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Die bessere Hälfte bewährter Arzneistoffe

25.07.2005  00:00 Uhr
. Reine Enantiomere

Die bessere Hälfte bewährter Arzneistoffe

von Bernhard Wünsch, Münster

Racemate von Arzneistoffen stellen Kombinationspräparate dar, nämlich die Kombination aus zwei spiegelbildlichen, aber nicht identischen Stoffen (Enantiomere) im Verhältnis 1:1. Während ältere Arzneimittel häufig Racemate enthalten, wurden in den letzten Jahren vermehrt reine Enantiomere auf den Markt gebracht. Dies verbessert in der Regel die Qualität der Therapie.

Spiegelbildliche Stoffe, die in der gleichen Beziehung wie die rechte und die linke Hand zueinander stehen, verhalten sich in achiraler Umgebung, beispielsweise in Wasser oder Ethanol, oder bei achiralen Analysenmethoden, zum Beispiel bei der Infrarot- und UV-Spektroskopie oder der Hochleistungsflüssigkeitschromatographie (HPLC), völlig identisch. In chiraler Umgebung unterscheiden sie sich dagegen deutlich.

 

Glossar Chiralität (Händigkeit): Eigenschaft eines Objekts, mit seinem spiegelbildlichen Objekt nicht identisch zu sein.

Dex: Die Vorsilbe »Dex« (dextro: rechts) zeigt das rechtsdrehende Enantiomer an, zum Beispiel bei Dexibuprofen.

Diastereomere: Stereoisomere, die nicht enantiomer zueinander sind.

Enantiomere: Stereoisomere, die spiegelbildlich zueinander sind.

Epimere: Besondere Art von Diastereomeren, deren Konfiguration sich an genau einem Chiralitätszentrum unterscheidet.

Es: Die Vorsilbe »Es« zeigt (S)-Konfiguration an, zum Beispiel bei Esomeprazol.

Eutomer, Distomer: Pharmakologische Begriffe, die das stärker (schwächer) oder besser (schlechter) wirksame Enantiomer bezeichnen.

Eudismisches Verhältnis: Quotient aus der Wirkstärke des Eutomers und des Distomers.

Inversion: Umkehrung der dreidimensionalen Anordnung der Substituenten an einem Chiralitätszentrum.

Lev(o): Die Vorsilbe »Lev(o)« (levus: links) zeigt das linksdrehende Enantiomer an, zum Beispiel bei Levocetirizin und Levofloxacin.

(R)- und (S)-Nomenklatur nach CIP (Cahn, Ingold, Prelog): Formales Verfahren zur Beschreibung der absoluten Konfiguration aus der dreidimensionalen Anordnung der Substituenten. Die vier Substituenten eines Chiralitätszentrums werden nach der Ordnungszahl (Periodensystem) geordnet. Der rangniedrigste Substituent wird vom Betrachter weg gedreht. Die drei verbleibenden Substituenten werden in fallender Priorität miteinander verbunden. Bei Zählung im Uhrzeigersinn: (R)-Konfiguration; Zählung im Gegenuhrzeigersinn: (S)-Konfiguration.

Racemat: Äquimolares Gemisch zweier Enantiomere.

Stereoisomere: Isomere mit gleicher Atomverknüpfung (Konstitution), aber unterschiedlicher Raumanordnung der Atome.

 

Der menschliche Organismus ist aus chiralen Makromolekülen wie Proteinen, Zuckern, Nucleinsäuren und Lipiden aufgebaut. Sobald die Arzneistoffe appliziert sind, treten sie mit diesen Strukturen in Wechselwirkung, was sowohl für die Pharmakodynamik als auch für die Pharmakokinetik eine wichtige Rolle spielt. Um einen Effekt auszulösen, müssen Arzneistoffe mit bestimmten chiralen Makromolekülen (»Targets«) des Organismus interagieren. Ob und wie diese Wechselwirkungen ablaufen, hängt entscheidend von der dreidimensionalen Struktur des Arzneistoffs und seines Targets, zum Beispiel einem Enzym oder Rezeptor, ab. Es ist einleuchtend, dass bei chiralen Arzneistoffen eine Form, das Eutomer, gut zur Zielstruktur passt, während das Spiegelbild (Distomer) deutlich schlechter damit wechselwirken kann. Aber auch auf dem Weg zum und von seinem Target weg interagiert der Arzneistoff mit chiralen Makromolekülen wie Transportproteinen oder metabolisierenden Enzymen, die seine pharmakologischen Eigenschaften insgesamt beeinflussen.

Im Folgenden werden aus pharmazeutisch-chemischer Sicht Arzneistoffe vorgestellt, die ursprünglich als Racemate eingesetzt wurden, jedoch in den letzten Jahren durch enantiomerenreine Arzneistoffe ergänzt oder ersetzt wurden. Dies ist nicht in jedem Fall klinisch relevant, verbessert aber in der Regel die Qualität der Therapie. Werden reine Enantiomere auf den Markt gebracht, gelten diese als neue Arzneistoffe, die der automatischen Verschreibungspflicht unterliegen. Die Diskussion der Arzneistoffe erfolgt anhand ihrer unterschiedlichen Angriffspunkte.

Affinität zu Rezeptoren

Cetirizin ist der aktive Metabolit des H1-Antihistaminikums Hydroxyzin, das als Tranquilizer eingesetzt wird (Beispiel: Elroquil N®). Durch metabolische Oxidation des primären Alkohols Hydroxyzin entsteht die Carbonsäure Cetirizin, die auf Grund ihres amphiphilen Charakters (Aminosäure) die Blut-Hirn-Schranke nicht mehr passieren kann. Cetirizin blockiert daher ausschließlich Histamin-H1-Rezeptoren in der Peripherie. Es wird als nicht sedierendes H1-Antihistaminikum zur Behandlung der Symptome bei allergischen Erkrankungen wie Urticaria, Ekzemen, akuter und chronischer allergischer Rhinitis (Heuschnupfen) eingesetzt (Beispiel: Zyrtec®).

Die Affinität der beiden Cetirizin-Enantiomere zu den H1-Rezeptoren ist deutlich unterschiedlich. Das (R)-konfigurierte Enantiomer, das als Levocetirizin bezeichnet wird, bindet etwa 33-mal stärker als das (S)-Enantiomer. Levocetirizin wurde im Februar 2001 in den Handel eingeführt (Beispiel: Xusal®). Durch das Weglassen des weniger aktiven (S)-Enantiomers kann die Dosis um die Hälfte reduziert werden (1).

Zopiclon wird als Racemat zur kurzzeitigen Behandlung von Schlafstörungen eingesetzt (Beispiel: Ximovan®). Seine Schlaf anstoßende Wirkung beruht auf der Aktivierung von GABAA-Rezeptoren, die zur Klasse der ligandgesteuerten Ionenkanäle gehören. Zopiclon bindet an die Benzodiazepin-Bindungsstelle des GABAA-Rezeptors, wobei die Bindungsareale für Zopiclon und Benzodiazepin nicht vollständig überlappen. Durch die Bindung von Zopiclon steigt die Affinität des Rezeptors für den physiologischen Neurotransmitter GABA (g-Aminobuttersäure). Die erhöhte Bindung von GABA an die GABAA-Rezeptoren führt zu einem gesteigerten Einstrom von Chloridionen in das nachgeschaltete Neuron mit der Folge einer Hyperpolarisation. Diese vermindert die Erregbarkeit dieses Neurons, weshalb GABA zu den inhibitorischen Neurotransmittern zählt.

Zopiclon ist zurzeit nur als Racemat mit einer Dosis von 7,5 mg/Tablette im Handel. In vitro wurde jedoch gefunden, dass das (S)-Enantiomer (Eszopiclon) eine etwa 50fach höhere Affinität zur Benzodiazepin-Bindungsstelle des GABAA-Rezeptors besitzt als das Distomer (R)-Zopiclon (2a). In multizentrischen randomisierten Doppelblindstudien wurde die Wirksamkeit und Sicherheit von Eszopiclon gezeigt. Im Vergleich zu Placebo verbesserten 2 oder 3 mg Eszopiclon die Schlafdauer und -qualität sowie die Wachheit am Tag. Mit der Markteinführung des reinen Enantiomers ist in naher Zukunft zu rechnen (2).

In beiden Fällen ­ Cetirizin und Zopiclon ­ werden die erwünschten pharmakologischen Effekte hauptsächlich durch ein Enantiomer ausgelöst. Daher kann die Applikation dieses reinen Eutomers den Organismus vor nicht wirksamem »chemischen Ballast« bewahren.

Affinität zu Enzymen

Bakterielle Gyrasen (Typ-II-Topoisomerasen) katalysieren die Superspiralisierung (Supercoiling) der DNA nach der Zellteilung. Gyrasen spalten zunächst beide DNA-Einzelstränge und schieben dann ein anderes DNA-Doppelhelix-Segment durch die »Öffnung«, bevor sie die Bruchstellen wieder verschließen. Eine Hemmung der Gyrase führt zum Absterben der Bakterien, da die DNA ihre normale biologische Funktion nur ausüben kann, wenn sie sich in einem adäquaten topologischen Zustand befindet.

Die meisten Arzneistoffe, die die bakterielle Gyrase inhibieren, sind nicht chiral. Eine Ausnahme stellt Ofloxacin dar, das als Racemat eingesetzt wird (Beispiel Tarivid®). Seit 1998 ist das (S)-Enantiomer als eigenständiger Arzneistoff zugelassen (Levofloxacin, Beispiel Tavanic®). Levofloxacin stellt das Eutomer dar, das die bakterielle Gyrase stärker inhibiert und weniger toxisch ist als das (R)-Enantiomer. Je nach Keimart ist (S)-Ofloxacin in vitro 8- bis 128-mal stärker antimikrobiell wirksam als das (R)-Enantiomer (3). In der klinischen Praxis werden jedoch vergleichbare Dosierungen eingesetzt.

Rezeptorselektivität

Auf Grund seiner analgetischen Wirkkomponente wird das Narkosemittel Ketamin bevorzugt für kurze, schmerzhafte Eingriffe sowie in der Notfallmedizin verwendet (Beispiel: Ketanest®). Seine anästhetischen und analgetischen Wirkungen beruhen vornehmlich auf der Blockade von NMDA-Rezeptoren. Der NMDA-Rezeptor gehört wie der GABAA-Rezeptor zur Gruppe der ligandgesteuerten Ionenkanäle. Er besitzt mehrere Bindungsstellen, an denen Liganden den Öffnungszustand des Ionenkanals modulieren können.

Ketamin greift an der so genannten Phencyclidin-Bindungsstelle im Inneren der Ionenkanalpore an. Das (S)-Enantiomer bindet hier etwa dreimal stärker als das (R)-Enantiomer. Dieser relativ geringe Affinitätsunterschied rechtfertigt in der Regel nicht die Racematspaltung und die Anwendung des reinen Eutomers. Beim Ketamin kommt jedoch hinzu, dass das (S)-Enantiomer eine etwa dreifach höhere Affinität zu den µ- und k-Opioid-Rezeptoren besitzt und deshalb auch etwas stärker analgetisch wirksam ist. Darüber hinaus aktiviert das schwächer wirksame (R)-Enantiomer σ-Rezeptoren, während das (S)-Enantiomer eine deutlich geringere Affinität zu diesem Rezeptor aufweist. Mit der Aktivierung von σ-Rezeptoren werden die unangenehmen Träume und Halluzinationen während der Narkose sowie die Verwirrungszustände und das zunächst fehlende Erinnerungsvermögen während der Aufwachphase in Zusammenhang gebracht. Die stärkere anästhetische und analgetische Wirkung sowie das verbesserte Aufwachverhalten nach der Narkose erklären den Einsatz des reinen (S)-Enantiomers durch den Originalhersteller (Beispiel: Ketanest® S) (4).

Interaktion mit Transportsystemen

Citalopram gehört zur Wirkstoffklasse der Antidepressiva (Beispiel: Sepram®, Cipramil®). Es entfaltet seine antidepressiven Effekte durch selektive Hemmung der Wiederaufnahme des Neurotransmitters Serotonin (SSRI: selektiver Serotonin-reuptake-Inhibitor) in das präsynaptische Neuron. Dadurch erhöht sich die Konzentration von Serotonin im synaptischen Spalt, was dessen Wirkung steigert.

Die Blockade der Serotonin-Wiederaufnahme wird durch Wechselwirkung von Citalopram mit dem Serotonin-Transportprotein erreicht und erfolgt stereoselektiv. Das (S)-konfigurierte Enantiomer Escitalopram bindet etwa 40-mal stärker an das Transportprotein als das (R)-Enantiomer (Distomer) und hemmt somit auch die Serotonin-Wiederaufnahme etwa 40-mal stärker.

(R)-Citalopram ist deshalb auch nicht antidepressiv wirksam. Durch Applikation des reinen Escitalopram lässt sich in diesem Fall die Dosis halbieren (Beispiel: Cipralex®) (5).

Unterschiedliche Pharmakokinetik

Analgetische, antiphlogistische und antipyretische Effekte lassen sich durch Hemmung der Cyclooxygenase erreichen, die für die Bereitstellung der Prostaglandine, Thromboxane und Prostacycline verantwortlich ist. Eine wichtige Arzneistoffklasse, die die Cyclooxygenase inhibiert, sind 2-Arylpropionsäuren wie Ibuprofen, Ketoprofen und Naproxen. Diese Verbindungen besitzen in 2-Position ein Chiralitätszentrum. Es ist gezeigt, dass die (S)-konfigurierten Enantiomere (Eutomere) die Cyclooxygenase stets stärker hemmen als die (R)-Enantiomere (Distomere). Daher wurde Naproxen von Anfang an als reines (S)-Enantiomer in den Handel gebracht (Beispiel: Proxen®). Ibuprofen (Beispiel: Dolormin®) und Ketoprofen (Beispiel: Orudis®) sind dagegen als Racemate zugelassen. In den letzten Jahren wurden jedoch die Eutomere beider Arzneistoffe ebenfalls in den Markt eingeführt.

Bei Ibuprofen muss zudem die Pharmakokinetik betrachtet werden. Der Mensch besitzt ein Enzymsystem, das das (R)-Enantiomer von Ibuprofen unidirektional in das (S)-Enantiomer umwandelt. Nach der Applikation eines Gemischs aus (S)/(R)-Ibuprofen von 6:94 wird ein Gemisch aus (S)/(R)-Ibuprofen von 80:20 eliminiert. Es handelt sich um eine Inversion und nicht um eine Racemisierung, da (S)-Ibuprofen nicht in (R)-Ibuprofen überführt werden kann, weshalb sich auch kein 1:1-Gemisch (Racemat) der beiden Enantiomere bildet. Bei Applikation eines 95:5-Gemischs(S)/(R) wird auch ein 95:5-Gemisch (S)/(R) ausgeschieden.

Die Umwandlung von (R)-Ibuprofen in das stärker wirksame (S)-Enantiomer läuft in mehreren Schritten ab. Zunächst wird die Carbonsäure von (R)-Ibuprofen mit dem Coenzym-A (HS-CoA) verknüpft. Diese Verknüpfung wird durch die Acyl-SCoA-Synthetase katalysiert. In dem (R)-Thioester ist die CH-Acidität in α-Position erhöht, sodass leicht eine Epimerisierung über ein Enolat stattfinden kann. Da das Coenzym-A eine chirale Verbindung mit insgesamt fünf Chiralitätszentren ist (vier in der Ribose-Einheit, eines in der Pantothensäure-Einheit), handelt es sich bei diesem Schritt nicht um eine Racemisierung, sondern um eine Epimerisierung, die durch eine Epimerase katalysiert wird. Durch Hydrolyse des energiereichen (S)-Thioesters wird dann (S)-Ibuprofen freigesetzt. Die gesamte Reaktion verläuft nur in eine Richtung, da die Acyl-SCoA-Synthetase nur das (R)-Enantiomer von Ibuprofen umsetzen und das (S)-Enantiomer nicht mehr für die Epimerisierung aktiviert werden kann. Welchen Vorteil bietet die Applikation des reinen (S)-Enantiomers (Beispiel: Deltaran®) im Vergleich zum Racemat, wenn das Distomer in das Eutomer umgewandelt wird? Die Inversion von (R)- in (S)-Ibuprofen erfolgt nicht schlagartig sofort bei der Applikation, sondern verzögert über einen längeren Zeitraum. Sie läuft auch nicht vollständig ab, im Durchschnitt werden 50 bis 60 Prozent der applizierten Dosis des (R)-Enantiomers in das (S)-Enantiomer umgewandelt. Das Ausmaß der Inversion ist interindividuell sehr unterschiedlich und hängt auch vom Zustand des Patienten ab. Beispielsweise ist die Inversion bei Patienten, die an akuten Schmerzen leiden, vermindert. Insgesamt ist die Kinetik nach Applikation des Ibuprofen-Racemats sehr unübersichtlich, die Kinetik des reinen (S)-Enantiomers ist dagegen »sauberer« (6).

Ein wichtiger Aspekt ist die Beteiligung von aktiviertem CoA-(R)-Ibuprofen am Lipidmetabolismus. Bei Ratten wurde gezeigt, dass gemischte Triglyceride gebildet werden können, die an Stelle der physiologischen Fettsäuren das (R)-konfigurierte Ibuprofen beinhalten. Diese Hybrid-Triglyceride werden im Fettgewebe gespeichert und dienen als Depot, aus dem über lange Zeit geringe Mengen (R)-Ibuprofen freigesetzt werden (6). Darüber hinaus wurde in klinischen Studien gezeigt, dass mit der halben Dosis von (S)-Ibuprofen die gleichen analgetischen Effekte erreicht werden wie mit Ibuprofen-Racemat. Beispielsweise ist bei Zahnschmerzen eine Dosis von 200 mg (S)-Ibuprofen äquipotent mit einer Dosis von 400 mg Racemat (6).

In vitro wurde diese Inversion auch für Ketoprofen beobachtet. An Rattenleber-Homogenaten wurde gezeigt, dass (R)-Ketoprofen ebenfalls zu einem großen Teil in das (S)-Enantiomer umgewandelt wird. Auch bei verschiedenen Tierspezies wurde diese (R)- zu (S)-Inversion beobachtet. Beim Menschen findet diese Konfigurationsumwandlung jedoch nur in geringem Ausmaß statt. Nach oraler Applikation von 50 mg (R)-Ketoprofen werden nur geringe Konzentrationen des (S)-Enantiomers gefunden. Nach saurer Hydrolyse der Glucuronide im Urin ergibt sich ein Verhältnis von (R)- zu (S)-Ketoprofen von 87:13. Die höhere Affinität des (S)-konfigurierten Ketoprofens zur Cyclooxygenase zusammen mit der geringen Inversion des (R)-konfigurierten Enantiomers erklären die Einführung von Dexketoprofen als eigenständigen Arzneistoff mit einer deutlich verminderten Dosis (Beispiel: 25 mg in Sympal® Tabletten) (7).

Omeprazol ist der Prototyp der Protonenpumpenblocker (Beispiel: Antra MUPS®). Die Protonenpumpe ist ein Protein, das in den Belegzellen des Magens für die Sezernierung der Salzsäure in das Magenlumen verantwortlich ist. Dabei werden unter Verbrauch von ATP Protonen gegen Kaliumionen ausgetauscht (H+/K+-ATPase). Omeprazol blockiert diese H+/K+-ATPase des Magens jedoch nicht direkt, sondern muss erst aktiviert werden. Diese Aktivierung erfolgt nicht enzymatisch, sondern durch Säure, also bei niedrigem pH-Wert. Die nötige Protonenkonzentration wird im Organismus nur im Magen (bei oraler Applikation) und in den Belegzellen der Magenschleimhaut erreicht. Um die vorzeitige Aktivierung des Prodrugs im Magen zu verhindern, müssen Präparate von Omeprazol und analogen H+/K+-ATPase-Inhibitoren magensaftresistent ummantelt sein.

Nach Resorption gelangt Omeprazol in die Belegzellen der Magenschleimhaut. Nach Protonierung des Benzimidazolrings erfolgt ein nucleophiler Angriff des Pyridin-Stickstoffatoms, sodass die kationische Spiroverbindung entsteht. Unter Regenerierung des aromatischen Benzimidazol-Ringsystems wird aus dem Sulfoxid eine Sulfensäure freigesetzt, die zu einem Sulfenamid kondensieren kann. Dieses Sulfenamid stellt das eigentlich aktive Teilchen dar. Es kann mit Thiol-Gruppen von Enzymen zu Disulfiden reagieren und wird damit kovalent an das entsprechende Enzym gebunden. Da die durch Säure katalysierte Aktivierung von Omeprazol in den Belegzellen in der Nähe der H+/K+-ATPase erfolgt, reagiert das Sulfenamid bevorzugt mit diesem Enzym zum Disulfid, wodurch das Enzym irreversibel blockiert wird.

Bei Omeprazol ist der Schwefel im Sulfoxid das Chiralitätszentrum. Er trägt vier verschiedene Substituenten, die in die vier Ecken eines Tetraeders zeigen: Benzimidazolyl-Rest, (2-Pyridyl)methyl-Rest, Sauerstoffatom und Elektronenpaar. Bei der Aktivierung wird das Chiralitätszentrum zerstört, aus dem chiralen Sulfoxid entsteht das achirale Sulfenamid. Aus beiden Enantiomeren entsteht dabei das gleiche Sulfenamid. Für die Zerstörung des Chiralitätszentrums ist allein der saure pH-Wert (hohe H+-Konzentration) verantwortlich. Da Enzyme an dieser Reaktion nicht beteiligt sind, werden beide Omeprazol-Enantiomere gleichermaßen bioaktiviert, ihre Pharmakodynamik ist also identisch.

Worin liegt dann der Unterschied der beiden Enantiomere? Sie unterscheiden sich in der Pharmakokinetik, genauer in der stereoselektiven Biotransformation. Die drei wichtigsten Metabolite von Omeprazol sind alle nicht mehr biologisch aktiv. Mengenmäßig dominiert das Hydroxy-Omeprazol, das durch Oxidation unter Mitwirkung des Cytochrom P450-Isoenzyms CYP2C19 gebildet wird. Allerdings wird aus dem (S)-Enantiomer etwa 10-mal weniger Hydroxy-Omeprazol als aus dem (R)-Enantiomer gebildet. Auf der anderen Seite entsteht aus (S)-Omeprazol eine größere Menge des 5-O-Desmethyl- (über CYP2C19) und des Sulfon-Metaboliten (über CYP3A4) als aus (R)-Omeprazol. Die Gesamtmenge der drei Metaboliten ist bei (R)-Omeprazol etwa dreimal so hoch wie bei (S)-Omeprazol, das also insgesamt langsamer inaktiviert und ausgeschieden wird.

Nach Applikation gleicher Dosen von Omeprazol-Racemat und (S)-Omeprazol erhält man für (S)-Omeprazol eine größere AUC (area under the plasma concentration ­ time curve). Dieser Effekt verstärkt sich durch wiederholte Applikation. Es ist erwiesen, dass die Wirkung, das heißt die Hemmung der Magensäuresekretion, mit der AUC korreliert. Insgesamt wird (S)-Omeprazol (Beispiel: Nexium® mups) langsamer verstoffwechselt und soll deshalb den pH-Wert des Magens über einen längeren Zeitraum als Omeprazol-Racemat erhöhen (8). Klinisch ist dies offensichtlich nicht relevant, denn Omeprazol und Esomeprazol werden in gleicher Dosis verabreicht.

Unterschiedliche Toxizität

Das relativ lang wirksame Lokalanästhetikum Bupivacain unterbricht die Reizleitung in sensorischen und motorischen Nervenfasern, indem es die spannungsabhängigen Na+-Kanäle, in höheren Konzentrationen auch K+- und Ca2+-Kanäle blockiert. Bupivacain wird zur Anästhesie bei kleineren und größeren chirurgischen Eingriffen eingesetzt, zum Beispiel zur lokalen Infiltrationsanästhesie, aber auch zur Epiduralanästhesie einschließlich Kaiserschnitt (Beispiel: Carbostesin®). Dabei oder durch versehentliche intravenöse Applikation kann das Lokalanästhetikum in den systemischen Kreislauf gelangen und systemische (Neben-) Wirkungen auslösen.

Durch Blockade kardialer Na+-Kanäle hat Bupivacain eine negativ inotrope und negativ chronotrope Wirkung am Herzen, die bis zum Herzstillstand führen kann. Das rechtsdrehende (R)-konfigurierte Enantiomer blockiert die kardialen Ionenkanäle länger und stärker als das (S)-Enantiomer. Im Tierversuch wurden ernsthafte Bradykardie und Blutdruckabfall beobachtet, die bis zum Tod der Tiere führten. Dagegen interagiert das im Jahr 2004 neu eingeführte (S)-Enantiomer Levobupivacain (Beispiel: Chirocain®) mit den kardialen Ionenkanälen weniger stark und löst deshalb weniger kardiale Nebenwirkungen aus. In vivo wurde gezeigt, dass Stärke und Dauer des lokalanästhetischen Effekts von Levobupivacain dem von (R)-Bupivacain entsprechen. Insgesamt wird mit der Einführung des enantiomerenreinen Arzneistoffs Levobupivacain nicht die Wirkung, sondern die Sicherheit verbessert (9).

Enantiomere in chiraler Umgebung

Diese Übersicht zeigt, dass die unterschiedlichen pharmakokinetischen und -dynamischen Eigenschaften von Enantiomeren auf ihrer unterschiedlichen Wechselwirkung mit chiralen Makromolekülen des menschlichen Organismus beruhen. Als chirale Makromoleküle kommen G-Protein-gekoppelte Rezeptoren, ligandgesteuerte Ionenkanäle, Enzyme oder Transportproteine infrage. Aber auch Enzyme, die an der Biotransformation von Arzneistoffen beteiligt sind, können zwischen Enantiomeren differenzieren und so die Gesamtwirkung beeinflussen. Schließlich ist auch der Aspekt der Wechselwirkung von Enantiomeren mit mehreren unterschiedlichen Makromolekülen (Selektivität) zu berücksichtigen ­ ein Zusammenspiel, das für Nebenwirkungen verantwortlich sein kann.

 

Literatur

  1. Gillard, M., et al., Binding Characteristics of Cetirizine and Levocetirizine to Human H1 Histamine Receptors: Contribution of Lys191 and Thr194. Mol. Pharmacol. 61 (2002) 391-399.
  2. a) Blaschke, G., Hempel, G., Müller, W. E., Preparative and Analytical Separation of the Zopiclone Enantiomers and Determination of Their Affinity to the Benzodiazepine Receptor Binding Site. Chirality 5 (1993) 419-421
    b) Culy, C., Castaner, J., Bayes, M., Eszopiclone. Drugs Fut. 28 (2003) 640-646; c) Stein, D. J., et al., Escitalopram in the treatment of social anxiety disorder: An analysis of efficacy in different clinical subgroups. Drugs Fut. 29 (2004) 946-948.
  3. a) Fujimoto, T., Mitsuhashi, S., In vitro antibacterial activity of DR-3355, the S-(-)-isomer of ofloxacin. Chemother. 36 (1990) 268-276
    b) Hayakawa, I., et al., Synthesis and antibacterial activities of optically active ofloxacin. Antimicrob. Agents Chemother. 29 (1986) 163-164.
  4. a) Mathisen, L. C., et al., Effect of ketamine, an NMDA receptor inhibitor, in acute and chronic orofacial pain. Pain 61 (1995) 215-220
    b) Hustveit, O., Maurset, A., Oye, I., Interaction of the Chiral Forms of Ketamine with Opioid, Phencyclidine, σ and Muscarinic Receptors. Pharmacology & Toxicology 77 (1995) 355-359
    c) Hirota, K., et al., Stereoselective Interaction of Ketamine with Recombinant µ, k, and σ Opioid Receptors Expressed in Chinese Hamster Ovary Cells. Anesth. 90 (1999) 174-182.
  5. Chen, F., et al., The S-enantiomer of R,S-citalopram, increases inhibitor binding to the human serotonin transporter by an allosteric mechanism. Comparison with other serotonin transporter inhibitors. Eur. Neuropsychopharmacology 15 (2005) 193-198.
  6. a) Evans, A. M., Comparative Pharmacology of S(+)-Ibuprofen. Clin. Rheumatol. 1 (2001) 9-14
    b) Mayer, J. M., Testa, B., Pharmacodynamics, pharmacokinetics and toxicity of ibuprofen enantiomers. Drug Fut. 22 (1997) 1347-1366
    c) Boneberg, E. M., Zou, M.-H., Ullrich, V., Inhibition of Cyclooxygenase-1 and -2 by R(-)- and S(+)-Ibuprofen. J. Clin. Pharmacol. 36 (1996) 16S-19S.
  7. a) Mauleón, D., Dexketoprofen Trometamol. Drug Fut. 21 (1996) 587-592
    b) Carabaza, A., et al., Stereoselective Inhibition of Inducible Cyclooxygenase by Chiral Nonsteroidal Antiinflammatory Drugs. J. Clin. Pharmacol. 36 (1996) 505-512
    c) Suessa, N., et al., Stereoselective Cyclooxygenase Inhibition in Cellular Models by the Enantiomers of Ketoprofen. Chirality 5 (1993) 589-595.
  8. a) Äbelö, A., et al., Stereoselective Metabolism of Omeprazole by Human Cytochrome P450 Enzymes. Drug Metab. Dispos. 28 (2000) 966-972
    b) Andersson, T., et al., Pharmacokinetic Studies with Esomeprazole, the (S)-Isomer of Omeprazole. Clin. Pharmacokinet. 40 (2001) 411-426.
  9. (9) Sorbera, L. A., Graul, A., Castaner, J., Levobupivacaine. Drug Fut. 23 (1998) 838-842.

 

Der Autor

Bernhard Wünsch studierte Pharmazie in München und erhielt 1984 die Approbation als Apotheker. Nach der Promotion (1987) habilitierte er sich 1993 für das Fach Pharmazeutische Chemie. 1996 folgte Wünsch einem Ruf auf die C3-Professur für Pharmazeutische Chemie an der Universität Freiburg, wo er 1999 bis 2002 als Studiendekan wirkte. Seit Herbst 2002 ist er C4-Professor für Pharmazeutische Chemie an der Universität Münster, seit diesem Sommersemester Dekan des Fachbereichs Chemie und Pharmazie. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen die Entwicklung neuer Liganden für verschiedene Rezeptoren (sigma-, Opioid-, Glutamat-Rezeptoren) im Zentralnervensystem. Ein besonderer Schwerpunkt ist dem Einfluss der Stereochemie der neuen Liganden auf die Rezeptoraffinität und -selektivität gewidmet.

 

Anschrift des Verfassers:
Professor Dr. Bernhard Wünsch
Institut für Pharmazeutische und Medizinische Chemie
Westfälische-Wilhelms-Universität
Hittorfstraße 58-62
48149 Münster
wuensch@uni-muenster.de
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