährstoffversorgung, stellt man ausschließlich auf Trinknahrung um. Manche
Patienten haben mit dem dann notwendigen Volumen von etwa zwei Litern
Probleme. Deshalb muß Abwechslung in die künstliche Ernährung.
Hier spielt manchmal allein die Größe der Verpackung eine Rolle. Neben den Trink-
(und Sonden)nahrungen in der 500-ml-Flasche gibt es 200-ml- oder
250-ml-Portionspackungen. Oft bieten die Hersteller (zum Beispiel Fresenius oder
Pfrimmer) Tetrabriks an. Novartis bezeichnet die gleichen Verpackungseinheiten
Combiblocs. Die Firma Nestlé hat den Cup im Sortiment, und Abbott hat Dosen.
Preislich erscheinen die größeren Flaschen zwar günstiger, erlauben dem Patienten
jedoch weniger geschmackliche Vielfalt und sind auch von der Menge her
psychologisch abschreckend.
Trinknahrung muß nicht pur getrunken werden. Man kann sie zu Puddings, Soßen,
Suppen, Cremespeisen, Eiscreme oder Mixgetränken verarbeiten. Auch Kompott
kann untergemischt werden. Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt. Es gilt
lediglich zu beachten: Trinknahrung darf nicht über 70 Grad Celsius erhitzt werden
(Vitaminverlust), und es dürfen keine sauren Getränke oder saures Obst (Banane ist
beispielsweise wenig säurehaltig) zugemischt werden, weil sonst das Eiweiß gerinnt.
Leicht zu variieren ist die Temperatur. Die Geschmacksrichtungen Kaffee und
Mokka lassen sich gut heiß trinken, Trinknahrungen mit Schokoladengeschmack
können mit Schlagsahne verfeinert werden. Fruchtige Varianten sind gut gekühlt eine
erfrischende Abwechslung.
Damit die Trinknahrung die übrigen Mahlzeiten möglichst wenig beeinträchtigt, sollte
sie nicht vor einer Mahlzeit getrunken, sondern als Dessert oder Zwischenimbiß in
den täglichen Speiseplan eingebaut werden. Lieber langsam trinken, damit die
Sättigung nicht so schnell eintritt: in etwa zehn Minuten 200 ml. Schafft es der Patient
nicht, ausreichend zu trinken, muß man auf Sondennahrung umsteigen.
PZ-Titelbeitrag von Elke Wolf, Oberursel
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