Titel
Die Arzneitherapie
bedarf wie jede andere Therapie der Einwilligung des
Patienten. Aus diesem Grund muß er über eventuelle
Arzneimittelrisiken vollständig informiert sein. Der
vorliegende Beitrag setzt sich mit der Risikoaufklärung
in der Apotheke auseinander, wobei das Hauptaugenmerk auf
der Kommunikation von Nebenwirkungen in Zusammenhang mit
Selbstmedikation ruht.
Mathematisch definiert ist Risiko das Produkt
aus Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadensausmaß. Die
Inzidenz findet ihren Niederschlag in modernen
Gebrauchsinformationen, die die Häufigkeit einer
Nebenwirkung verklausuliert in den drei Kategorien
"häufig", "gelegentlich" und
"selten" wiedergeben. Exaktere
Häufigkeitsschätzungen sind derzeit nicht verfügbar
und können bevorzugt von pharmakoepidemiologischen
Studien auch unter Beteiligung der Apotheker erwartet
werden. Der Schweregrad ist aber auch dann nicht
mathematisch faßbar und wird in hohem Maß von der
individuellen Einschätzung bestimmt.
Man kann davon ausgehen, daß eine skeptische Haltung des
Patienten gegenüber Arzneimitteln von Angst verursacht
ist, die sich durch folgende Merkmale kennzeichnen
läßt: Eine körperliche Bedrohung wird wahrgenommen,
die Folgen sind ungewiß (ob, wann, was?), und es
herrscht Hilflosigkeit beziehungsweise ein Mangel an
Information, wie und was es abzuwehren gilt. Nicht das
objektive, sondern das subjektiv wahrgenommene Risiko und
dessen Bewertung beeinflussen das Handeln des Kunden.
Folgende Faktoren beeinflussen die Einschätzung eines
Risikos durch Laien:
- die wahrgenommene Kontrollierbarkeit,
- die Bekanntheit,
- die Sichtbarkeit der Folgen,
- die zeitliche Verzögerung der Konsequenzen,
- die Freiwilligkeit, ein Risiko einzugehen.
In rationalen Entscheidungsmodellen versucht ein
Kunde, Anzahl, Häufigkeit und Schweregrad von
Nebenwirkungen für ein Arzneimittel algebraisch
abzubilden. Abgesehen davon, daß ein Kunde weder willens
noch in der Lage ist, derart aufwendig zu urteilen, sind
die dazu erforderlichen Daten nicht in absoluten Zahlen
verfügbar. Darüber hinaus konnte gezeigt werden, daß
sich die Kaufentscheidungen von Konsumenten nicht linear
mit der verfügbaren Datenmenge verbesserten, sondern
sich nach Erreichen eines Maximums objektiv
verschlechterten.
Überträgt man Handlungsmodelle der
Gesundheitspsychologie auf die Beurteilung von
Nebenwirkungen, so kommt man zu folgenden Aussagen: Der
Schweregrad einer Bedrohung und deren Inzidenz spielen
wie in der medizinisch-technischen Risikodefinition eine
Rolle. Die Bedrohung wird jedoch geringer eingeschätzt,
wenn jemand glaubt, Gegenmaßnahmen zur Verfügung zu
haben, und diese Gegenmaßnahmen auch für geeignet
hält, Schaden abzuwehren.
Aus diesen Überlegungen lassen sich sowohl die Funktion
als auch Vorschläge für die Praxis des
Beratungsgesprächs in der Apotheke ableiten. Es soll
neue Informationen strukturieren und durch Verknüpfung
mit bereits Bekanntem verständlich machen. Die
Verringerung der Angaben im Sinne einer didaktischen
Reduktion wird sinnvoll sein, wie es zum Beispiel für
den naturwissenschaftlichen Unterricht gefordert wird. Im
Bereich der Konsumentenforschung konnte bereits
nachgewiesen werden, daß die Methodik der Beratung eine
Informationsüberlastung beim Kunden verhindern hilft.
Der Apotheker sollte die Häufung von Negativaussagen der
Packungsbeilage ausbalancieren, ohne zu verharmlosen. Er
kann die Angst reduzieren, indem er darauf hinweist,
- daß ein Arzneimittel von behördlicher Seite
zugelassen sein muß,
- daß der Zulassung eine
Nutzen-Risiko-Abschätzung vorausgegangen ist,
- daß deshalb ein Arzneimittel gegen wenig
gravierende Erkrankungen auch nur ein geringes
Risikopotential besitzen darf,
- welche positiven Eigenschaften das Arzneimittel
besitzt,
- an welchen Zeichen eine Nebenwirkung erkannt
werden kann,
- wie schwerwiegende Nebenwirkungen von weniger
schwerwiegenden unterschieden werden können,
- wie sich der Kunde bei vermuteten schwerwiegenden
und bei weniger schwerwiegenden Nebenwirkungen
verhalten soll.
Daraus werden folgende Kernsätze abgeleitet:
- Ein statistisch exakt abgesicherter
Risikovergleich zwischen Arzneimitteln oder einer
Arzneimitteltherapie und Arzneimittelverzicht
steht meist nicht zur Verfügung.
- Die individuelle Risikowahrnehmung und
Risikobeurteilung orientiert sich nicht an streng
rationalen oder statistischen Größen.
- Ein Gespräch zur Risikoaufklärung muß
bestimmten methodischen Anforderungen genügen.
- Die methodischen Anforderungen sind zum Beispiel
im Rahmen von Fachdiskussionen zu erarbeiten.
- Im Beratungsgespräch können Arzneimittelrisiken
mit denen des täglichen Lebens verglichen
werden. Noch wichtiger erscheint die Beratung des
Patienten mit dem Ziel, ihm Handlungskompetenz
für den Fall auftretender unerwünschter
Wirkungen zu vermitteln.
PZ-Titelbeitrag von Thomas Wurm, Passau
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