Individuell statt starr |
Laura Rudolph |
20.08.2025 17:00 Uhr |
Ein neues KI-Modell erlaubt eine individualisierte Risikoeinschätzung bei MS-Patienten – unabhängig vom diagnostizierten Subtyp. / © Adobe Stock/New Africa
Multiple Sklerose (MS) betrifft einen von 3000 Menschen weltweit. Die neurologische Autoimmunerkrankung wird dabei in drei Hauptformen unterteilt. Die häufigste ist die schubförmig remittierende MS (RRMS), bei der sich Krankheitsschübe mit Phasen der Besserung abwechseln. Aus dieser Form kann sich die sekundär progrediente MS (SPMS) entwickeln, bei der die Symptome kontinuierlich zunehmen, auch wenn die Schübe nachlassen oder ausbleiben. Bei der primär progredienten Form (PPMS) schreitet die Krankheit von Anfang an – ohne klar erkennbare Schübe – kontinuierlich fort.
Nun haben Forschende um Dr. Habib Ganjgahi von der Universität Oxford in England mittels einer KI-gestützten, sekundären Analyse von klinischen Studiendaten untersucht, ob man den Verlauf von MS genauer beschreiben kann, als es die bisherigen Kategorien erlauben. Wie sie aktuell im Fachjournal »Nature Medicine« berichten, identifizierte die KI vier zentrale Komponenten der Erkrankung, mit denen sich der Verlauf der MS wesentlich besser beschreiben lässt als mit der bisherigen Einteilung; dazu zählen körperliche Behinderung, Hirnschädigung, klinische Schübe und stille Entzündungsaktivität. Die Forschenden stellen die bisher genutzte Klassifizierung laut einer Pressemitteilung »radikal infrage«.
»Unsere Daten zeigen eindeutig, dass MS nicht über verschiedene Subtypen wie schubförmig oder progrediente MS zu charakterisierten ist, sondern ein kontinuierlicher Krankheitsprozess mit definierbaren Zustandsübergängen ist«, erklärt Seniorautor Professor Dr. Heinz Wiendl, Ärztlicher Direktor der Klinik für Neurologie und Neurophysiologie des Universitätsklinikums Freiburg.
Für die Analyse fütterten die Forschenden eine spezielle KI, ein sogenanntes Hidden-Markov-Modell, mit Daten von 8023 MS-Patienten aus insgesamt 39 Phase-II- und -III-Studien aus den Jahren 2003 bis 2021. Die Datensets umfassen etwa klinische Messungen wie Gehtests, Handfunktion, Gedächtnistests, Behinderungsgrad und Schübe, mehr als 35.000 MRT-Aufnahmen des Gehirns und Informationen zum Krankheitsverlauf über die Jahre.
Statt die Erkrankung in feste Subtypen zu klassifizieren, »zerlegte« das KI-Modell sie in vier verschiedene Komponenten – körperliche Behinderung, Schäden im Gehirn (MRT), Schub-Aktivität, und stille Entzündungen – und erkannte, dass Patienten im Laufe der Zeit von einem Zustand in einen anderen übergingen. Frühere, milde Zustände gingen meist über entzündliche Zwischenphasen in fortgeschrittene, irreversible Krankheitsstadien über. Ein direkter Übergang in die schweren Stadien ohne vorherige Entzündungsaktivität war dabei praktisch ausgeschlossen – stille, symptomfreie Entzündungen oder Schübe sind demnach ein zentraler Treiber der Verschlechterung.
Das neue Modell erlaube eine individualisierte Risikoeinschätzung – unabhängig vom diagnostizierten Subtyp.
»Statt Patienten zu kategorisieren, sollten wir ihren Zustand quantifizieren und dynamisch verfolgen«, so Wiendl. Gerade Patienten mit aktiver, aber klinisch stummer Entzündungsaktivität benötigten eine frühzeitige Therapie. Wichtig sei nun, diese Möglichkeiten der individualisierten Risikoabschätzung in die klinische Praxis zu überführen und prospektive Daten dazu zu sammeln.
Innerhalb der Studie sei das Modell erfolgreich an externen klinischen und realweltlichen Datensätzen überprüft worden. Der nächste Schritt sei nun die Überführung in den klinischen Alltag, etwa zur Therapieentscheidung oder zur besseren Patientenaufklärung. Perspektivisch könnte die dynamische Klassifikation auch die Zulassungslogik künftiger Therapien verändern.