Titel
Skandinavien und
besonders Schweden avancieren zum zweiten Mal innerhalb
weniger Jahrzehnte zum Mekka für Gesundheitsreformer.
Das für deutsche Verhältnisse fast unvorstellbare
Sparvolumen, das dem Gesundheits- und Sozialsystem seit
einigen Jahren entlockt wird, ruft die Experten derzeit
scharenweise auf den Plan. Überraschend: Die Reformen
werden weitgehend im politischen und gesellschaftlichen
Konsens umgesetzt. So ging kein Aufschrei der Empörung
durch das Land, als die schwedische Regierung
o die Selbstbeteiligung der Patienten von
zunächst unter 1000 SKR (rund 235 DM) auf 2500 SKR (etwa
580 DM) anhob,
o einen Karenztag und anschließend eine Senkung des
Krankengeldes auf 75 Prozent für den zweiten und dritten
Tag sowie anschließend auf 80 Prozent einführte,
o den Jahresurlaub um zwei Tage auf 25 Arbeitstage
kürzte,
o eigene Beitragszahlungen der Arbeitnehmer für die
staatliche Krankenversicherung von 4,95 Prozent und für
die staatliche Rentenversicherung von 1 Prozent des
Einkommens einführte.
Der Sparkraftakt zeigte Erfolg: 1994 gab Schweden nur
noch 7,7 Prozent seines Bruttoinlandproduktes für das
Gesundheitswesen aus (Deutschland 8,6 Prozent). Zehn
Jahre vorher waren es noch 9,3 Prozent. Damit ist
Schweden derzeit der einzige hochindustrialisierte Staat
der Welt, dessen Gesundheitsausgaben relativ abnehmen und
sogar in absoluten Zahlen leicht sinken. Jedoch war
Sparen nicht das vorrangige Ziel der Schweden. Auslöser
war vielmehr die Forderung, mehr Wahlfreiheit für die
Patienten anzubieten, Wartelisten abzubauen, die zentrale
bürokratische Kontrolle zugunsten dezentraler Modelle zu
verringern und die Effizienz des Systems insgesamt zu
erhöhen. Diese Ziele gelten ebenso für die Reformen in
Norwegen und Finnland. Finnland war als Folge des
Zusammenbruchs seines wichtigsten Handelspartners, der
Sowjetunion, in eine tiefe
Wirtschaftskrise gestürzt und daher gezwungen, in allen
Bereichen zu sparen.
Alle skandinavischen Gesundheitssysteme sind staatlich,
aber nicht zentralistisch organisiert. Eigenständige
Gebietskörperschaften mit eigenem Steueraufkommen und
eigener parlamentarischer Kontrolle sind für die
Gesundheitsversorgung zuständig. In Schweden sind dies
die 23 Provinziallandtage und zunehmend auch die 286
Kommunen; in Norwegen die 439 Kommunen und 19
Fylke-Kommunen; in Finnland sind 455 Kommunen zuständig,
die zusätzlich 21 überkommunale
Zentralkrankenhausbezirke eingerichtet haben.
Gemeinsam ist den Staaten das Primärarzt-System in der
ambulanten Versorgung, das jetzt zunehmend durch Elemente
der freien Wahl des Hausarztes und der direkten
Inanspruchnahme eines Spezialisten ergänzt wird. In
Schweden wird dies durch eine gestaffelte
Selbstbeteiligung gesteuert. Die ambulante fachärztliche
Versorgung wird vor allem an Kliniken erbracht. In
Norwegen und Finnland gibt es traditionell die
Möglichkeit der Niederlassung für ambulant tätige
Ärzte. Die an Kliniken tätigen Fachärzte sind meist
stationär und ambulant tätig. In Schweden setzte man
die Reform- und Sparbemühungen zuerst bei der
stationären Versorgung an; parallel zum Kapazitätsabbau
initiierte man zahlreiche Pilotprojekte zur Stärkung der
ambulanten Versorgung. Die Verlagerung des Schwerpunktes
von der stationären zur ambulanten Primärversorgung
gehörte auch zu den Hauptzielen Finnlands und Norwegens.
Die norwegischen Reformen sind dabei stärker den
qualitativen Verbesserungen als den Einsparungen
verpflichtet.
Finanziert werden die Gesundheitssysteme vorwiegend über
Steuern: in Schweden zu 79,6, in Norwegen zu 94,8 und in
Finnland zu 79,3 Prozent. Den größten Teil dieser
Steuermittel erheben die zuständigen
Gebietskörperschaften. Zunehmend werden aber spezielle
Beiträge von den Arbeitnehmern erhoben. So hat Schweden
1996 einen Beitrag für die Krankenversicherung von 3,95
Prozent des Einkommens erhoben, dieses Jahr beträgt er
4,95 und ab 1998 soll er 5,95 Prozent betragen. Eine
zunehmend bedeutendere Finanzierungsquelle ist die
Selbstbeteiligung - Tendenz steigend.
PZ-Titelbeitrag von Dr. Uwe K. Preusker, Köln
© 1997 GOVI-Verlag
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