Der Thrombosegefahr vorbeugen |
10.06.2002 00:00 Uhr |
Trotz der hohen Inzidenz thromboembolischer Erkrankungen standen lange Zeit nur Heparin und Cumarinderivate für die Prophylaxe und Therapie zur Verfügung. Heute gelten die niedermolekularen Heparine als Mittel der Wahl in der Prophylaxe. Jedoch sind sie auch keine optimalen Antikoagulantien, so dass man intensiv nach spezifischeren, effizienteren und sichereren Arzneistoffen sucht.
Für die Behandlung thromboembolischer Erkrankungen gibt es drei Ansatzpunkte: die Beeinflussung der Plättchenaggregation, die Hemmung der plasmatischen Blutgerinnung sowie die Auflösung bereits gebildeter Thromben, wobei die Kombination dieser drei Prinzipien sehr bedeutend ist. Hier wird die Entwicklung der Antikoagulantien vorgestellt.
Während man heute versucht, mit den Methoden des modernen "Drug Design" gezielt spezifisch wirkende Arzneistoffe zu entwickeln, spielte in den Anfängen der Arzneistoffentwicklung die "Serendipity" eine große Rolle (1). So gingen die ersten etablierten Antikoagulantien, nämlich Heparin und die Cumarinderivate, aus Zufallsentdeckungen hervor, die man mit "Sagacity" weiterentwickelte.
Serendipity und Sagacity Der Begriff Serendipity, das heißt "die Gabe, zufällig glückliche und unerwartete Entdeckungen zu machen" wurde 1754 von Sir Horace Walpole (1717 bis 1797), Earl of Oxford und Mitglied des Englischen Parlaments, geprägt. Er schrieb, beeindruckt über das Märchen "The Three Princes of Serendip" (Serendip ist der alte Name für Sri Lanka): "... as their highnesses travelled, they were always making discoveries, by accidents and sagacity, of things which they were not in quest of". Die Geschichte handelt von drei Prinzen, die ihre Heimat verließen, um durch die Welt zu ziehen. Selten fanden sie die Schätze, nach denen sie suchten, entdeckten aber per Zufall und durch ihren Scharfsinn andere, teilweise sogar größere Kostbarkeiten. Ein Paradebeispiel dieser Art stellt die Entdeckung des Penicillins durch Paul Fleming dar.
Orale Antikoagulantien
1922 wurde erstmals über ein Viehsterben in Nordamerika berichtet, das durch starke Blutungen der Tiere verursacht worden war. Die Suche nach der Ursache führte schließlich zu einer gerinnungshemmenden Substanz aus faulendem Süßklee, die als Dicumarol (3,3'-Methylen-bis(4'-Hydroxycumarin); INN-Name Bishydroxycumarin) identifiziert wurde (2). Es handelt sich dabei um ein Abbauprodukt von Cumarin, das in vielen Pflanzen als Glykosid vorkommt.
Eine Publikation von 1941 berichtet erstmals über die Anwendung von Dicumarol zur Gerinnungshemmung bei Patienten (3). In der Folgezeit wurden weitere Derivate des 4-Hydroxycumarins entwickelt. Von diesen so genannten Cumarinderivaten (chemisch nicht korrekt) oder oralen Antikoagulantien haben sich zwei profiliert, nämlich Warfarin (Coumadin®) vorwiegend in Nordamerika und Phenprocoumon (Marcumar®) in Europa, während ein drittes, Acenocoumarin (Sintrom®), nur noch eine untergeordnete Rolle spielt (4).
Die oralen Antikoagulantien wirken indirekt gerinnungshemmend, indem sie in die Biosynthese der Gerinnungsfaktoren VII, IX, X und II (Prothrombin), allerdings auch der Gerinnungsinhibitoren Protein C und Protein S eingreifen (5). Als Vitaminantagonisten verhindern sie die Vitamin K-abhängige g-Carboxylierung von Glutaminsäureresten in Präcursormolekülen der Gerinnungsfaktoren. Die als PIVKA ("protein induced by vitamin K absence") bezeichneten Defektproteine binden kaum noch Calciumionen, was jedoch für den Gerinnungsprozess essenziell ist. Aus diesem Wirkmechanismus resultiert eine gewisse Latenzzeit bis zum Wirkungseintritt, die von der biologischen Halbwertszeit der einzelnen Gerinnungsfaktoren abhängt (5). Erst 36 bis 48 Stunden nach Gabe entfalten orale Antikoagulantien ihre volle Aktivität. Ihre extrem hohe Eiweißbindung an Serumalbumin (5) führt zu einer langen Plasmahalbwertszeit, vielfältigen Interaktionen und einer schlechten Steuerbarkeit.
Dennoch - und nicht zuletzt aus Kostengründen - sind Warfarin und Phenprocoumon immer noch die am häufigsten zur Langzeit-Primär- und Sekundärprophylaxe thromboembolischer Erkrankungen eingesetzten Antikoagulantien (6).
Bremskraftverstärker Heparin
Im Gegensatz zu den oralen Antikoagulantien tritt die Wirkung von Heparin unmittelbar nach intravenöser Injektion ein. Es wirkt ebenfalls indirekt, indem es als "Bremskraftverstärker" der "Gerinnungsbremse" Antithrombin (AT) wirkt. Denn für seine antithrombotische Wirkung macht man hauptsächlich die AT-vermittelte Hemmung von Faktor Xa (FXa) und Thrombin verantwortlich (7). Antithrombin gehört zu den Serinprotease-Inhibitoren, den Serpinen, und ist der wichtigste endogene Hemmstoff der Serinproteasen der Gerinnungskaskade. Durch die Bindung von Heparin ändert dieser langsam reagierende "Progressivinhibitor" seine Konformation und wird zum "Sofortinhibitor" mit einer bis zu 10.000-fach höheren Reaktionsgeschwindigkeit (8).
Daneben verstärkt Heparin den endogenen Thrombininhibitor Heparin Cofactor II (9), und auch die Freisetzung von TFPI (tissue factor pathway inhibitor) aus dem Gefäßendothel soll zur Wirkung beitragen (10).
Ein Zufallsfund in Hundeleber
Die Geschichte von Heparin beginnt 1916, als der Medizinstudent Jay McLean ungewollt eine gerinnungshemmende Substanz aus Hundeleber isolierte, der sein Doktorvater William Henry Howell dem ursprünglichen Fundort entsprechend den Namen Heparin gab (11). Zunächst hielt man Heparin fälschlicherweise für ein Phospholipid; erst 1935 wurde es von Johan Erik Jorpes als hochsulfatiertes Glycosaminoglycan identifiziert (11, 12). Zeitgleich begann man bereits mit der klinischen Anwendung (13).
Die anfänglich beobachteten schweren Nebenwirkungen waren darauf zurückzuführen, dass das Heparin noch in hohem Maße verunreinigt war (11). Nach dem Zweiten Weltkrieg definierte die WHO den 1. Internationalen Standard für Heparin (WHO 1947/48) (12). 1967 wurde der Wirkstoff erstmalig standardisiert eingesetzt; die Fertigspritzen Calciparin® enthielten eine konzentrierte, auf eine bestimmte Aktivität eingestellte Heparinlösung. Erst über fünfzig Jahre nach seiner Entdeckung und nachdem es sich schon längst als Antikoagulans etabliert hatte, konnten Robert D. Rosenberg und Paul S. Damus 1973 den Wirkmechanismus aufklären (13).
Einen Meilenstein setzte Jean Choay, dem es 1983 in einer 75-stufigen Synthese gelang, die für die AT-Bindung verantwortliche Pentasaccharid-Sequenz zu synthetisieren (14). Die Definition von Low-dose Heparin als "Mittel der Wahl zur Prophylaxe venöser thromboembolischer Ereignisse (VTE)" 1986 war ein wichtiger Schritt für die medizinische Praxis (15).
Antithrombotikum mit Tücken
Anfang der siebziger Jahre stand mit Heparin ein effizientes Antithrombotikum zur Verfügung; man erkannte jedoch, dass es in seiner Wirksamkeit und Unbedenklichkeit nicht optimal ist (16). Außerdem hat Heparin weitere Nachteile, die zum Großteil darauf beruhen, dass das negativ geladene Polysaccharid an viele Plasmaproteine bindet und mit Plättchen, Makrophagen und Endothelzellen interagiert (17, 18).
Dies äußert sich in seiner kurzen Halbwertszeit und einer Bioverfügbarkeit von nur 15 bis 30 Prozent nach subkutaner Injektion (19). Folglich muss es mehrmals täglich injiziert oder als Dauerinfusion verabreicht werden (20). Eine weitere Konsequenz sind die mangelhaften Dosis-Wirkungs-Beziehungen (21). Zum einen ist die Pharmakokinetik dosisabhängig, zum anderen kann der gerinnungshemmende Effekt von Patient zu Patient erheblich schwanken bis hin zur Heparin-Resistenz. Obwohl Heparin auf Grund seines Wirkmechanismus ohnehin bei Patienten mit einem AT-Mangel nicht wirken kann, hat die Resistenz häufig andere, nicht vorhersehbare Ursachen (22).
Auch die Nebenwirkungen von Heparin sind letztlich auf seine starken Bindungstendenzen zurückzuführen (16). Neben Substanz-immanenten Blutungskomplikationen sind das bei Langzeitanwendung steigende Osteoporoserisiko und die Heparin-induzierte Thrombozytopenie vom Typ II (HIT) zu nennen.
Glossar
Die HIT ist die bedeutendste und häufigste Arzneimittel-induzierte, immunologisch bedingte Thrombozytopenie, deren Tragweite man Anfang der neunziger Jahre erkannte (23). Indem Heparin Plättchenfaktor 4 (PF4) bindet, entsteht ein Neoantigen, das zusammen mit Antikörpern große Immunkomplexe bildet, die die Thrombozyten aktivieren und so schließlich den charakteristischen Thrombozytenabfall verursachen (24). Trotz der Antikoagulation kommt es paradoxerweise zu schweren thrombotischen Komplikationen mit einer Mortalitäts- und Morbiditätsrate von 20 bis 30 Prozent (23). Je nach Patientengruppe kann die Inzidenz klinisch manifester HIT bis zu 3 Prozent betragen (16, 24). Bei der Diagnose HIT muss Heparin sofort abgesetzt und der Patient mit alternativen Antikoagulantien behandelt werden, die inzwischen zur Verfügung stehen (23).
Pharmakologisch betrachtet ist es schließlich ein Nachteil, dass Heparin Fibrin-gebundenes Thrombin nicht hemmen kann. Dies hat zur Folge, dass bei der natürlichen oder medikamentösen Lyse eines Thrombus gerinnungsaktives Thrombin freigesetzt wird (25).
Entwicklung der NMH
Die Entwicklung der niedermolekularen Heparine (NMH) ist eng mit den zunehmenden wissenschaftlichen Erkenntnissen zur Pharmakologie von Heparin verknüpft. Initiiert wurde sie, als man 1976 entdeckte, dass die FXa- nicht untrennbar mit der Thrombin-hemmenden Wirkung verbunden ist (26). Letztere wurde damals noch als Verlängerung der aktivierten partiellen Thromboplastinzeit (APTT) gemessen und eine lange APTT mit einem erhöhten Blutungsrisiko assoziiert (27).
Kurzkettige Moleküle, die man durch Fraktionierung von Heparin erhielt, verlängerten die APTT nicht mehr, besaßen aber noch ihre volle anti-FXa-Aktivität (26). Hieraus folgerte man, dass kurzkettiges Heparin die Blutungsinzidenz reduzieren könnte. Diese Hypothese bestätigte sich zunächst im Tierversuch, ist allerdings nach heutiger Erkenntnis nicht mehr haltbar (16, 28).
Das vom Molekulargewicht (MG) abhängige Wirkprofil der Heparine liegt im unterschiedlichen Mechanismus der FXa- und Thrombin-Hemmung begründet. Während für die Inaktivierung von FXa durch AT die Bindung des Heparinmoleküls an AT ausreicht, erfordert die Beschleunigung der Thrombin-AT-Komplexbildung zusätzlich die Bindung an Thrombin (29). Aus sterischen Gründen sind hierzu nur Heparinmoleküle mit einer Kettenlänge von mehr als 17 Monosacchariden beziehungsweise einem MG größer als 5,4 kDa in der Lage (30). Daher weisen die NMH stets eine im Vergleich zu ihrer anti-FXa-Aktivität deutlich geringere anti-Thrombin-Aktivität auf (31).
Kein NMH gleicht dem anderen
Heute werden NMH entweder durch chemische (saure Hydrolyse, radikalische Oxidation oder basische b-Elimination) oder enzymatische Degradation aus unfraktioniertem Heparin (UFH) gewonnen, wobei de facto jedes NMH nach einem eigenen Protokoll hergestellt wird (32). Laut Definition der Europäischen Pharmakopöe besteht ein NMH mindestens zu 60 Prozent (m/m) aus Heparinmolekülen mit einem MG kleiner als 8 kDa (33). Dies schließt jedoch nicht aus, dass sich die diversen NMH ganz beträchtlich in ihrer MG-Verteilung unterscheiden (34). Hinzu kommt, dass sich je nach Degradationsmethode unterschiedliche chemische Veränderungen ergeben (32).
Physikochemisch betrachtet gleicht somit kein NMH dem anderen. Dies manifestiert sich in ihren biochemischen Parametern, beispielsweise ihrer anti-FXa- und anti-Thrombin-Aktivität oder ihrer Fähigkeit, TFPI zu mobilisieren (32). Ob sich die NMH jedoch auch klinisch unterscheiden, kann mangels entsprechender Studien nicht beurteilt werden.
In Tabelle 1 (pdf-Format) sind die derzeit klinisch eingesetzten NMH aufgelistet, wobei in Deutschland derzeit sechs verfügbar sind (33). Bereits die wenigen angegebenen Parameter demonstrieren die Diversität. Das kleinste mittlere MG liegt bei 3,6 kDa, das größte bei 6,5 kDa. Die anti-FXa-Aktivität reicht von 70 bis 145 I.U./mg, und das Verhältnis der anti-FXa- zur anti-Thrombin-Aktivität schwankt zwischen 1,5 und 8,1. Jüngst wurde mit Bemiparin (Hibor®) das erste "NMH der zweiten Generation" von der Europäischen Kommission zugelassen (34). Als Konsequenz seines sehr niedrigen mittleren MG ist seine anti-FXa-Aktivität (80 bis 90 I.U./mg) sogar achtmal höher als seine anti-Thrombin-Aktivität (10 bis 15 I.U./mg) (35).
Trotz ihrer Diversität haben alle NMH einige Gemeinsamkeiten, in denen sie sich deutlich von UFH unterscheiden (Tabelle 2 - pdf-Format). Ein grundlegendes Merkmal ist ihre geringere Tendenz, unspezifisch an Proteine und Zellen zu binden (16).
Zum einen führt dies dazu, dass die Interaktionen mit Thrombozyten schwächer ausgeprägt sind, die NMH nicht durch PF4 neutralisiert werden und in logischer Konsequenz auch viel seltener HIT induzieren (36 - 38). Zum anderen äußert sich dies in ihrer Pharmakokinetik, dem entscheidenden Vorteil der NMH. Ihre Halbwertszeit ist ungefähr doppelt so lang wie die von UFH und nicht dosis-, sondern höchstens substanzabhängig (16). Subkutan appliziert sind NMH fast vollständig bioverfügbar, sie werden ausschließlich renal eliminiert. Die Folge sind konstante Dosis-Wirkungs-Beziehungen, so dass bis auf Ausnahmen die einmal tägliche subkutane Gabe ausreicht und in der Regel keine Laborkontrolle erforderlich ist.
Die NMH auf dem Vormarsch
Mit Nadroparin (Fraxiparin®) wurde 1986 weltweit das erste NMH zur VTE-Prophylaxe zugelassen. Fünf Jahre später wurden die NMH während der Europäischen Konsensuskonferenz als wirkungsvollste VTE-Prophylaxe im Hochrisikobereich, das heißt in der orthopädischen Chirurgie und bei multitraumatisierten Patienten deklariert (39). Im Vergleich zu UFH gelten sie bei der VTE-Prophylaxe in der Allgemeinchirurgie als "mindestens gleich wirksam und sicherer", in der Inneren Medizin als "gleich wirksam wie low dose-Heparin" und bei der Prophylaxe von wiederkehrenden venösen Thrombosen als "mindestens gleich wirksam und gleich sicher" (40). Zusätzlich sind sie - im Gegensatz zu UFH - in der Thrombose-Prophylaxe bei akuten Rückenmarksverletzungen wirksam (41).
1992 erhielt Nadroparin als erstes NMH die Zulassung zur Therapie der tiefen Beinvenenthrombose, in Deutschland allerdings erst 1997. Aktuell stehen in Deutschland Nadroparin, Enoxaparin und Tinzaparin für die Therapie der tiefen Beinvenenthrombose zur Verfügung, vier (Dalteparin, Enoxaparin, Nadroparin und Tinzaparin) für die Hämodialyse und Hämofiltration. Im März 2000 erhielt Enoxaparin (Clexane®) die Zulassung für die Prophylaxe bei nicht-chirurgischen Patienten sowie für den Einsatz beim akuten Koronarsyndrom (33). Die Wirksamkeit von NMH wird zur Zeit bei einer Reihe weiterer Indikationen geprüft (Tabelle 3 - pdf-Format) (16, 42 - 51). Teils ist die Entwicklung schon sehr weit, teils steckt sie noch in den Anfängen.
Der Makel der Natur
Wie UFH sind jedoch auch die NMH Naturprodukte, deren Zusammensetzung stark schwankt (52). Sie werden aus tierischem Material gewonnen, so dass prinzipiell ein Kontaminationsrisiko mit Pathogenen besteht. So waren Heparine bovinen Ursprungs Anfang der neunziger Jahre vom Stufenplanverfahren im Rahmen des BSE-Problems betroffen.
Mittlerweile werden die in Europa zugelassenen Heparine ausschließlich aus Schweinedarmmukosa isoliert. Allerdings könnten irgendwann die Ressourcen (53) knapp werden. Einerseits ist der Schweinefleischverzehr rückläufig, andererseits werden heute jährlich über zwanzig Millionen Menschen in Europa und den USA mit Heparin behandelt. Der Bedarf steigt, da Heparin weltweit in immer mehr Ländern eingesetzt wird, bei immer mehr Indikationen und individuell über einen längeren Zeitraum (Langzeitprophylaxe). Da dieser Trend besonders für die NMH gilt, benötigt man umso mehr UFH als Ausgangsmaterial für die Herstellung.
Ferner sind auch die NMH keine spezifisch wirkenden Arzneistoffe, sondern eher multivalente Biomodulatoren. Bei einer Thromboseinzidenz von bis zu 50 Prozent in der orthopädischen Chirurgie und einem nicht wesentlich reduziertem Blutungsrisiko sind bessere Wirkstoffe durchaus wünschenswert (54).
Wirkstoffsuche auf neuen Wegen
Ein entscheidender Stimulus, nach Alternativen zu Heparin zu suchen, war die HIT, die zwar bei den NMH viel seltener auftritt, bei der aber ihre Anwendung ebenfalls streng kontraindiziert ist.
Einige Entwicklungen orientieren sich am Heparin und sind ebenfalls sulfatierte Polysaccharide. Den größten Bekanntheitsgrad hat Danaparoid (Orgaran®), ein aus Schweinedarmmucosa isoliertes Glycosaminoglycangemisch, das in Deutschland seit 1998 für den Einsatz bei HIT zugelassen ist (55). Erwähnenswert ist auch SNAC (sodium N-[8-(2-hydroxybenzoyl)amino]caprylate)-Heparin, ein oral verfügbares UFH, dessen Wirksamkeit in der Thromboseprophylaxe derzeit in einer ersten Phase-III-Studie klinisch geprüft wird (56). Angesichts der drohenden Verknappung der Heparin-Quellen wird dieser Ansatz zu Recht kritisiert, denn durchschnittlich 83 Prozent des verabreichten SNAC-Heparins werden unverändert ausgeschieden (57).
Um die Verwendung von tierischem Material zu umgehen, versucht man auch, Heparin durch chemische und enzymatische Modifikation eines biotechnologisch gewonnenen Kapselpolysaccharids aus E. coli-K5 herzustellen (58). Allerdings hat diese Entwicklung noch nicht die Phase der klinischen Prüfung erreicht. Schließlich gibt es noch Nischenprodukte wie Dermatansulfat oder Sulodexide® (59, 60).
Ganz neue Wege eröffnet das rationale Drug Design. Man fahndet nach geeigneten Targets und versucht dann, "maßgeschneiderte", spezifisch wirkende Antikoagulantien zu entwickeln. Die verschiedenen Strategien lassen sich nach dem Angriffspunkt innerhalb der Gerinnungskaskade einteilen in (Tabelle 4 - pdf-Format) (61): Verstärkung endogener Inhibitoren, Hemmung der Gerinnungsaktivierung, Hemmung von Thrombin oder der Thrombinbildung.
Verstärkung endogener Inhibitoren
Neben diversen Ansätzen, die sich alle noch im vorklinischen Stadium befinden, stehen derzeit die drei Inhibitoren AT, aktiviertes Protein C (APC) und TFPI für die Behandlung der Sepsis im Mittelpunkt (62). Bei dieser Indikation sind neben der Gerinnungshemmung besonders die antiinflammatorischen Effekte von Bedeutung.
Drotrecogin alfa (Xigris®), ein rekombinantes APC, wurde im November 2001 von der FDA zum Einsatz bei schwerer Sepsis zugelassen (63). Antithrombin III (Kybernin®) und Tifacogin, ein rekombinantes TFPI, hingegen reduzierten nach viel versprechenden Phase-II-Untersuchungen in den ersten Phase-III-Studien die Mortalität bei Sepsis-Patienten nicht signifikant (64, 65).
Hemmung der Gerinnungsaktivierung
TFPI ist der endogene Hemmstoff der Gerinnungsaktivierung durch Tissue Factor (TF) (66). Er bindet zunächst an FXa, um dann mit TF/FVIIa einen quaternären Komplex zu bilden und so die Gerinnung bereits initial zu unterbinden. Ein weiterer interessanter Kandidat mit dem gleichen Wirkmechanismus ist rNAPc2 (recombinant nematode anticoagulant protein), die Rekombinante eines kleinen Proteins von einem Blut saugenden Hakenwurm (61). Letztes Jahr wurden die Ergebnisse der erfolgreichen Phase-II-Testung bei Kniegelenksersatz sowie PTCA (perkutane transluminale Koronarangioplastie) vorgestellt (67).
Hemmung von Thrombin
Am weitesten gediehen ist bislang die Strategie, Thrombin, das Schlüsselenzym der Gerinnung zu blockieren. Im Gegensatz zu Heparin zeichnen sich die direkten Thrombininhibitoren dadurch aus, dass sie auch Fibrin-gebundenes Thrombin hemmen (Abbildung 4) (68).
Das prominenteste Beispiel ist der Naturstoff Hirudin, ein Polypeptid aus dem Speichel des Blutegels Hirudo medicinalis, der heute gentechnisch produziert wird (69). Mit Lepirudin (Refludan®) wurde im März 1997 das erste Arzneimittel zur Behandlung von HIT-Patienten in der Europäischen Union zugelassen. Ein zweites rekombinantes Hirudin, Desirudin (Revasc®), erhielt im Juli 1997 die europäische Zulassung zur VTE-Prophylaxe nach Hüftgelenksersatz.
In Anlehnung an Hirudin wurden weitere Peptidanaloga mit spezifischer Wirkung auf das Thrombinmolekül entwickelt. Bivalirudin (Angiomax®), das frühere Hirulog, kann seit Dezember 2000 in den USA und Kanada alternativ zu Heparin zusammen mit Acetylsalicylsäure bei der PTCA eingesetzt werden. Es handelt sich um ein bivalentes Oligopeptid mit primär gleichen Bindungseigenschaften wie Hirudin (70). Das Hirudin-analoge carboxyterminale Dodecapeptid bindet an die Substratbindungsdomäne, die das Fibrinogenmolekül erkennt; dieses ist über vier Glycinreste mit dem Tetrapeptid D-Phe-Pro-Arg-Pro verknüpft, das das aktive Zentrum blockiert. Die alleinige Bindung an die Substratbindungsdomäne wie beim Hirugen, einem kurzkettigen synthetischen Hirudinderivat, war klinisch nicht erfolgreich (71).
Seit vielen Jahren versucht man, nichtpeptidische niedermolekulare spezifische Thrombininhibitoren zu entwickeln. Bislang hat sich jedoch keine Substanz als Arzneistoff etablieren können. Nun steht mit Argatroban (Novastan®) erstmals ein vollsynthetischer, peptidischer Thrombinhemmstoff zur Verfügung (72). Das Argininderivat bindet mit hoher Affinität, aber reversibel an die apolare Bindungsstelle nahe des aktiven Zentrums und blockiert so die katalytische Bindungsstelle. Argatroban wurde im Juni 2000 in den USA und Kanada zur VTE-Prophylaxe bei HIT-Patienten zugelassen und im April dieses Jahres auch als Antikoagulans bei HIT-Patienten, die sich einer PCI (perkutane koronare Intervention) unterziehen.
Zwei weitere viel versprechende synthetische Peptide sind Melagatran (Exanta®) und sein oral verfügbares Derivat Ximelagatran (H376/95, Exanta®). Sie werden zur Zeit in Phase-III-Studien zur Thromboseprophylaxe und -behandlung sowie zur Schlaganfallprophylaxe bei Vorhofflimmern untersucht (73).
Hemmung der Thrombinbildung...
Da Thrombin nicht nur für die Fibrinbildung verantwortlich ist, sondern durch positive Rückkopplung auch seine eigene Entstehung verstärkt und zudem einer der potentesten Thrombozytenaktivatoren ist, erscheint es sinnvoll, seine Bildung zu verhindern. Dies gelingt, indem man Faktor Xa hemmt, der Prothrombin zu Thrombin aktiviert. Daher sucht man seit ungefähr zehn Jahren intensiv nach FXa-Hemmstoffen.
Neben seiner zentralen Stellung innerhalb der Gerinnungskaskade besitzt FXa weitere physiologische Funktionen (74). Beispielsweise stimuliert er die TF-Expression in Monozyten und wirkt mitogen auf glatte Muskelzellen. Hieraus leitet man ab, dass FXa-Hemmstoffe Restenosen nach koronaren Interventionen verhindern könnten.
...durch Faktor Xa-Hemmstoffe
Mit Fondaparinux (Arixtra®) wurde in den USA am 7. Dezember 2001 weltweit der erste spezifisch wirkende FXa-Hemmstoff zur VTE-Prophylaxe "bei Patienten, die sich größeren orthopädischen Eingriffen an den unteren Extremitäten unterziehen, wie beispielsweise Hüftfrakturen, größeren Knie- oder Hüftgelenksersatzoperationen" zugelassen und ist seit Februar 2002 dort auf dem Markt (75). Ende März 2002 erteilte die Europäische Kommission die EU-Zulassung.
Fondaparinux ist ein synthetisch hergestelltes sulfatiertes Pentasaccharid, das spezifisch mit hoher Affinität an AT bindet (76). Im Gegensatz zu Heparin hemmt es ausschließlich FXa und besitzt mit 700 I.U./mg eine vielfach höhere spezifische Aktivität.
Vier weitere synthetisch hergestellte FXa-Inhibitoren befinden sich in Phase II der klinischen Prüfung: Sanorg-34006, CI-1031, DPC-906 und DX-9065a (77). Sanorg-34006 ist ebenfalls ein sulfatiertes Oligosaccharid, das sich wegen seiner extrem langen Halbwertszeit von etwa einer Woche für die Langzeitprophylaxe eignet (78). CI-1031 und DPC-906 sind Produkte des strukturbasierten Drug Designs und werden hinsichtlich ihrer Wirksamkeit beim akuten Koronarsyndrom beziehungsweise in der VTE-Prophylaxe untersucht (79, 80). Für die Entwicklung des niedermolekularen Peptidomimetikums DX9065a diente das Blutegelprotein Antistasin als Leitstruktur (61). In klinischen Studien wird seine Effizienz bei PTCA und instabiler Angina getestet (81).
Während DX9065a ein direkter Inhibitor ist und stöchiometrisch an FXa-Moleküle bindet, wirkt Fondaparinux indirekt, indem es als Katalysator von AT fungiert. Es bindet an Antithrombin und beschleunigt durch eine Konformationsänderung die FXa-AT-Komplexbildung, wird dann aber freigesetzt und steht für das nächste AT-Molekül zur Verfügung (82).
Pharmakologie von Fondaparinux
Im Vergleich zu den NMH zeigt Fondaparinux beträchtliche Vorteile (Tabelle 5 - pdf-Format) (76, 82, 83). Auf Grund der synthetischen Herstellung ist eine Kontamination mit Pathogenen ausgeschlossen. Während die NMH polydisperse Molekülgemische darstellen, handelt es sich bei Fondaparinux um ein chemisch definiertes Molekül ohne jegliche Chargenvariabilität. Es hemmt ausschließlich FXa, wogegen die NMH als multivalente Biomodulatoren wirken. Wegen ihrer Polydispersität und Chargenvariabilität werden die NMH nach ihrer mehr oder weniger vergleichbaren aXa-Aktivität dosiert, während Fondaparinux in eindeutig definierten mg-Dosen verabreicht werden kann.
Fondaparinux zeichnet sich durch günstige pharmakokinetische Eigenschaften aus. Nach subkutaner Anwendung wird es vollständig und schnell resorbiert. Bereits nach 25 Minuten ist der halbmaximale Plasmaspiegel erreicht (bei NMH erst nach 60 Minuten). Seine Eliminationshalbwertszeit ist mit etwa 17 Stunden vier bis fünf Mal länger als die der NMH. Daher genügt bei allen Indikationen die Einmalgabe pro Tag. Für die Prophylaxe beträgt die Dosis 2,5 mg. Weder Laborkontrolle noch Dosisanpassung sind erforderlich.
Im Gegensatz zu den NMH besitzt Fondaparinux keine unspezifischen Bindungseigenschaften. Daher beeinflusst es weder die Plättchenfunktion und -aggregation noch reagiert es mit den Akute-Phase-Proteinen, zu denen auch PF4 zählt. Folglich ist es nicht in der Lage, das für die HIT verantwortliche Neoantigen zu bilden. In Gegenwart von HIT-assoziierten Antikörpern sind keine Kreuzreaktionen zu beobachten, während diese bei den NMH und Danaparoid mit einer Häufigkeit von 75 respektive 10 Prozent auftreten (84, 85).
Die Wirksamkeit von Fondaparinux wurde in einem umfangreichen Studienprogramm an mehr als 8000 Patienten belegt (76, 86 - 90). In einer gepoolten Analyse der vier Phase-III-Studien (zwei zum Einsatz bei Hüftgelenksersatz, je eine bei Hüftfraktur und größeren Knieoperationen) reduzierte Fondaparinux gegenüber der Referenz Enoxaparin das Risiko venöser thromboembolischer Ereignisse signifikant um 54 Prozent (95 % CI: 44 bis 63 Prozent), während das Blutungsrisiko in beiden Gruppen gleich war (76).
Herrn Professor Dr. Gerhard Franz zu seinem 65. Geburtstag gewidmet.
Literatur
bei der Verfasserin.
Die Autorin
Susanne Alban ist Apothekerin und wurde an der Universität Regensburg 1989 promoviert. Die Arbeit über "Neuartige Heparinoide" wurde mit dem Kulturpreis Ostbayern ausgezeichnet. Sie verbrachte Forschungsaufenthalte an mehreren Universitäten, unter anderem an der Loyola-University in Chicago. Ihre Forschung zu biologischen Aktivitäten sulfatierter Kohlenhydrate wurde mit dem Bayerischen Habilitations-Förderpreis 1996 - Hans-Zehetmair-Preis unterstützt. 1999 habilitierte sie sich für das Fach Pharmazeutische Biologie. Für die Habilitationsarbeit erhielt sie das Graduierten-Stipendium 2000 der Novartis-Stiftung für therapeutische Forschung. Derzeit ist sie als Oberassistentin am Institut für Pharmazie der Universität Regensburg in Forschung und Lehre tätig.
Anschrift der Verfasserin:
Privatdozentin Dr. Susanne Alban
Institut für Pharmazie
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