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Pharmazie in Russland – Blick über Grenzen

14.02.2005  00:00 Uhr
.Ausland

Pharmazie in Russland – Blick über Grenzen

von Tanja Gramkow und Christoph Schümann, Rostock

Zügellose Marktwirtschaft ohne gesetzliche Rahmenbedingungen auch und gerade zum Schutz des Bürgers im Gesundheitswesen und der Arzneimittelversorgung ist keinesfalls erstrebenswert. Das zeigt das Beispiel Russland, in dem das Sozialwesen brach liegt und die Bevölkerung mit einer geringen Lebenserwartung für die zum Teil archaischen gesellschaftlichen Zustände „zahlt“.

Obwohl in Russland Personen mit niedrigem Einkommen die Hauptlast der Finanzierung des Sozialwesens tragen, sind Millionen Bürger, darunter viele Kinder, von einer sicheren Gesundheitsversorgung und Arzneimitteltherapie ausgeschlossen. Der folgende Beitrag macht deutlich: Zwischen dem deutschen und dem russischen Sozialsystem liegen Welten. Er zeigt: Im Bewusstsein der Tatsache, dass Deutschland über hoch entwickelte, erhaltenswerte Versorgungs-Strukturen verfügt, sollten Reformen des Arzneimittelwesens in der Bundesrepublik mit mehr Augenmaß, sollte deutsche Gesundheitspolitik mit mehr Sachverstand und Bescheidenheit betrieben werden. Ein funktionierendes Gesundheitswesen ist ein Privileg, das nicht leichtsinnig zum Experimentierfeld für Wettbewerbsstrategen gemacht werden darf.

Rechtsunsicherheit und Korruption

Mit 17.075.400 Quadratkilometern ist Russland das größte Land der Erde. Es erstreckt sich über zwei Kontinente, die über gemäßigte, kontinentale, subtropische sowie arktische und polare Klimazonen verfügen. Die Nord-Süd-Ausdehnung beträgt circa 4000, die West-Ost-Ausrichtung circa 9000 km. Während der europäische Teil Russlands relativ dicht besiedelt ist, sind weite Teile Sibiriens und des Nordostens weitgehend unbewohnt. Bei einer Gesamtbevölkerung von 144,5 Millionen Menschen beträgt die Bevölkerungsdichte durchschnittlich nur 8,5 Einwohner pro Quadratkilometer.

Dominierende Zentrale der Russischen Föderation, die 89 Regionen, sprich: Gebiete, Republiken, autonome Kreise und Städte mit zum Teil unterschiedlichen Rechtsformen umfasst, ist die Neun-Millionen-Einwohnermetropole Moskau. Während der 90er-Jahre hat Russland in vielen Bereichen einen wirtschaftlichen Niedergang erlebt. Seit einigen Jahren jedoch verzeichnet der Staatenbund nicht zuletzt auf Grund gestiegener Rohstoffexporte ein stetiges Wachstum des Bruttoinlandsproduktes um letztlich etwa 6 Prozent in 2003. Mit einem Bruttoinlandsprodukt von 13.304 Milliarden Rubel, also circa 330 Milliarden Euro beziehungsweise 433 Milliarden US-Dollar (1000 Rubel = 27 Euro = 21 US-Dollar als russische Zweitwährung) rangiert Russland allerdings nach wie vor weit hinter den westlichen Industrieländern. Auch die Arbeitsproduktivität ist vergleichsweise niedrig und hat laut Zahlen der Unternehmensberatung McKinsey Ende der 90er-Jahre nur 19 Prozent des US-Niveaus eingenommen. Die Arbeitslosigkeit lag 2003 offiziellen Angaben gemäß bei 7,6 Prozent. Dabei gibt es große regionale Unterschiede. Während in den Ballungszentren Moskau und St. Petersburg etwa 5 Prozent der Erwerbsfähigen als arbeitslos registriert sind, liegt diese Quote zum Beispiel in Inguschetien bei über 30 Prozent (1).

Russland fördert bereits jetzt mehr Erdöl pro Tag als jedes andere Land der Welt und hat Saudi-Arabien als bisherige Nummer eins auf diesem Sektor überholt. Die russische Ölproduktion ist seit 1999 um 35 Prozent und allein im Jahr 2003 um knapp 11 Prozent gestiegen. Dies beschert Russland einen hohen Außenhandelsüberschuss, der in einen Stabilisierungsfond zur Überbrückung schlechter Zeiten gelenkt wird. In den letzten zwei Jahren waren dieses umgerechnet 14 Milliarden Euro (2).

Bestechung und Vorteilsnahme

Während in der Wirtschaft durch Reformen teilweise Erfolge erzielt werden konnten, bleiben Veränderungen in den Bereichen Justiz und öffentliche Verwaltungen bislang in den Ansätzen stecken. Größtes Problem sind Korruption und Schmiergeldzahlungen infolge einer Schattenwirtschaft, die sich Schätzungen der Weltbank zufolge inzwischen auf 40 Prozent des Bruttoinlandproduktes beläuft. (USA: 8,2 Prozent, Italien: 24,4 Prozent, Deutschland: 16,4 Prozent in 2004). Russland erhielt auf dem kürzlich veröffentlichten Corruption Perception Index 2004 mit Platz 90 eine der weltweit schlechtesten Bewertungen (Deutschland: Platz 15, USA: Platz 17). Als prominentes Beispiel für die täglich praktizierte Bestechung und Vorteilsnahme gilt die Affäre um den schwedischen Möbelriesen Ikea, der kurz vor seiner Eröffnung in Moskau gezwungen wurde, eine Million US-Dollar zu „spenden“.

 

Gesundheit ist am meisten wert – Geld aber auch.
(Russisches Sprichwort)

 

Mangelnde Rechtssicherheit bleibt weiterhin der Hauptgrund für die Zurückhaltung vieler internationaler potenter Investoren. Deutschland und Russland sind dennoch wichtige Handelspartner. Für russische Importe zahlte die Bundesrepublik 13,36 Milliarden Euro in 2003, gleichermaßen exportierte Deutschland Waren im Wert von 12,11 Milliarden Euro. Im ersten Halbjahr 2004 stiegen die Importe um 10 Prozent, die Ausfuhren von Deutschland nach Russland um 24 Prozent. Mit einem weiteren positiven Trend wird gerechnet (3). Diese dynamischen Entwicklungen sowie die freundschaftlichen deutsch-russischen Kontakte auf höchster politischer Ebene gehen jedoch mit einem erheblichen Mangel an Informationen über gravierende Demokratiedefizite in Russland und somit der fehlenden Möglichkeit einer realistischen öffentlichen Meinungsbildung einher.

Starkes Einkommensgefälle

Die Zahl der russischen Bevölkerung ist zwischen 1991 und 2001 um 0,3 Prozent zurückgegangen. Die Geburtenrate ist von 1,6 in 1992 auf 1,2 Kinder pro Frau in 2002 gesunken und damit noch niedriger als die in Deutschland mit 1,3. In ihrem Bericht zur Bevölkerungsentwicklung 2004 macht die UNO deutlich, dass ihren Schätzungen zufolge die Bevölkerungszahl des größten Landes der Erde 2050 nur noch bei circa 100 Millionen Menschen liegen wird. Andere, sehr viel pessimistischere Berechnungen gehen von einer Halbierung des Standes von 1990 mit 148 Millionen Einwohnern aus.

Das monatliche Durchschnittseinkommen russischer Männer und Frauen betrug im Juni 2002 circa 5357 bis 6428 Rubel, also 150 bis 180 Euro (5), wobei die Löhne in der Brennstoffindustrie mit circa 14.300 Rubel (400 Euro) darüber, die in der Landwirtschaft mit 2035 Rubel (57 Euro) sogar noch weit darunter lagen. Fachleute mit Hochschulabschluss und Auslandserfahrung erhalten allerdings weitaus höhere Vergütungen. Ein deutliches Einkommensgefälle gibt es auch zwischen den Ballungszentren und der Provinz. Unterschiede von 50 Prozent und mehr sind keine Seltenheit (6).

Schlechter Gesundheitszustand

Der Gesundheitszustand der russischen Bevölkerung ist im Vergleich zu dem der Bevölkerung in Westeuropa deutlich schlechter. Die Lebenserwartung der Männer lag 2002 nach WHO-Angaben bei 58,3 Jahren (Deutschland: 75,6), die der Frauen bei 71,8 Jahren (Deutschland: 81,6). Der Anteil der über 60-jährigen Menschen an der russischen Gesamtbevölkerung ist mit 18,3 Prozent deutlich niedriger als der in der Bundesrepublik (24 Prozent). Erschreckend hoch ist die Zahl kranker Kinder. Wie die russische Zeitschrift „Trud“ 2003 ermittelte, leiden viele russische Kinder an chronischen Krankheiten. Es gibt allein 617.000 offiziell registrierte Kinderinvaliden. Impfungen für Kinder, zum Beispiel gegen Hepatitis A, sind gesetzlich vorgeschrieben, werden jedoch nur selten durchgeführt.

Auch wenn das Problem offiziell heruntergespielt wird: Nirgendwo in der Welt breitet sich AIDS gegenwärtig so stark wie in Russland aus. Seriöse Schätzungen gehen von derzeit 1 bis 1,5 Millionen HIV-infizierten Menschen und somit einer Prävalenz von über einem Prozent aus. (Deutschland: 0,05 Prozent Botswana über 40 Prozent). Die Zahl der am Vollbild AIDS erkrankten Menschen in Russland wird nach aktuellen WHO-Angaben derzeit auf 860.000 geschätzt. 80 Prozent der AIDS-Patienten sind zwischen 15 und 29 Jahre alt. In den nächsten zwei Jahren wird mit über einer Million Neuinfektionen gerechnet. Allein im vergangenen Jahr wurden circa 1000 Kinder von HIV-positiven Müttern geboren. Das Schicksal von AIDS-Waisenkindern in verwahrlosten Heimen gehört zu den traurigsten Realitäten der russischen Gegenwart. Die staatlichen Aufwendungen von jährlich 3,9 Millionen US-Dollar für Vorbeugung und Behandlung von HIV sind bei weitem nicht ausreichend (7).

Alkoholmissbrauch ist in Russland von jeher ein weiteres Hauptproblem und vorrangige Ursache der niedrigen Lebenserwartung insbesondere der Männer. In den Jahren seit Zusammenbruch des Kommunismus hat der Alkoholismus an Bedeutung zugenommen und ist nicht nur zu einer Bedrohung für die Volksgesundheit, sondern auch für die wirtschaftliche und politische Entwicklung geworden. Alle Versuche, den überbordenden Alkoholmissbrauch einzudämmen, sind bislang gescheitert. Gorbatschow wurde für seine Bemühungen Ende der 80er-Jahre als „Mineralsekretär“ verspottet. Keiner seiner Nachfolger ist das Thema seitdem erneut ernsthaft angegangen.

Gravierende Versorgungsdefizite

Die Gesundheitsausgaben pro Kopf der russischen Bevölkerung betrugen 2004 lediglich 108 US-Dollar. (USA: 2103 US-Dollar, Deutschland: 1742 US-Dollar, Brasilien 132 US-Dollar, Südafrika 115 US-Dollar). Bis 1990, das Jahr, in dem die Privatisierung von Krankenhäusern, Polikliniken und staatlichen Apotheken begann, hatten alle russischen Bürger kostenlosen Zugang zum Gesundheitswesen. Mit dem Übergang zur Marktwirtschaft verschlechterte sich die medizinische Versorgung vor allem in ländlichen Gebieten dramatisch. Dieses ist besonders bemerkenswert angesichts der Tatsache, dass Russland mit 421 Ärzten pro 100.000 Einwohner statistisch über mehr Mediziner als Deutschland mit 350 oder die USA mit 279 verfügt (9).

Seit Januar 2001 gilt eine einheitliche Sozialsteuer, die den Pensionsfonds, den Krankenversicherungsfonds und den Sozialversicherungsfonds abdeckt. Die Sozialsteuer ist vom Arbeitgeber abzuführen. Sie ist regressiv ausgestaltet und beträgt bei einem Jahres-Einkommen bis zu 100.000 Rubel (2700 Euro) 35,6 Prozent. Mit steigendem Einkommen nimmt die Belastung durch die Sozialsteuer ab (Tabelle 1). Bei Arbeitslosen wird der Beitrag vom Staat übernommen.

 

Tabelle 1: Berechnung der Sozialsteuer nach dem Steuerkodex der Russischen Föderation

EinkommenSteuer auf Einkommen bis 100.000 Rubel 35,6 Prozent von 100.001 bis 300.000 Rubel 35,6 plus 20 Prozent des 100.000 Rubel übersteigenden Betrages 300.001 bis 600.000 Rubel 75,6 plus 10 Prozent des 300.000 Rubel übersteigenden Betrages über 600.000 Rubel 105.600 Rubel plus zwei Prozent des 600.000 Rubel übersteigenden Betrages

 

Die Absicherung im Krankheitsfall beschränkt sich im Wesentlichen auf die ärztliche Behandlung. In den meisten Fällen müssen die Patienten jedoch auch hier zuzahlen. Arzneimittel werden im Regelfall nicht übernommen. Die Behandlung in staatlichen Krankenhäusern erfolgt kostenlos, ist aber qualitativ meist mangelhaft. Das medizinische Personal ist oft unterbesetzt und schlecht bezahlt. Klinikärzte zählen, wie Lehrer, zu den geringstbezahlten Berufsgruppen Russlands. Für Nahrung, Arzneimittel, Infusionen und Verbandstoffe muss der Patient selbst aufkommen.

Der Großteil der Bevölkerung wird medizinisch und medikamentös mangelhaft versorgt. Auch und gerade die Behandlung von chronischen Erkrankungen oder Infektionen ist zumeist unzureichend. Besonders betroffen sind Kinder. So werden nur 20 Prozent der an chronischer Hepatitis B erkrankten Kinder kostenlos behandelt. Die Therapiekosten und Medikamente zum Beispiel hämophiliekranker Kinder werden nur zu 10 Prozent von der Sozialversicherung übernommen.

Gegenwärtig plant die Regierung den Umbau des Sozialsystems, der mit weiteren Nachteilen für die Bevölkerung einhergeht. Bisher gewährte Vergünstigungen wie Freifahrtscheine für den öffentlichen Nahverkehr, verbilligte Medikamente, kostenlose medizinische Behandlung oder Kuraufenthalte sollen abgeschafft werden. Statt derzeit 32 Millionen Bedürftigen will die Zentralregierung zukünftig nur noch 10 Millionen Behinderten Geldzahlungen zwischen 20 und 100 Euro monatlich zukommen lassen, während die verbleibenden 20 Millionen Empfänger regional versorgt werden sollen. Dagegen formiert sich unter Führung der Kommunisten erheblicher Widerstand, weil die monetäre Ausstattung der zumeist finanziell von Moskau abhängigen 89 Regionen nicht aufgestockt werden soll. Die Weltbank unterstützt die Regierungspläne (10).

Nachlass in Sozialapotheken

Russlands Arzneimittelmarkt, der sich durch ein rasantes Wachstum auszeichnet, nahm 2003 um circa 20 Prozent zu. Der Apothekenumsatz belief sich auf 12,7 Milliarden Rubel (3,43 Milliarden Euro beziehungsweise 4,46 Milliarden US-Dollar). Russische Pharmahersteller konnten ihren Absatz von 3,3 Milliarden Rubel auf 4,07 Milliarden Rubel steigern. Der Import nahm von 3,88 Milliarden Rubel auf 5,98 Milliarden Rubel (1,6 Milliarden Euro beziehungsweise 2,1 Milliarden US- Dollar; Zollpreise) zu. Vom rasanten Marktwachstum profitieren demnach besonders ausländische Hersteller. Diese Entwicklung entspricht dem steigenden Trend auch bei Umsätzen von Konsumgütern wie Autos.

Die Preise für Medikamente steigen ständig. Der stärkste Zuwachs war nach Einführung der 10-prozentigen Mehrwertsteuer im Jahr 2002 zu verzeichnen. Eine Preisbindung für Arzneimittel gibt es nicht, hingegen deutliche Preisunterschiede in Abhängigkeit vom Vertriebsweg und der Region. Diese Preisunterschiede reichen zum Beispiel im Falle von Acetylsalicylsäure-Tabletten (20 Stück) von 136 Rubel (3,83 Euro) in einer Apotheke im Kirov-Gebiet bis hin zu 51,8 Rubel (1,46 Euro) in einer Versandapotheke in Moskau.

Nur wenige Arzneimittel und hier vorrangig Betäubungsmittel und Psychopharmaka sind verschreibungspflichtig. Sind alle anderen Medikamente auch ohne ärztliche Verordnung in der Apotheke erhältlich, so wird Rentnern zum großen Teil 5 bis 6 Prozent Rabatt zuzüglich einem Bonus von 1 Prozent bei einem Einkauf über 1000 Rubel gewährt. Internetapotheken werben mit kostenloser Zustellung und Sonderkonditionen. Allerdings hat die russische Regierung mit Wirkung vom 6. Februar 2002 den Versandhandel von Arzneimitteln mit Privatpersonen eingeschränkt.

Für die sozial schwache Bevölkerung, zu der die meisten Rentner gehören, sind hochpreisige Arzneimittel in Apotheken unter normalen Umständen unerschwinglich. Wollen sie nicht gänzlich auf eine Arzneimitteltherapie verzichten, ist es für sie nur allzu oft unumgänglich, Angebote des Schwarzmarktes zu nutzen. Um diesem Trend entgegenzusteuern, versorgt das finanzstarke, in St. Petersburg ansässige Apothekennetz „Pharmakor“ in 50 Filialen sozial schwache Patienten mit etwa 500 ausgewählten Arzneimitteln, deren Preise circa 30 Prozent unter dem Durchschnitt liegen.

Die „Sozialapotheken“ haben einheitliche Öffnungszeiten von acht bis 22 Uhr. Bezugsberechtigte erhalten eine Kundenkarte mit Namen, Anschrift und Nummer des Rentenausweises. Die Kunden werden umfassend über Einnahme, Wechselwirkungen und Nebenwirkungen von Arzneimitteln informiert. Dies kann auch telefonisch erfolgen, ebenso die Vorbestellung von Arzneimitteln. In Moskau existiert mit dem Apothekennetz „Pharmir“ eine ähnliche Einrichtung. Rentner und Diabetiker erhalten dort zwischen 20 und 25 Prozent Rabatt. Bei diesen Apothekenketten kann man allerdings nicht von „wohltätigen Einrichtungen“ sprechen. Sie kommen durchaus „auf ihre Kosten“.

Topseller Sildenafil und Orlistat

1990 eingeleitet, befindet sich das russische Apothekenwesen gegenwärtig nach wie vor in der Phase der Umwandlung vom staatlichen zum privatwirtschaftlichen System. Wie in den neuen deutschen Bundesländern gab es bis Mitte der 90er-Jahre eine Gründungswelle privater Apotheken. Daneben blieben in manchen Regionen auch staatliche Apotheken bestehen. Der Apothekensektor ist einem Konzentrationsprozess unterworfen. Große und mittlere Betriebe beginnen damit, sich zusammenzuschließen und zu expandieren.

Exakte Angaben zur Zahl der Apotheken in Russland lassen sich derzeit nicht machen. In Moskau gab es in 2002 circa 553 Apotheken sowie 194 „Apothekenkioske“, das sind deutschen Zeitungskiosken ähnliche Verkaufsstellen zum Beispiel in U-Bahnhöfen oder an stark frequentierten Verkehrsknotenpunkten in Großstädten, und 55 Großhandelslager. Viele der Apotheken werden vom Inhaber geführt. Daneben existieren Ketten mit zum Teil mehreren hundert Apotheken.

Für russische Apotheken gelten der deutschen Apothekenbetriebsordnung vergleichbare Vorschriften. Die letzte Novellierung im März 2003 deutet darauf hin, dass dem Gründungsboom von Klein- und Kleinstapotheken und hier zum Beispiel Kiosken Einhalt geboten werden soll. Für Apotheken ohne Rezeptur sind auf dem Land mindestens 66 Quadratmeter, in der Stadt 90 Quadratmeter erforderlich. Apotheken, die Rezepturen und Sterilzubereitungen herstellen, müssen 114 beziehungsweise 138 Quadratmeter Fläche aufweisen. Auch die Größe einzelner Apothekenräume ist gesetzlich reglementiert. So werden mindestens 42 Quadratmeter für die Offizin, 20 Quadratmeter für das Lager und acht Quadratmeter für den Aufenthaltsraum verlangt.

Das Sortiment russischer Apotheken ist dem westeuropäischer Apotheken vergleichbar, jedoch oftmals wesentlich kleiner. Der Eigenproduktion kommt mehr Bedeutung als in westeuropäischen Apotheken zu. Besonders in staatlichen Apotheken werden Salben, Mixturen, Tinkturen, Augentropfen, Pulver oder Infusionen für Krankenhäuser hergestellt.

Statistischen Angaben aus 2003 der über 600.000 Einwohner zählenden sibirischen Metropole Irkutsk zufolge war Sildenafil als Mittel gegen erektile Dysfunktion umsatzstärkstes Produkt. In der Liste der „Topseller“ folgen Orlistat als Arzneimittel zur Behandlung der Adiposias, Erkältungs- und Verdauungspräparate sowie Antimykotika. Hinsichtlich Packungszahlen führen Vitamine und Mineralien vor spezifischen Antihypertonika und Kontrazeptiva. Auf Grund der Verkaufszahlen der Association of International Pharmaceutical Manufacturers in Russia – AIPM scheint Sildenafil zu den Topsellern nicht nur in Irkutsk, sondern in ganz Russland zu zählen.

Zunahme von Fälschungen

Die große Zahl der Apotheken bei gleichzeitiger Existenz von Schwarzmärkten geht mit einem unerbittlichen Verdrängungswettbewerb einher. Dieser wird vor allem in den Großstädten über intensiven Preiswettbewerb, zügellose Expansion und weit gehenden Verzicht auf Ladenschlusszeiten geführt. So haben Apotheken in Moskau und St. Petersburg meist sieben Tage in der Woche bis in die späten Abendstunden geöffnet.

Die nach internationalen Standards bilanzierende Apothekenkette „36,6“, der 250 Apotheken angeschlossen sind, spricht in ihrem Geschäftsbericht von einer schlechten Ertragslage. Dem gemäß lag ihr Umsatz in 2003 bei 148 Millionen US-Dollar. Man habe, so heißt es im Geschäftsbericht, keinen Gewinn erwirtschaften können. Es wurde ein operativer Verlust ausgewiesen. Dennoch, so weiter, setze das Management auf weitere Expansion, wobei bis 2008 eintausend Apotheken zur Kette gehören sollen. Das notwendige Geld soll durch den Verkauf von Aktien aufgebracht werden, wobei auch auf ausländisches Kapital gesetzt werden soll. Tatsächlich engagieren sich internationale Kapitalgeber wie die saudische „Carlyle-Group“ im russischen Pharmamarkt. Um die internationale Glaubwürdigkeit zu gewährleisten, werden namhafte Wirtschaftsprüfungsunternehmen engagiert und Zertifizierungen etwa nach DIN EN ISO 9001 durchgeführt.

Zwar gelten Arzneimittel in Russland als apothekenexklusiv, doch existiert auf den Schwarzmärkten ein vielfältiges Angebot an zum Teil gefälschten Arzneimitteln. Der jährlich steigende Umsatz mit Fälschungen (fehlende oder falsche Wirkstoffe, niedrigere als angegebene Dosierungen) beläuft sich offiziellen Schätzungen zufolge derzeit auf circa 260 Millionen Rubel (70 Millionen Euro). Diese Angabe ist nicht überprüfbar, aber sicher zu niedrig. Der Mengenanteil an gefälschten Arzneimitteln soll zwischen 10 und 15 Prozent des Medikamenten-Schwarzmarktes liegen. Hochpreisige Präparate sollen zu 75 bis 90 Prozent gefälscht sein. Nach offiziellen Darstellungen stammen die Fälschungen zumeist aus Indien, Bulgarien oder Polen. Es ist jedoch davon auszugehen, dass Russland nicht ausschließlich Importland für Arzneimittelfälschungen ist. Bekannt ist, dass sich frühere pharmazeutische und chemische Staatsbetriebe auf die Herstellung von Fälschungen spezialisiert haben.

Auch die öffentlichen Apotheken in Russland können sich nicht gänzlich vor Fälschungen schützen. Die obligatorischen, von Gebiets-, Kontroll- und Analyselaboratorien ausgestellten Zertifikate gewährleisten keine ausreichende Sicherheit. Von größerer Bedeutung sind die Qualitätssicherungssysteme der Großhändler. Die namhaften russischen Pharmagroßhändler Protek, Shreya Corporation und SIA International arbeiten eng mit ausländischen Herstellern zusammen und können die Qualität ihrer Produkte weitgehend garantieren.

Provisoren haben das Sagen

Herstellung, Arzneimittel-Abgabe, Identitäts- und Qualitätsprüfungen, Information und Beratung von Ärzten und Patienten: Die pharmazeutischen Tätigkeiten in russischen Apotheken werden durch Provisoren und Pharmazeuten ausgeübt, wobei die Qualifikation der Provisoren der deutscher Pharmazeuten, die Qualifikation russischer Pharmazeuten der deutscher PTAs entspricht. Im Unterschied zu den Provisoren dürfen russische Pharmazeuten keine Apotheken besitzen, sie sind jedoch vertretungsberechtigt. Voraussetzung zur Ausübung der Tätigkeit des Provisors ist ein viereinhalbjähriges Studium an der Universität, an einer Pharmazeutischen Akademie oder Pharmazeutischen Hochschule, das entweder mit einem Staatsexamen oder, nach einem zusätzlichen halbjährigen Praktikum, mit einem Diplom abgeschlossen werden kann. Je nach Art des Praktikums können vergleichbar mit der Erlangung des Titels eines deutschen Fachapothekers zum Beispiel für Arzneimittelinformation oder -kontrolle verschiedene Provisoren-Zusatzbezeichnungen wie „Provisor-Informatik“ oder „Provisor-Analytik“ erworben werden. Der russische Pharmazeut hingegen absolviert nach der neunten Schulklasse eine dreijährige Fachausbildung, die ebenfalls mit einer Prüfung und einem Praktikum endet. In russischen Apotheken werden außerdem Kassiererinnen, Buchhalter und Hilfskräfte beschäftigt.

Die Gehälter der Apothekenmitarbeiter variieren sehr stark in Abhängigkeit vom Standort und der Tatsache, ob es sich um eine private oder staatliche Institution handelt. So verdienen Provisoren und Pharmazeuten in einer staatlichen Moskauer Apotheke mit etwa 10.000 (294 Euro) beziehungsweise 8000 Rubel (235 Euro) im Monat für russische Verhältnisse relativ gut. Ein Provisor einer Krankenhausapotheke in Kirov erhält dagegen nur 2000 Rubel (58 Euro).

Die Bezahlung in privaten Apotheken liegt teilweise über der in staatlichen Apotheken. In Moskau und St. Petersburg finden Provisoren und Pharmazeuten ohne Schwierigkeit eine Anstellung. Allerdings werden weder die Bezahlung noch die Arbeitszeiten als attraktiv empfunden, sodass viele Apotheker eine berufliche Perspektive in den USA oder Westeuropa suchen.

Auf Grund der schlechten Ertragslage und eines sich abzeichnenden Fachkräftemangels scheint die Zukunft der Apotheken in Russland gegenwärtig ungewiss. Allerdings zeigen der Zufluss an Fremdkapital auch aus dem Ausland und entsprechend lenkende Maßnahmen der Regierung, dass Apothekenketten eine Perspektive eingeräumt wird.

 

Literatur bei den Verfassern

 

Die Autoren

Tanja Gramkow wurde 1969 in Salasna (Kirov-Gebiet) geboren. Von 1987 bis 1992 studierte sie Pharmazie am Pharmazeutischen Institut in Perm (Ural-Gebiet). Von 1992 bis 1996 war Gramkow als Provisorin in einem Kontroll- und Analyselabor im Kirov-Gebiet tätig. 1996 siedelte sie in die Bundesrepublik Deutschland über und arbeitet seit 2000 in öffentlichen Apotheken unter anderem in Rostock.

Dr. Christoph Schümann wurde 1965 in Rostock geboren. Er hat die russische Sprache während der Schulzeit als damals obligatorische erste Fremdsprache erlernt. Von 1985 bis 1990 studierte Schümann Pharmazie in Greifswald. 1994 wurde er an der Universität Greifswald mit dem Thema „Der Anteil deutscher Apotheker an der Entwicklung der technischen Chemie zwischen 1750 und 1850“promoviert. Seit 1996 ist Schümann Inhaber der „Apotheke Lichtenhagen“ in Rostock. Schümann ist seit 2002 Vizepräsident der Apothekerkammer Mecklenburg-Vorpommern.

 

Anschrift der Verfasser:
Dr. rer. nat. Christoph Schümann
Apotheke Lichtenhagen
Güstrower Straße 6a
18109 Rostock
apolichtenhagen@web.de

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