Pharmazie
Vier große Interventionsstudien dienten dem Bundesinstitut für
gesundheitlichen Verbraucherschutz und Veterinärmedizin (BgVV) als
Grundlage für ihre Warnung an Raucher, keine Betacaroten-Supplemente
zu nehmen (siehe PZ 30, Seite 41). Doch die vorliegenden Daten können
auch anders interpretiert werden: Raucher können von Carotinoiden
profitieren.
Ein hoher Verzehr von Gemüse und Obst, also Carotinoiden, korreliert signifikant
invers mit dem Lungenkrebsrisiko. Weiterhin besteht eine konsistent inverse und
überwiegend signifikante Assoziation zum Betacaroten-Plasmaspiegel. Auch zu
anderen Krebsarten ergeben sich vergleichbare Bezüge. Diese anerkannte
epidemiologische Beweislage spricht gegen eine zufällige Assoziation.
Allerdings bleibt die Unsicherheit bei den Untersuchungen, daß weitere Nährstoffe
zum Effekt beitragen oder ihn als Summe relevanter Komponenten bestimmen
könnten. Vor allem betrifft dies andere wichtige Carotinoide, die differenzierte
antikanzerogene Effekte und spezifische Eigenwirkungen besitzen. Sie wurden
vorwiegend erst in neueren Untersuchungen berücksichtigt.
Zur Problemlösung favorisierten Kliniker Interventionsstudien mit
Langzeitsupplementierung, vor allem zur Lungenkrebsprävention. Bisher wurden vier
große Interventionsstudien abgeschlossen, ebenso einige mit kleineren Fallzahlen und
modifizierter Zielrichtung. Bei allen Studien wurde synthetisches Betacaroten
eingesetzt. Die Warnhinweise für Raucher beziehen sich nur auf die Ergebnisse von
zwei der vier Großstudien, die Raucher als Hochrisikogruppe untersuchten.
Vier Interventionsstudien
Die erste Großstudie in Linxian, China, zeigte bei kombinierter Gabe von
Betacaroten (15 mg/Tag), Vitamin E und Selen bemerkenswerte Effekte. Die
gesamte Krebsmortalität sank um 13 Prozent, die von Magenkrebs signifikant um
21 Prozent. Andere Krebsarten wie Lungenkrebs wurden auch bei Rauchern nur
moderat, nicht signifikant verändert.
Die finnische ATBC-Studie mit 20 mg Betacaroten pro Tag stellte eine um 18
Prozent höhere Rate an Lungenkrebs und 8 Prozent höhere Todesrate fest. Die
Kohorte umfaßte 29.133 männliche Raucher im Alter zwischen 50 und 69 Jahren,
die Placebo oder Verum über fünf bis acht Jahre erhielten. Die Raucher sind als
langjährige starke Zigarettenraucher (mindestens 20 Jahre mehr als 20 Zigaretten
pro Tag) deklariert.
In der CARET-Studie wurden vier Jahre täglich 30 mg Betacaroten plus 25.000
I.E. Vitamin A verabreicht. Das Lungenkrebsrisiko erhöhte sich im Vergleich zu
Placebo um 28 Prozent, die KHK-Mortalität um 26 Prozent. Hieran waren über
18.000 Personen mit hohem Lungenkrebsrisiko im Alter von 45 bis 69 Jahren
beteiligt (Raucher, ehemalige Raucher, Asbestarbeiter).
Die Physician's Health Study ergab, daß Betacaroten keinen Einfluß hat auf die
Häufigkeit bösartiger Neoplasmen, KHK-Mortalität oder Todesfälle anderer
Ursachen. Die Kohorte bestand aus über 20.000 männlichen Ärzten im Alter von 40
bis 84 Jahren, die über zwölf Jahre jeden zweiten Tag 50 mg Betacaroten
einnahmen. Nachträglich fand man in einer Untergruppe mit anfangs niedrigen
Betacaroten-Plasmaspiegeln eine Senkung des Prostatakrebsrisikos um 36 Prozent
und bei älteren Teilnehmern eine Aktivierung des Immunsystems, die mit einer
Stärkung der Tumorabwehr einhergehen kann.
Offene Fragen
Es erweist sich als gravierender Trugschluß, daß das Konzept dieser
Interventionsstudien die erwähnten Probleme lösen könnte. Alle vier Studien
umfassen Personen im höheren bis hohen Alter, mit einer Ausnahme im
Hochrisikobereich. Fragen bleiben offen: Wann beginnt sinnvollerweise Prävention,
wie hoch liegt die richtige Dosis? Ist der Untersuchungszeitraum repräsentativ, sind
die Begleitbedingungen (Ernährung, Antioxidantienpool, sonstige Störfaktoren) der
Testgruppen vergleichbar?
Was beweisen CARET- und ATBC-Studie?
Rauchen und Lungenkrebs als Zielparameter bergen gewichtige Probleme, die in
beiden Studien unberücksichtigt bleiben. Rauchen wurde pauschal integriert, ohne
Kontrolle der wichtigsten Kriterien. Rauchen erniedrigt die Plasmaspiegel an
Betacaroten und anderen Antioxidantien, was zu starken individuellen Unterschieden
führt. Daraus resultiert ein hoher Unsicherheitsfaktor, das sogenannte "residual
confounding", das sowohl positive wie negative Effekte vortäuschen kann.
Lungenkrebs ist ein Tumor mit langer Entwicklungsphase. In frühen Phasen ist er
schwierig zu diagnostizieren, im Vorstadium so gut wie gar nicht. Dabei ist auch die
Familienanamnese sehr wichtig. Diese Schwachstellen enthalten beide Studien,
worauf auch die Autoren hinweisen. Noch elementarer ist die Frage: Kann
Betacaroten unter den Studienbedingungen überhaupt wirken? Kaum, denn mit
60jährigen Hochrisikopersonen kann man keine Lungenkrebsprävention betreiben.
Sind klinische Versuche tatsächlich die Antwort? Auch Kliniker stellen dies
zunehmend in Frage.
Prävention setzt einen frühzeitigen Beginn voraus, bevor sich die Risiken als
Zellentartung manifestieren. Tatsächlich wurde in beiden Studien überwiegend
therapiert. Es gibt bisher keine gesicherten Hinweise, daß Betacaroten oder ein
anderer Wirkstoff therapeutisch auf Lungenkrebs wirkt. Dagegen existieren
Hinweise, daß eher (Alpha- als Betacaroten der dominierende Schutzfaktor bei
Lungenkrebs ist.
Betacaroten nutzt auch Rauchern
Das BgVV stützt seine Warnhinweise für Raucher vor Betacaroten-haltigen
Zubereitungen allein auf die Ergebnisse der ATBC- und der CARET-Studie.
Entgegen seiner Feststellung ist deren wissenschaftliche Aussagekraft gerade nicht
überzeugend. Beide Studien sind aufgrund zu vieler Schwachstellen für eine solch
schwerwiegende Aussage ungeeignet. Andere Interventionsstudien sowie
epidemiologische Studien, in die auch Raucher und ehemalige Raucher einbezogen
waren, ergaben keine negativen Hinweise.
Gleichzeitig wird die Aufnahme von Betacaroten aus Obst und Gemüse als
gesundheitlich völlig unbedenklich eingestuft. Dies ist widersprüchlich: Wenn der
Stoff schadet, dann in beiden Formen, denn die Gefahr geht nicht von der
Verzehrform, sondern vom Inhaltsstoff aus.
Betacaroten schützt unter den Testbedingungen weder vor Lungenkrebs noch
mindert es die KHK-Mortalität. Dieses Ergebnis ist der wahrscheinlich richtigste
Befund. Andere Interventionsstudien belegen, daß Betacaroten bei Rauchern orale
Leukoplakie (präkanzeröse Mundschleimhautschädigungen) reduziert oder
verhindert. Auch nach den epidemiologischen Studien können Raucher von
Carotinoiden nur profitieren. Eine Befolgung der Warnhinweise könnte ihnen daher
auch positive Effekte vorenthalten. Wichtig ist aber, daß Supplemente mit natürlichen
und optimierten Carotinoidgemischen die bisherigen auf alleiniger Betacaroten-Basis
ersetzen.
Carotinoide und vor allem die Vitamine C und E sind als Nahrungsergänzung für
Raucher wichtig, nicht zuletzt im Hinblick auf das Nutzen-Risiko-Verhältnis. Womit
sonst sollen Raucher erhöhten oxidativen Streß abbauen, wenn sie denn schon
rauchen wollen?
PZ-Artikel von Gunter Metz, Blaubeuren
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