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Von authentischen Proteinen zu Muteinen und Chimären

31.05.1999  00:00 Uhr

-TitelGovi-Verlag

GENTECHNIK

Von authentischen Proteinen zu Muteinen und Chimären

von Ilse Zündorf, Frankfurt

In Deutschland sind gegenwärtig 33 verschiedene gentechnisch hergestellte Proteine als Bestandteile von rund fünfzig Medikamenten zugelassen. Darunter befinden sich ein rekombinanter Impfstoff in mehreren Kombinationen und gentechnisch modifizierte Maus-Antikörper. Nur sechs dieser rekombinanten Proteine werden auch in Deutschland produziert.

Der Apothekenumsatz mit gentechnisch hergestellten Arzneimitteln ist 1997 nach Angaben des Verbandes der Forschenden Arzneimittelhersteller (VFA) im Vergleich zum Vorjahr von 1,2 auf 1,8 Milliarden DM gestiegen. Gentechnisch hergestellte Arzneimittel werden heute ganz selbstverständlich verschrieben und angewendet. Allerdings ist dem Arzt, Apotheker oder Patienten nicht immer klar, was hinter dieser Herstellung steckt und welchen Vor- oder aber auch Nachteil der ein oder andere rekombinante Wirkstoff in sich birgt.

Die Natur hat mit dem universellen Code, also der bei allen Organismen verständlichen genetischen Information für die verschiedenen, proteinogenen Aminosäuren, die Voraussetzungen geschaffen, Artgrenzen zu überschreiten und zum Beispiel menschliche Proteine in jedem beliebigen Organismen — vom Einzeller bis zum Säugetier — synthetisieren zu lassen. Mit Erfindung der Gentechnik im Jahre 1973 wurden schließlich auch die erforderlichen theoretischen Konzepte und das praktische Werkzeug zur Verfügung gestellt. Damit erschloß man eine ganz neue Quelle, Mangelkrankheiten wie Diabetes mellitus oder Hämophilie A, die derzeit nicht mit kleinen, chemisch synthetisierten Wirkstoffen heilbar sind, zu behandeln. Bei diesen Mangelkrankheiten muß das fehlende Protein, Insulin beziehungsweise Faktor VIII, substituiert werden. Bis vor knapp dreißig Jahren standen als Lieferanten dieser Proteine nur natürliche Quellen wie Schweinepankreas beziehungsweise humane Blutkonserven zur Verfügung.

Es stellte sich sehr schnell heraus, daß die gentechnisch hergestellten Proteine zum einen im größeren Umfang verfügbar und zum anderen frei von Kontaminationen mit infektiösen Partikeln waren und somit einen erheblichen Fortschritt in der Arzneimittelentwicklung darstellten. Doch was sind gentechnisch hergestellte Arzneimittel?

Definitionsgemäß immer ein Protein

Im Europäischen Arzneibuch sind gentechnisch hergestellte Arzneimittel folgendermaßen definiert:

DNA-rekombinationstechnisch hergestellte Produkte werden durch genetische Modifikation hergestellt, bei der die kodierende DNA für das benötigte Produkt gewöhnlich mit Hilfe eines Plasmids oder viralen Vektors in einen geeigneten Mikroorganismus oder eine geeignete Zellinie eingeführt wird, in denen diese DNA exprimiert und in Protein translatiert wird. Das gewünschte Produkt wird dann durch Extraktion und Reinigung gewonnen.

Gentechnisch hergestellte Produkte sind nach dieser rechtskräftigen Definition also immer Proteine. Somit zählen Nukleinsäuren und in gentechnisch veränderten Mikroorganismen hergestellte Aminosäuren nicht dazu. Auch klassisch hergestellte monoklonale Antikörper sind nach dieser Definition keine gentechnisch hergestellten Produkte, da im Rahmen ihrer Herstellung die kodierende Nukleinsäure nicht gentechnisch modifiziert wird.

Andererseits wird durch die Arzneibuchdefinition der Extraktion und Reinigung ein wichtiger Stellenwert zuteil, so daß in der Zulassung gentechnisch hergestellter Arzneimittel nicht nur das Endprodukt, sondern das gesamte Herstellungsverfahren mit einbezogen wird. Dies hat zur Folge, daß zwei molekular identische Proteine, die über zwei verschiedene Verfahren hergestellt wurden, zwei unterschiedliche Wirkstoffe sind und demzufolge auch jeweils eine eigene Zulassung benötigen. Auf diese Weise soll verhindert werden, daß es durch eine Änderung des Herstellungsverfahrens zu ähnlich dramatischen Folgen kommt wie seinerzeit bei der Tryptophan-Herstellung.

Die derzeit zugelassenen gentechnisch hergestellten Arzneimittel in Deutschland listet die Tabelle auf.

Medikamente für viele Indikationen

Unter den zugelassenen, gentechnisch hergestellten Medikamenten befinden sich verschiedene Hormone wie Insulin und Glucagon zur Behandlung von Stoffwechselerkrankungen oder Calcitonin zur Behandlung der Paget’s Krankheit, der krankhaften Hypercalcaemie oder der Osteoporose.

Das Follikel-stimulierende Hormon (FSH) hat inzwischen eine wichtige Rolle beispielsweise zur Vorbereitung einer In-vitro-Befruchtung erhalten. Aus den natürlichen Quellen, dem Urin postmenopausaler Frauen, wäre der steigende Bedarf nicht mehr zu decken; darüber hinaus ist die Aufreinigung einfacher und letztlich auch die Qualität des Wirkstoffes durch die gentechnische Herstellung deutlich besser.

Das humane Wachstumshormon zur Behandlung des Minderwuchses bei Kindern wurde 1985 fast "über Nacht" zugelassen, als beobachtet wurde, daß nach Behandlung mit natürlichem Somatropin gehäuft die Jakob-Creutzfeldt-Krankheit auftrat. Offensichtlich wurden bei der Gewinnung des Hormons aus natürlichen Quellen, nämlich der Hirnanhangdrüse (Hypophyse) Verstorbener, die krankheitsverursachenden Prionen mit isoliert.

Als Hormon des blutbildenden Systems ist Erythropoetin vor allem wichtig für Patienten mit chronischer Niereninsuffizienz. Sie entwickeln mit dem Fortschreiten der Krankheit eine Anämie, die durch eine ungenügende Bildung von Erythropoetin in der Niere verursacht wird. Dialysepatienten und auch Patienten im Prädialysestadium sind nicht in der Lage, die vermehrten Blutverluste und die gesteigerte Hämolyseneigung mit einer verstärkten Neubildung von Erythrozyten zu kompensieren, so daß sie auf die Substitution mit Erythropoetin angewiesen sind.

Eine ganz andere Substanzklasse sind Enzyme wie DNase I, die zur Behandlung der Mucoviszidose zugelassen ist, um den Schleim in den Lungen der Patienten etwas flüssiger werden zu lassen. Die Glucocerebrosidase zur Behandlung der Gaucher-Krankheit ist der einzige Wirkstoff, der ein intrazelluläres Ziel hat. Verschiedene rekombinante Wirkstoffe greifen in die Blutgerinnung ein.

Zur Verhinderung von Thromben sind zwei verschiedene Hirudin-Präparate zugelassen. Nach der Bildung von Thromben helfen Plasminogenaktivatoren, die Blutgerinnsel wieder aufzulösen. Bei Hämophilie A oder B werden die rekombinanten Blutgerinnungsfaktoren VIII beziehungsweise IX sowie im Bedarfsfall auch Faktor VII substituiert. Durch die gentechnische Herstellung wurde hier die Produktsicherheit enorm verbessert, waren doch Blutgerinnungsfaktoren aus natürlichen Quellen zum Teil massiv mit Hepatitis- oder HI-Viren durchseucht.

Große Hoffnungen wurden in die Zytokine im Rahmen verschiedener Tumor-Therapieschemata gesetzt. Allerdings entfalten Zytokine ihre Wirkung in den allermeisten Fällen autokrin (auf die produzierende Zelle zurück) oder parakrin (auf benachbarte Zellen), und ganz selten nur wirken sie physiologischerweise endokrin (auf weiter entfernt liegende Zellen). Hieraus ergeben sich therapeutisch große Probleme, da rekombinante Zytokine oft in unphysiologisch hohen Dosen appliziert werden müssen, damit ausreichend hohe Dosen den eigentlichen Wirkort erreichen. Durch die erforderliche Überdosierung dominieren dann oft unangenehme Nebenwirkungen, die äußerst vielfältig sind und die zum Teil eine Anwendung der Zytokine bei bestimmten Patienten verbieten. Interessanterweise hat jedoch Beta-Interferon zur Behandlung der schubförmig verlaufenden und zum Teil der sekundär progredienten (Betaferon®) Multiplen Sklerose eine klar definierte Indikation.

Die Wachstumsfaktoren des blutbildenden Systems, der Granulozyten- sowie der Granuloyzyten- und Makrophagen-Kolonie-stimulierende Faktor (G-CSF und GM-CSF), sind Wirkstoffe, die im Rahmen einer Krebsbehandlung eingesetzt werden. In der Chemotherapie werden nicht nur die Tumorzellen, sondern vor allem auch die Zellen des blutbildenden Systems und damit die zelluläre Komponente des Immunsystems geschädigt. Die Gabe der Wachstumsfaktoren G-CSF und GM-CSF beschleunigt die Erholung des Blutbildes.

Als einziger Impfstoff ist derzeit das gentechnisch hergestellte Hepatitis-B-Virus-Oberflächenantigen zugelassen und inzwischen in verschiedenen Präparaten enthalten.

Abgeleitet von murinen monoklonalen Antikörpern bereichern vier rekombinante Antikörper das Wirkstoffspektrum zur Verhinderung der Abstoßung von transplantierten Nieren, zur Thromboseprophylaxe sowie zur Therapie des Non-Hodgkin-Lymphoms.

Produktionszell-Linien und Produktauthentizität

Für die gentechnische Herstellung der Arzneimittel werden im wesentlichen nur vier verschiedene Zell-Typen verwendet: der Prokaryont Escherichia coli, der niedere Eukaryont Saccharomyces cerevisiae, und die Säugerzell-Linien CHO (Chinese Hamster Ovary)-Zellen und BHK (Baby Hamster Kidney)-Zellen. E. coli und S. cerevisiae können recht preiswert in Massenkultur gehalten werden und liefern zum Teil sehr große Mengen rekombinanten Proteins. Allerdings kann E. coli keine und die Bäckerhefe S. cerevisiae nur sehr bedingt posttranslationale Modifikationen wie Glykosylierungen oder Amidierungen der Proteine vornehmen. Daher sind nur nicht- modifizierte Humanproteine authentisch in E. coli oder S. cerevisiae herstellbar. Die meisten der in der Tabelle aufgeführten Proteine sind jedoch natürlicherweise glykosyliert. Demzufolge ist das gentechnisch hergestellte Medikament häufig ein machbarer Kompromiß auf Kosten der Identität.

Eine Alternative stellen die in der Kultur aufwendigeren CHO- und BHK-Zellen dar, die in der Lage sind, Proteine annähernd authentisch zu glykosylieren. Zusätzlich zu den durch den Wirt vorgegebenen Veränderungen sind jedoch vereinzelt infolge der jeweiligen Herstellungsweise zusätzliche Aminosäuren enthalten beziehungsweise einzelne Aminosäuren ausgetauscht. Gerade bei länger zu applizierenden Präparaten führt das jedoch oft zur Bildung inaktivierender Antikörper oder zu allergischen Reaktionen.

Ein Beispiel ist rekombinantes Interferon-beta, das bei der schubförmig verlaufenden Multiplen Sklerose indiziert ist (1, 2). Interferon-beta wird als nicht-glykosyliertes Protein ohne N-terminales Methionin und mit der Aminosäure Serin statt Cystein an Position 17 als Betaferon® vermarktet (3). Nach Applikation dieses Wirkstoffes kommt es relativ häufig (38 Prozent der Patienten) zur Bildung neutralisierender Antikörper. Derartige Antikörper treten dagegen nur bei 22 Prozent der Patienten nach Avonex®-Behandlung vor (4, 5). Avonex® — ebenso wie Rebif® — enthält rekombinantes Interferon-beta, das in CHO-Zellen hergestellt wird und daher glykosyliert vorliegt. Zusätzlich ist die Aminosäuresequenz absolut identisch mit der des humanen Interferon-beta.

Offensichtlich sind die geringen Unterschiede zwischen Betaferon® und dem humanen Interferon-beta deutlich antigener als das "nur" etwas anders glykosylierte Avonex®. Insofern sollten gerade Wirkstoffe, die über lange Zeit appliziert werden müssen, möglichst authentisch hergestellt werden.

Muteine als Weiterentwicklung

In einigen Fällen wird die Abwandlung des Proteins aber auch gezielt vorgenommen, um ein verbessertes Wirkprofil zu erhalten. Derartige, gezielt veränderte Proteine werden als Muteine" bezeichnet.

Insulin war das erste gentechnisch hergestellte Protein und spielte auch bei der Mutein-Entwicklung eine Vorreiterrolle. Bereits im Mai 1996 wurde das Insulin-Derivat lispro zugelassen, kurze Zeit später ein weiteres Mutein, nämlich das Derivat Reteplase des Gewebeplasminogenaktivators im November 1996. Auch die vier derzeit zugelassenen rekombinanten Antikörper kann man zu den Muteinen zählen.

Insulin und seine Derivate

Insulin wird als Präproinsulin in den ß-Zellen der Langerhansschen Inseln des Pankreas gebildet und besteht aus einem Signalpeptid, der B-Kette, dem C-Peptid und der A-Kette. Das Signalpeptid aus 24 N-terminalen Aminosäuren sorgt für die Sekretion des Insulins in die Zisternen des endoplasmatischen Retikulums und wird bei diesem Sekretionsprozeß abgespalten. Das resultierende Produkt Proinsulin wird in den Golgi-Apparat aufgenommen und dort gespeichert. Hier erfolgt dann die Abspaltung des C-Peptids durch membranständige Proteasen, und reifes Insulin wird aus den Vesikeln durch Exozytose freigesetzt. Reifes Insulin besteht aus einer A-Kette von 21 Aminosäuren und einer B-Kette von 30 Aminosäuren. Beide Ketten sind über zwei Disulfidbrücken miteinander verknüpft. Zusätzlich ist noch eine intramolekulare Disulfidbrücke in der A-Kette vorhanden.

Natives, authentisches Humaninsulin assoziiert bei hohen lokalen Konzentrationen zu Dimeren und Hexameren. Dadurch werden frühestens nach 90 Minuten maximale Insulinkonzentrationen im Plasma erreicht. Eine Konsequenz ist häufig eine postprandiale Hyperglykämie und eine spätere Hypoglykämie bei Diabetikern. Eine Schlüsselrolle bei der Assoziation der Insulin-Monomere spielt die Aminosäure Lysin an Position 29 der B-Kette. Verschiedene Modifikationen der Aminosäuresequenz in diesem Bereich setzen die Assoziationsneigung des Insulins herab. Der Durchbruch wurde mit dem Austausch der beiden Aminosäuren Lysin und Prolin an Position 28 und 29 der B-Kette im bereits zugelassenen Insulin-Derivat lispro geschafft. Diese Modifikation reduziert die Fähigkeit, Assoziate zu bilden, um den Faktor 300, was zu einem schnelleren Wirkungsbeginn und einer kürzeren Wirkdauer führt (7, 8). Bei Verwendung von Insulin lispro muß der Diabetiker seine Mahlzeiten nicht mehr konsequent im voraus planen und kann auf Zwischenmahlzeiten verzichten.

Ein ähnliches, schnell wirksames Präparat, das Insulin Aspart, bei dem das Prolin an Position 28 der B-Kette durch eine Asparaginsäure ausgetauscht wurde, steht als NovoRapid® der Firma Novo Nordisk kurz vor der Zulassung.

Der entgegengesetzte Weg, nämlich die Herstellung eines Insulin-Depotpräparates wurde mit der Entwicklung von Hoe 901 eingeschlagen, das sich von Humaninsulin an drei Positionen unterscheidet: Die C-terminale Aminosäure Asparagin der A-Kette wurde durch ein Glycin ersetzt, und in der B-Kette wurden an den C-Terminus zwei zusätzliche Arginine angeheftet. Durch diese Modifikationen verändert sich der isoelektrische Punkt des Derivats derart, daß das Protein bei physiologischem pH-Wert ausfällt und an der Einstichstelle ein Depot bildet, aus dem Insulin langsam freigesetzt wird (9).

Weitere Ziele der gentechnischen Modifikation des Insulins sind, die Stabilität des Proteins zu verbessern und dadurch die Lagerung zu vereinfachen oder die Bioverfügbarkeit für andere Applikationswege, beispielsweise transdermale oder inhalative Systeme, zu verbessern (6).

Gewebeplasminogenaktivator

Plasminogenaktivatoren spielen eine wichtige Rolle in der Fibrinolyse, also bei der Auflösung von Fibringerinnseln nach einem Gefäßverschluß. Der Hauptsyntheseort des Gewebeplasminogenaktivators ist vermutlich das Endothel, daneben kommt das Protein auch in höheren Konzentrationen im Uterus und in der Lunge vor. Der Gewebeplasminogenaktivator wird, ähnlich wie Insulin, als Vorläufermolekül synthetisiert. Nach Abspaltung des Signalpeptids hat das Protein eine Länge von 527 Aminosäuren und ist an zwei oder drei Stellen glykosyliert. Um möglichst authentisches Protein zu erhalten, wird der rekombinante Gewebeplasminogenaktivator Alteplase deshalb in CHO-Zellen hergestellt (10, 11).

Innerhalb des Proteins lassen sich verschiedene Funktionsdomänen identifizieren: Eine FibronectinTyp 1-ähnliche Domäne, eine "epidermal growth factor" (EGF)-ähnliche Domäne, zwei Kringel-Domänen und eine Serinprotease-Domäne. Für die Wirksamkeit des Gewebeplasminogenaktivators ist die Ausbildung eines Komplexes aus Fibrin, Plasminogen und Plasminogenaktivator nötig. Katalysiert durch Plasmin wird der Gewebeplasminogenaktivator durch limitierte Proteolyse zwischen den Aminosäuren Arginin275 und Isoleucin276 in zwei Ketten gespalten. Sowohl die einkettige als auch die zweikettige Form weisen fibrinolytische Eigenschaften auf.

Die Weiterentwicklung des rekombinanten Wirkstoffes zielte darauf ab, die rasche Elimination des Gewebeplasminogenaktivators aus dem Blut zu verhindern. Diese Elimination erfolgt vornehmlich durch Metabolisierung in der Leber, wobei die Bindung des Plasminogenaktivators an spezifische Rezeptoren der Leberzellen über die EGF- und die Kringel 1-Domäne erfolgt, begünstigt durch die Oligosaccharid-Seitenketten des Glykoproteins. Für die Wirksamkeit als Plasminogenaktivator ist dagegen vor allem die Kringel 2-Domäne und die Serinprotease-Domäne erforderlich. Insofern war es eine konsequente Entwicklung, eine Deletionsmutante des Gewebeplasminogenaktivators herzustellen, bei der die Aminosäuren 4 bis 175 entfernt wurden. Zusätzlich wird dieses Protein in E. coli hergestellt, wodurch die Zuckerseitenketten fehlen.

Erstaunlicherweise ist die lytische Aktivität des Muteins Reteplase im Vergleich zu der des kompletten rekombinanten Plasminogenaktivators Alteplase in vivo um circa den Faktor fünf bis zehn gesteigert, was vermutlich vor allem auf die längere Verweildauer des Muteins zurückzuführen ist. Als Konsequenz der verlängerten Halbwertszeit ist eine geringere Substanzmenge nötig, um therapeutische Konzentrationen zu erreichen, und der Wirkstoff kann als intravenöse Doppelbolusgabe im Abstand von 30 Minuten appliziert werden (12, 13). Durch die fehlende Finger-Domäne ist die Fibrinbindung von Reteplase herabgesetzt, allerdings ist das Protein dennoch durch Fibrin stimulierbar. Andererseits könnte die geringere Affinität von Reteplase zu Fibrin ein besseres Durchdringen des Thrombus bewirken und somit die Thrombusauflösung beschleunigen.

Durch die gezielte Veränderung des Gewebeplasminogenaktivators wurde also ein Wirkstoff kreiert, dessen Wirkprofil gegenüber dem Mutterprotein verbessert wurde. Allerdings konnte mit Reteplase bisher keine Verbesserung der Mortalität nach akutem Myokardinfarkt gegenüber Alteplase demonstriert werden.

Humanisierte monoklonale Antikörper

Ebenfalls zu den Muteinen lassen sich humanisierte beziehungsweise chimärisierte monoklonale Antikörper zählen. Antikörper sind hochinteressante Wirkstoffe, da sie sehr spezifisch und sehr selektiv beliebige Oberflächenstrukturen erkennen können.

Trotz ihrer enormen strukturellen Vielfalt sind sie doch sehr einheitlich aufgebaut. Ein Antikörper besteht aus je zwei sogenannten schweren und leichten Proteinketten, die über Disulfidbrücken miteinander verbunden sind. Innerhalb dieser Proteinketten kann man einen stark konservierten Bereich, der für die Effektorfunktionen innerhalb des Körpers verantwortlich ist, von einem variableren Bereich mit der Antigen-Erkennungsdomäne unterscheiden. Der variable Bereich wiederum unterteilt sich in hochvariable Sequenzen, die sogenannten "complementarity determining regions" (CDR), die für die Antigenbindung wichtig sind, und in "framework regions" (FR), die eine bestimmte Struktur der Antigen-Erkennungsdomäne ermöglichen.

Mit dem monoklonalen Antikörper Orthoclone® OKT3 wurde ein Protein zugelassen, das die Organabstoßung nach Nierentransplantation herabsetzt. Der Nachteil dieses Antikörpers liegt darin, daß er murinen Ursprungs und somit immunogen ist. Als Folge der Behandlung mit Orthoclone® OKT3 werden sehr häufig humane Anti-Maus-Antikörper (HAMA) gebildet, die die Wirksamkeit des Antikörpers neutralisieren können.

Eine Verbesserung der Verträglichkeit bei gleichbleibender Wirksamkeit gelingt durch die Chimärisierung oder Humanisierung des Antikörpers. Dieser Weg wurde bei den vier zugelassenen, gentechnisch hergestellten Antikörpern beschritten. In allen vier Fällen wurde zunächst ein muriner, monoklonaler Antikörper der gewünschten Spezifität etabliert. Anschließend wurde die Nukleinsäure, die für das Antikörpermolekül kodiert, isoliert und so mit einer für einen menschlichen Antikörper kodierenden Nukleinsäure kombiniert, daß die konservierten Bereiche des murinen Antikörpers durch die entsprechenden Bereiche eines humanen Antikörpers ersetzt wurden. Wird dabei nur der konstante Bereich, der sogenannte Fc-Anteil, ausgetauscht, spricht man von einem chimärisierten Antikörper. Werden dagegen auch die "framework regions" ersetzt, erhält man einen humanisierten Antikörper. Drei der derzeit zugelassenen gentechnisch hergestellten Antikörper sind Chimären. Der vierte Antikörper, Daclizumab, ist ein humanisierter Antikörper.

Bei Abciximab in ReoPro® handelt es sich darüber hinaus nicht um den kompletten Antikörper, sondern nur um das Fab-Fragment eines chimären Antikörpers. Dieses bindet sehr spezifisch an den Glycoproteinrezeptor GPIIb/IIIa auf der Thrombozytenoberfläche, verhindert dadurch die Quervernetzung der Thrombozyten und somit eine Thrombose (14). Der Wirkstoff Rituximab in Mabthera® ist ein monoklonaler chimärer Antikörper gegen das CD20-Antigen, das sich auf Prä-B-Zellen und auf reifen B-Zellen befindet. Interessant ist dieses Antigen, weil es auf mehr als 95 Prozent aller malignen Non-Hodgkin-Lymphome der B-Zellreihe exprimiert wird. Durch die Applikation von Mabthera® werden Zellen mit dem entsprechenden CD-Antigen markiert und sowohl die antikörperabhängige, zellvermittelte Zytotoxizität als auch die komplementabhängige Zytolyse induziert (15). Mit sehr hoher Effizienz werden somit die malignen Non-Hodgkin-Zellen entfernt, allerdings auch gesunde B-Zellen und gesunde Prä-B-Zellen. Dieser Nebeneffekt kann in Kauf genommen werden, weil das Immunsystem in der Lage ist, neue gesunde B-Zellen aus den multipotenten Stammzellen zu bilden.

Der chimärisierte monoklonale Antikörper Basiliximab in Simulect® und der humanisierte Antikörper Daclizumab in Zenapax® sind seit kurzem zugelassen nach Nierentransplantationen. Beide Antikörper sind besser verträglich als Orthoclone® OKT3. Während Orthoclone® OKT3 relativ wenig spezifisch gegen das CD3-Antigen gerichtet ist und zur raschen Eliminierung aller reifen T-Zellen führt, hat man bei Basiliximab und Daclizumab einen sehr interessanten Therapieweg eingeschlagen (16, 17, 18). Beide Antikörper sind gegen die alpha-Untereinheit des Interleukin-2 (IL-2)-Rezeptors auf T-Zellen gerichtet. Auf ruhenden T-Zellen werden nur die beta- und gamma-Untereinheiten des IL-2-Rezeptors exprimiert. In dieser Form weist der IL-2-Rezeptor nur eine geringe Affinität zu Interleukin-2 auf.

Nach einer Organtransplantation werden durch die direkte und indirekte Präsentation der Antigene des Spenders die T-Zellen aktiviert; dabei wird auch die alpha-Kette gebildet. Nach Bindung von IL-2 an den hochaffinen Rezeptor kommt es zur klonalen Expansion der aktivierten T-Zelle und schließlich zur Abstoßungsreaktion. Durch die Bindung des Antikörpers an die alpha-Kette des IL-2-Rezeptors werden somit ganz gezielt nur aktivierte T-Zellen aus dem Blut eliminiert.

Muteine für die Arzneimittelsicherheit

Neben einer Verbesserung von Verträglichkeit und pharmakokinetischen Eigenschaften sind Muteine auch interessant für die sichere Anwendung der Arzneimittel. Gerade bei der mißbräuchlichen Verwendung einzelner Medikamente, zum Beispiel Erythropoetin, ist es oft schwierig, das applizierte Pharmakon von dem natürlich im Körper vorkommenden Wirkstoff zu unterscheiden. Abhilfe könnte die ausschließliche Zulassung eines Muteins schaffen, das sich in der Immunogenität und Wirksamkeit nicht vom authentischen Protein unterscheidet, aber aufgrund veränderter physiko-chemischer Eigenschaften eindeutig identifizierbar und nachweisbar ist.

Unverzichtbar, aber zu verbessern

Ursprünglich wurde die Gentechnik in der Arzneimittelherstellung dafür genutzt, Wirkstoffe für die Substitutionstherapie verschiedener Mangelkrankheiten in ausreichenden Mengen und weniger risikobehaftet herzustellen. Durch die genaueren Kenntnisse der Pathogenitätsmechanismen sind weitere rekombinante Wirkstoffe interessant geworden, die regulativ in den Krankheitsverlauf eingreifen. Beispiele hierfür sind die DNase bei der Behandlung der Mucoviszidose oder die verschiedenen rekombinanten Antikörper in ihren Indikationsgebieten. In zunehmendem Maße werden nicht nur Peptide humanen Ursprungs hergestellt, sondern auch Proteine aus anderen Organismen, beispielsweise das Hirudin des Blutegels oder das Calcitonin aus Lachs.

Inzwischen sind gentechnisch hergestellte Arzneimittel nicht mehr aus dem Präparatespektrum wegzudenken und sicher werden es immer mehr werden — in der Natur stehen noch genügend Vorbilder zur Verfügung. Allerdings sind gentechnisch hergestellte Präparate immer Proteine, die parenteral appliziert werden müssen. Auf langer Sicht ist anzustreben, entweder die Applikationsform zu verändern, wie das bei Insulin mit den transdermalen oder inhalativen Systemen bereits versucht wird, oder aber die Proteine wiederum durch chemisch-synthetische Wirkstoffe zu ersetzen.

In Deutschland zugelassene gentechnisch
hergestellte
Arzneimittel (Beispiele)

WirkstoffHandelsnameUnternehmerProduktions
zellinie
Erkrankte in DeutschlandInsuline Humaninsuline Berlinsulin® Berlin-Chemie E. coli 400000 Huminsulin® Lilly E. coli Insulin Actrapid® Novo Nordisk S. cerevisiae Insuman® HMR E. coli Insulin lispro Humalog 100® / Liprolog® Lilly E. coliHypoglykämika Glucagon GlucaGen® Novo Nordisk S. cerevisiae 400000 Wirkstoff zur Behandlung der Hypercalcaemie (Paget´s Krankheit) Calcitonin (Lachs) Forcaltonin® Unigene UK Ltd. E. coli k.A. Follikelstimulierendes Hormon r-Follitropin alpha, r-hFSH Gonal-F® Serono Laboratories UK CHO-Zellen jedes 10. Paar betroffen r-Follitropin beta, recFSH Puregon® Organon Ltd. CHO-K1-Zellen Wachstumshormon Somatropin Genotropin® Pharmacia & Upjohn E. coli 100000 Humatrope® Lilly E. coli Norditropin® Novo Nordisk E. coli Zomacton® Ferring E. coli Saizen® Serono Mäusezellinie

C 127 Antianämika Epoetin alfa Erypo® Janssen-Cilag/Amgen CHO-Zellen 40000 Epoetin beta Recormon® / NeoRecormon® Boehringer Mannheim CHO-Zellen Wirkstoff zur Behandlung der Cystischen Fibrose Dornase alfa, DNase Pulmocyme® Hoffmann-La Roche AG CHO-Zellen 6000 bis 8.000 Wirkstoff zur Behandlung der Typ I Gaucher-Krankheit Imiglucerase Cerezyme® Genzyme CHO-Zellen 100

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Literatur

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  18. Zenapax® — Daclizumab. Produktinformation der Fa. Hoffmann-La Roche AG.

Anschrift der Verfasserin:
Dr. Ilse Zündorf Institut für Pharmazeutische Biologie,
Marie-Curie-Str. 9,
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