Individuelle Therapie ist ein Muss |
Eine angepasste Therapie und regelmäßige Blutzuckerkontrollen beugen schweren Hypoglykämien vor. / Foto: Getty Images/Yellowdog Productions
In Deutschland wird jährlich bei bis zu 500.000 Menschen Diabetes mellitus neu diagnostiziert (1). Die Prävalenz steigt im Alter an und liegt bei Menschen über 80 Jahren bei rund 33 Prozent (2).
Die Therapie von geriatrischen Patienten, also älteren multimorbiden Menschen mit einer mehr oder minder ausgeprägten Funktionseinschränkung, muss individuell mit dem Betroffenen und/oder mit den Betreuungspersonen festgelegt werden. Besonders zu berücksichtigen sind der Erhalt der Funktionalität und der Lebensqualität sowie die Risikoreduktion für Hypoglykämien. Die Vermeidung von Folgeerkrankungen tritt mit zunehmendem Alte in den Hintergrund, ebenso die exakte Einstellung des Langzeitblutzuckers (HbA1c).
Optimal ist eine interdisziplinäre Betreuung, die Hausarzt, Fachärzte, Angehörige und Pflegefachkräfte gemeinsam leisten. Der Apotheker ist ein essenzieller Partner in diesem multimodalen Therapiekonzept.
Sollen alle älteren Menschen auf Diabetes untersucht werden? Ein allgemeines Screening wird nicht empfohlen. Die aktuelle S2k-Leitlinie »Diagnostik, Therapie und Verlaufskontrolle des Diabetes mellitus im Alter« der Deutschen Diabetesgesellschaft (DDG) sieht die regelmäßige (alle zwei Jahre) Bestimmung des Nüchtern-Blutzuckers als ausreichend an. Die Blutglucose wird bei Einnahme potenziell diabetogener Medikamente oder Diabetes-typischen Beschwerden anlassbezogen bestimmt. Auf den oralen Glucosetoleranztest (OGTT) soll laut DDG verzichtet werden. Blutzuckerbestimmungen in der Apotheke ergänzen die Vorsorgeuntersuchungen und erreichen insbesondere jene Menschen, die nicht regelmäßig zum Arzt gehen.
Die Formulierung der individuellen Therapieziele erfordert in der Regel viel Zeit und Fingerspitzengefühl, wobei Angehörige und Pflegepersonen so früh wie möglich einzubeziehen sind. Zu Beginn erstellt der Arzt ein geriatrisches Assessment. Dies ist eine umfangreiche Erhebung sämtlicher relevanter Umstände und umfasst nicht nur krankheitsspezifische, sondern auch soziale Aspekte. Zu den krankheitsspezifischen Aspekten zählen Kognition, Mobilität, Sturzgefahr, Gebrechlichkeit, Komorbiditäten, Ernährungszustand und allgemeine Performance des Patienten. Soziale Aspekte beinhalten die Finanzen, etwaige Hilfspersonen und die aktuelle Wohnsituation.
Oberes Therapieziel ist der bestmögliche Erhalt der Autonomie des Patienten. Im weiteren Verlauf werden gemeinsam (»shared decision making«) die individuellen Ziele formuliert, festgelegt und kontinuierlich geprüft. Eine Umfrage bei geriatrischen Patienten hat ergeben, dass der Erhalt von Lebensqualität, die Einfachheit der Behandlung und die Vermeidung von Folgeerkrankungen deren wichtigste Ziele sind. Aus ärztlicher Sicht spielt zusätzlich die Vermeidung von Hypoglykämien eine große Rolle.
Therapieziele müssen bei älteren Menschen individuell festgelegt werden – beim Blutzucker ebenso wie beim Blutdruck. / Foto: Adobe Stock/Photographee.eu
Hypoglykämien erhöhen das Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse, indem sie unter anderem die Blutgerinnung verstärken. Sie begünstigen Gangunsicherheiten mit möglicher Sturzfolge und damit einhergehende Frakturen (3, 4). Auch kognitive Einschränkungen und demenzielle Erkrankungen werden nachweislich gefördert (5). Frühe Anzeichen sind Schwitzen, Zittern, Heißhunger, Herzklopfen, Schwächegefühl und innere Unruhe. Neurologische Symptome sind Kopfschmerzen, Konzentrations- und Sehstörungen, Verhaltensänderung, Aggressivität und Verwirrtheit.
Wie bei allen Diabetes-Patienten korreliert der HbA1c-Wert nicht direkt mit der Häufigkeit und Schwere von Hypoglykämien. Daher ist bei der Auswahl und Dosierung der Medikation darauf zu achten, zu niedrige Blutzuckerspiegel vermeiden.
Grundsätzlich unterscheiden sich die Zielwerte von fitten älteren Personen nicht von jenen der jüngeren Generation. Dies ist bei multimorbiden Patienten anders, da Begleiterkrankungen sowie die Lebenserwartung mitberücksichtigt werden (Tabelle 1).
Patientengruppe | Begründung | HbA1c (%) | Nüchtern-Blutglucose (mg/dl) | Systolischer Blutdruck (mmHg) |
---|---|---|---|---|
funktionell unabhängig: wenig Begleiterkrankungen, keine kognitiven Einschränkungen | Lebenserwartung über 15 Jahre, Vorteile einer intensiven Therapie können erlebt werden | 6,5 bis 7,5 | 100 bis 130 | über 80 Jahre: unter 150, bis 80 Jahre: unter 140 |
funktionell leicht abhängig: sehr alte, multimorbide oder kognitiv leicht eingeschränkte Patienten | Lebenserwartung unter 15 Jahre, besondere Beachtung des erhöhten Hypoglykämie- und Sturzrisikos | bis 8,0 | 100 bis 150 | unter 150 |
funktionell stark abhängig: pflegeabhängige oder kognitiv stark eingeschränkte Patienten oder Situation am Lebensende | begrenzte Lebenserwartung | bis 8,5 | 100 bis 180 | individuelle Therapieentscheidung |
Außerdem gilt es, unerwünschte Arzneimittelwirkungen zu vermeiden, um die dauerhafte Adhärenz zur Therapie nicht zu gefährden.
Der Wirkstoff der ersten Wahl ist auch bei geriatrischen Patienten Metformin. Er hat ein gutes Nutzen-Risiko-Profil hinsichtlich Hypoglykämien, allerdings ist auf eine unerwünschte Gewichtsabnahme zu achten. Metformin ist bei einer GFR (glomeruläre Filtrationsrate) unter 30 ml/min kontraindiziert und darf bei Werten bis 44 ml/min nur in halber Dosierung gegeben werden (maximale Tagesdosis 1000 mg, aufgeteilt in zwei bis drei Einzelgaben). Eine seltene, aber potenziell tödliche Nebenwirkung ist die Laktatazidose, die hauptsächlich bei schlechter Nierenfunktion beobachtet wird (Tabelle 2).
Wirkstoffe | Unerwünschte Wirkung |
---|---|
Metformin | Gewichtsverlust, Durchfall, Laktatazidose |
SGLT-2-Hemmer | Exsikkose, Gewichtsverlust, Harnwegsinfekte |
GLP-1-Rezeptoragonisten | Gewichtsverlust, Übelkeit |
DPP4-Hemmer | Übelkeit, Gewichtsverlust |
Sulfonylharnstoffe | Hypoglykämie, auch prolongiert |
Glinide | postprandiale Hypoglykämie |
Pioglitazon | Ödeme, Frakturrisiko |
Insuline | Hypoglykämie |
Zweite Wahl sind SGLT-2-Hemmer und GLP-1-Rezeptoragonisten mit nachgewiesenem kardiovaskulären Benefit. SGLT-2-Hemmer (Gliflozine) wie Dapagliflozin, Empagliflozin und Ertugliflozin (alle auch in Kombination mit DPP4-Hemmern) wirken am proximalen Tubulus der Niere und blockieren dort den Natrium-abhängigen Glucose-Kotransporter 2, ein Carrierprotein, das Glucose und Natrium aus dem Harn rückresorbiert. Daher hängt ihre Wirkung von der Nierenfunktion ab. Sie sind peroral bioverfügbar und haben ein niedriges Hypoglykämie-Risiko. Zu beachten sind Nebenwirkungen wie Dehydratation und Exsikkose sowie gehäuft auftretende Harnwegsinfekte. SGLT-2-Hemmer dürfen bei einer GFR unter 60 ml/min nicht neu verordnet werden und sind bei einer GFR unter 30 ml/min kontraindiziert.
GLP-1-Agonisten (Inkretin-Mimetika) wie Exenatid, Liraglutid, Dulaglutid oder Semaglutid ahmen die Wirkung des körpereigenen Glucagon-like-Peptides (GLP) nach und führen so zu einer Blutzuckersenkung mit niedrigem Hypoglykämie-Risiko. Von Nachteil ist, dass sie subkutan gespritzt werden müssen. Die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) hat Anfang April die Zulassung für eine Semaglutid-Tablette erteilt, die laut Herstellerangaben aber erst in der zweiten Jahreshälfte eingeführt werden soll. Speziell der mögliche Gewichtsverlust und gastrointestinale Nebenwirkungen sind zu berücksichtigen (Tabelle 2). Die Anwendung ist bei einer GFR unter 30 ml/min kontraindiziert.
DPP4-Hemmer (Gliptine) wie Linagliptin, Sitagliptin, Vildagliptin, Alogliptin und Saxagliptin (letzteres kontraindiziert bei Herzinsuffizienz) können vor allem bei höhergradiger Niereninsuffizienz anstelle von Gliflozinen und Inkretin-Mimetika verwendet werden. Mit Ausnahme von Linagliptin, das unabhängig von der Nierenleistung gegeben werden kann, ist eine Dosisanpassung erst bei einer GFR unter 50 ml/min notwendig. Alle Gliptine sind gewichtsneutral und führen selten zu Unterzuckerungen.
Nur fernere Wahl sind Pioglitazon, Sulfonylharnstoffe, Glinide und Acarbose. Diese Arzneistoffe kommen bei Unverträglichkeit beziehungsweise Kontraindikation der bereits genannten Stoffgruppen in Betracht oder wenn damit keine adäquate Blutzuckereinstellung erreicht wird.
Insuline stellen meist den letzten Schritt in der medikamentösen Behandlungskaskade dar. Das liegt nicht zuletzt an den nötigen umfangreichen Schulungen zur sicheren Handhabung und Anwendung sowie einem hohen Hypoglykämie-Risiko. Zudem wird die Insulintherapie oft schlecht angenommen (9). In den vergangenen Jahren etablierte sich die Basalinsulin-unterstützte orale Therapie (BOT) als einfachere Option. Studien untermauern den Vorteil der neuen Basalinsuline der zweiten Generation (Insulin glargin U300, Insulin degludec) bei älteren Menschen. Diese verursachen aufgrund des gleichmäßigeren Wirkprofils und der langen Halbwertszeit signifikant weniger Hypoglykämien als Insulin glargin U100, Insulin detemir und NPH-Insulin (10, 11). Das variable Injektionsintervall von ±3 bis ±8 Stunden und die Reduktion der Injektionshäufigkeit (einmal täglich) sind zusätzliche Vorteile.
Kardiovaskuläre Erkrankungen zählen zu den häufigsten Komorbiditäten, allen voran die arterielle Hypertonie (6). Die Prävalenz von Bluthochdruck steigt im Alter an und ist bei Diabetes mellitus noch stärker erhöht. Bei 60 bis 80 Prozent aller Diabetes-Patienten über 80 Jahren können erhöhte Werte festgestellt werden (7).
Es ist bekannt, dass die Hypertonie ein unabhängiger Risikofaktor für kardiovaskuläre Folgeerkrankungen ist. Allerdings werden signifikante Effekte einer Therapie üblicherweise erst bei einer Lebenserwartung von mehr als zehn Jahren erwartet. Zudem erfordern Blutdruckschwankungen, wie sie häufig im fortgeschrittenen Alter vorkommen, eine individuelle Festlegung des Zielwerts. Folglich gelten die allgemeingültigen Blutdruckziele für viele geriatrische Patienten nicht.
Zu beachten ist, dass Betablocker wie Metoprolol das Hypoglykämie-Risiko nahezu verdoppeln. Bekanntermaßen binden Catecholamine bei zu niedrigem Blutzucker an β-Rezeptoren und regen dadurch einerseits die Bildung von Glucose in der Leber an, andererseits lösen sie Symptome wie Unruhe, Zittern und Herzklopfen aus. Die Blockade dieser Rezeptoren durch Betablocker kann zu einer Verschleierung der genannten Warnsymptome führen.
Eine indizierte lipidsenkende Therapie ist unverzüglich zu beginnen beziehungsweise fortzuführen und wird nur bei funktionell stark eingeschränkten Patienten nicht empfohlen. Auf Nebenwirkungen wie Muskelschwäche und Gangunsicherheiten ist zu achten, da Stürze die Folge sein können.
Ein weiterer Aspekt ist die glomeruläre Filtrationsrate. Die GFR nimmt im Lauf des Lebens um circa 1 ml/min pro Jahr ab und erreicht damit unabhängig von Begleiterkrankungen bei 80-Jährigen einen Wert von etwa 60 ml/min. Da ein Großteil der Antidiabetika über die Niere ausgeschieden wird, ist vor Therapiebeginn eine Abklärung der Nierenfunktion und im Verlauf ein genaues Monitoring nötig.
Als Therapiemanagement bezeichnet man sämtliche Maßnahmen, die in der dauerhaften Betreuung von geriatrischen Diabetes-Patienten nötig sind. Von Anfang an sollen die nahen Angehörigen und Bezugspersonen des Patienten einbezogen werden. Die Patientenedukation muss einfach und leicht verständlich sein. Bewährt haben sich zum Beispiel detaillierte Punkt-für-Punkt-Handlungsanweisungen im Fall einer Unterzuckerung.
Schwerpunkte der Beratung und Aufklärung sind folgende Bereiche:
Bei einer Insulintherapie sollte der Fokus auf der Handhabung des Insulinpens, dem regelmäßigen Nadelwechsel zur Vermeidung von Lipodystrophien und der Rotation der Einstichstelle liegen. Für den Pflegebereich gibt es Injektionsschablonen zum Auflegen, damit nicht erneut in die gleiche Stelle gestochen wird. Vorgefüllte Einmalpens erleichtern die Anwendung besonders bei eingeschränkter Feinmotorik. Blutzuckermessgeräte mit großen Displays und gut greif- und drückbaren Bedienelementen sind zu bevorzugen. Bei jeder Konsultation sollte sich die Betreuungsperson die korrekte Handhabung aller verwendeter Hilfsmittel zeigen lassen. Apotheker können bei der Abgabe von Arzneimitteln oder Medizinprodukten nachfragen.
Das Therapiemanagement wird vervollständigt durch regelmäßige Kontrolluntersuchungen beim Arzt. Die DDG empfiehlt ein jährliches Screening auf Neuropathie, Inkontinenz und kognitive Leistungsfähigkeit.
Rund 4 Prozent der Bevölkerung in Deutschland leiden an chronischen Schmerzen. Bei an Diabetes erkrankten Menschen ist speziell die Polyneuropathie eine gefürchtete Komplikation. Etwa die Hälfte der Patienten leidet daran; rund 30 Prozent beklagen dadurch verursachte Schmerzen mit stark eingeschränkter Lebensqualität (12). Als Ursache wird der dauerhaft erhöhte Glucosespiegel im Blut und damit einhergehende Ablagerungen von »advanced glycation endproducts« (AGE) angenommen.
Das sind Konglomerate von Lipiden, Proteinen oder Nukleinsäuren, die ohne enzymatische Beteiligung mit Kohlenhydraten reagieren. Betroffen sind insbesondere die kleinen peripheren Nervenstränge an Händen und Füßen. Die Symptome äußern sich durch Missempfindungen, Taubheitsgefühl, Kribbeln und Brennen bis hin zu plötzlich einschießenden Schmerzen. Sekundär kann es dadurch zu Gangunsicherheit und Stürzen, Schlafstörungen und Depressionen kommen.
Missempfindungen, Taubheitsgefühl, Kribbeln und Brennen können eine diabetische Polyneuropathie begleiten. / Foto: Adobe Stock/toa555
Die Behandlung erfolgt nach ausführlicher Anamnese und hat eine mindestens 50-prozentige Verbesserung der Beschwerden als Ziel. Zugelassen zur Behandlung der diabetischen Polyneuropathie sind Gabapentin, Pregabalin, Amitriptylin und Duloxetin. Off-label kommen unter anderem auch Tramadol sowie topisches Amitriptylin und Ambroxol in unterschiedlichen Konzentrationen zum Einsatz.
Der gemeinsame Wirkmechanismus dieser heterogenen Substanzklassen ist die hemmende Wirkung auf plötzlich auftretende Spontanaktivitäten von peripheren Nervenfasern.
Parallel zum Neuropathie-Screening sollte immer die Blasenfunktion überprüft werden. Miktionsbeschwerden bis hin zur Harninkontinenz sind typische Diabetes-assoziierte Sekundärkomplikationen. Bis zu 87 Prozent der geriatrischen Patienten leiden unter einer diabetischen Zystopathie, die eng mit der Neuropathie verbunden ist. Bei bis zu 80 Prozent ist die Funktion des Detrusors eingeschränkt.
Oft sind Apotheker die ersten Ansprechpartner, wenn es um diese Thematik geht. Sie sollten die Betroffenen dazu ermuntern, mit dem Arzt über ihre Probleme zu sprechen und können die Medikationsliste auf potenziell Inkontinenz fördernde Arzneimittel durchsuchen (Tabelle 3).
Medikament | Ursache |
---|---|
Alpha-adrenerge Substanzen | Erhöhung des Muskeltonus |
Alphablocker | Abnahme des Muskeltonus |
Anticholinergika | Blasenentleerungsstörung, Obstipation, eingeschränkte kognitive Funktion |
Diuretika | vermehrte Harnanflutung |
Calciumkanalblocker | Zunahme von Ödemen, vor allem der Beine |
Gabapentin, Glitazone, nicht-steroidale Antirheumatika | Wassereinlagerung |
ACE-Hemmer | ACE-Hemmer-Husten kann Inkontinenz verstärken |
Benzodiazepine, Antipsychotika, Hypnotika | Verwirrtheitszustände und Bewegungseinschränkung verstärken Inkontinenz. |
Antidepressiva (SSRI), Antidementiva | verstärkte cholinerge Aktivität |
Immobilisierte Patienten erhalten eine pflegerische Versorgung mit körpernahen und -fernen Inkontinenzprodukten. Bei guter Beweglichkeit oder Teilimmobilisation lohnt sich ein medikamentöser Behandlungsversuch mit Parasympatholytika wie Trospium, Solifenacin, Darifenacin und Tolterodin unter Beachtung peripherer und zentraler anticholinerger Nebenwirkungen. Dabei ist das nicht ZNS-gängige Trospium in der Geriatrie zu bevorzugen. Alternativ kommt bei Unverträglichkeit der Anticholinergika oder Glaukom der β3-Agonist Mirabegron zum Einsatz. Vorteilhaft ist auch die Entleerung der Blase alle drei bis fünf Stunden unabhängig vom Harndrang (Toilettentraining).
Hypoglykämien, Demenz oder demenzielle Syndrome sowie eine Depression beeinträchtigen die kognitive Leistungsfähigkeit (13). Demenz und Depression kommen bei Menschen mit Diabetes häufiger vor als in der gleichaltrigen Normalbevölkerung. Die Unterscheidung fällt nicht immer leicht; es gibt jedoch einige grundlegende Unterschiede (Tabelle 4).
Parameter | Demenz | Depression |
---|---|---|
Beginn | schleichend | schnell |
Auffassungsgabe | gestört | erhalten |
Alltagskompetenz | eingeschränkt | erhalten |
Sprache | oft gestört | ungestört |
Reaktion auf Antidepressiva | Persistieren der kognitiven Symptome bei Rückbildung der Depression | parallele Remission von kognitiven und depressiven Symptomen |
Da beide Diagnosen eine negative Auswirkung auf Lebensqualität, Autonomie, Bewegungsverhalten und Adhärenz zur Therapie haben, muss rasch eine therapeutische Entscheidung getroffen werden. Bei einer Depression bei geriatrischen Patienten sind selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI) die erste Wahl. Das Nutzen-Risiko-Profil dieser Substanzklasse ist im Vergleich zu anderen Antidepressiva vorteilhaft, vor allem bezüglich kardialer und kognitiver Nebenwirkungen.
Bei ärztlich diagnostizierter, beginnender Demenz sollte möglichst bald parallel zu anderen Maßnahmen ein »advanced care planning« stattfinden. Der Begriff stammt aus der Palliativmedizin und beschreibt die individuelle weitere Versorgungsplanung, um im Sinne des Patienten entscheiden zu können, wenn dieser dazu nicht mehr in der Lage ist. Dies umfasst die medizinische, pflegerische, psychosoziale und seelsorgerische Betreuung.
Herr K. ist 81 Jahre alt. Seine Frau berichtet von einer gehäuft auftretenden Müdigkeit und Abgeschlagenheit ihres Mannes. Dieser erhält außer Ramipril (Hypertonie) keine weiteren Medikamente. Da der in der Apotheke gemessene Blutzucker deutlich erhöht ist, rät der Apotheker zur weiteren Abklärung beim Arzt. Die dortige Blutanalyse ergibt außer einem HbA1c von 8,0 Prozent keine Auffälligkeiten. Herr K. wird auf Metformin eingestellt, das langsam auf 2 x 1000 mg hochtitriert wird. Abgeschlagenheit und Müdigkeit bessern sich daraufhin stetig.
Nach sechs Monaten liegt der HbA1c immer noch bei 7,4 Prozent. Auf Nachfrage geben Herr K. und seine Frau keine Hypoglykämien oder verwandte Symptome an. Aufgrund der guten Allgemeinverfassung verordnet der Arzt leitlinienkonform Empagliflozin 1 x 10 mg. Dadurch sinkt der HbA1c auf 6,8 Prozent.
Zwei Jahre später fällt bei einer Routinekontrolle ein erhöhter Laktatwert bei einer GFR von 58 ml/min auf. Metformin wird reduziert und dann ganz abgesetzt. Die Feinmotorik des Patienten erlaubt keine Injektionstherapie. Daher wird Linagliptin 1 x 5 mg peroral angesetzt.
Während des jährlichen Neuropathie-Screenings wird eine Dranginkontinenz diagnostiziert. Unter der Therapie mit Solifenacin 1 x 5 mg täglich sistieren die Beschwerden. Frau K. erkennt frühzeitig eine Rötung mit eingerissener Haut am Fußballen; nach der Wundversorgung erhält Herr K. podologisches Schuhwerk.
Viele Diabetes-Patienten leiden an einer Depression. Meist sind selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI) die Mittel der ersten Wahl. / Foto: Getty Images/Deagreez
Im Folgejahr klagt der Patient über Antriebslosigkeit und Schlafstörungen. Da der Arzt keine Beeinträchtigung im Mini-Mental-Status-Test (MMST) feststellt, vermutet er eine Depression und verordnet nach Abklärung Citalopram 1 x 10 mg. In der routinemäßigen Medikationsanalyse wird Citalopram aufgrund des Nebenwirkungsprofils als gut gewählte Substanz beurteilt und zur Sicherheit Solifenacin gegen Trospium 1 x 60 mg retard ausgetauscht, um zentrale anticholinerge Nebenwirkungen zu vermeiden. Der Apotheker empfiehlt Empagliflozin und Linagliptin als Kombinationspräparat, um die tägliche Tablettenzahl zu senken.
Herr K. ist mittlerweile 85 Jahre alt. Die Depression ist in Remission und Citalopram wurde abgesetzt. Er hat keine kognitiven Einschränkungen oder Hypoglykämien. Der HbA1c liegt stabil bei 7,0 Prozent.
Das Fallbeispiel demonstriert, wie eine optimale interdisziplinäre Versorgung in der Geriatrie aussehen kann. Neben anderen Professionen leisten Apotheker einen unverzichtbaren Part in der Patientenbetreuung und können sich mit ihrem Fachwissen konstruktiv in die Behandlung einbringen.
Literatur beim Verfasser
Christopher Waxenegger studierte von 2011 bis 2017 Pharmazie an der Universität Wien. Von 2018 bis 2019 absolvierte er das pharmazeutisch-praktische Jahr in der Apotheke Altmannsdorf. Anschließend folgten Weiterbildungen, vor allem im Bereich Medikationsanalyse, die er bei freiwilliger Mitarbeit in einer Arztpraxis vertiefte. Seit 2020 verfasst Waxenegger zusätzlich freiberuflich Artikel für pharmazeutisch-medizinische Fachzeitschriften. Parallel dazu ist er als Miliz-Offizier beim österreichischen Bundesheer tätig.