Pharmazeutische Zeitung online

Berufsbild neu definieren

15.12.2003  00:00 Uhr

Stuttgarter Thesen

Berufsbild neu definieren

von Brigitte M. Gensthaler und Daniel Rücker, Stuttgart

Selbstkritisch über Mängel und Schwächen der Medikamentenversorgung nachdenken und Impulse für eine zielführende Reform im Gesundheitswesen geben – dies sind die Anliegen der „Stuttgarter Erklärung“.

Mit der Reflexion der Lage des Berufstandes hatte die Landesapothekerkammer (LAK) Baden-Württemberg im Sommer eine achtköpfige, sehr heterogen zusammengesetzte Arbeitsgruppe beauftragt. Mit dem Münchner Leibniz-Preisträger und Theologen Graf habe man einen Vorsitzenden gewählt, der über jeden Verdacht erhaben sei, ausschließlich eigene Reformideen einbringen zu wollen und für eine „Sichtweise von außen“ bürge, erklärte Kammerpräsident Dr. Günter Hanke bei der Vorstellung der Thesen während der Pharmazeutischen Tafelrunde der LAK am 9. Dezember. Bei der traditionellen Tafelrunde in Stuttgart-Vaihingen konnte er rund 90 Gäste begrüßen, darunter die Präsidenten der ABDA, Hans-Günter Friese, und der Bundesapothekerkammer, Johannes M. Metzger.

Die Arbeitsgruppe hat ihre Ergebnisse in einer umfangreichen „Stuttgarter Erklärung“ zusammengefasst. Der geforderte Veränderungsprozess werde kontroverse Diskussionen auslösen, ist sich Hanke sicher. Die Kammer wolle mit ihrer Initiative jedoch bewusst kritische Selbstwahrnehmung, Flexibilität und Modernisierung fördern und eine Debatte über die Landesgrenzen hinaus zum Wohl des Patienten anstoßen. Ob und in welcher Form die Apotheker die Empfehlungen annehmen wollen, sei ein Prozess auf Bundesebene.

Auf der Basis dieser Thesen werde die Kammer Baden-Württemberg ihren Beitrag zu zielführenden Reformen im Gesundheitswesen leisten, versprach der Präsident bei der Tafelrunde. Im Mittelpunkt aller Reformen müssten Effizienz und Qualität stehen. Als Experte für die medikamentöse Therapie erbringe der Apotheker dabei seine wesentliche Leistung.

Veränderung tut Not

„Die wichtigsten Beiträge, die Apotheker zur Sicherung der Qualität im Gesundheitswesen und zur Optimierung des Einsatzes von Ressourcen leisten können, sind die Neudefinition ihrer Berufsrolle und tief greifende Veränderungen ihres professionsspezifischen Habitus.“ Dies ist einer der Kernsätze der Stuttgarter Thesen, die Graf bei der Tafelrunde vorstellte.

Im Mittelpunkt stehe dabei die Förderung der Patienten-Compliance. Der chemische Wirkstoff werde erst zum Medikament, wenn er sachgemäß mit Blick auf die individuelle Lebensgeschichte des Patienten angewendet werde, sagte Graf. Voraussetzung für die korrekte Anwendung des Arzneimittels sei das Einverständnis des Patienten in die Therapie. Bei dieser Einwilligung spiele der Apotheker eine zentrale Rolle, denn er müsse den Patienten über die Wirkung des Arzneimittels und seine richtige Einnahme informieren. Ebenso müsse der Patient über mögliche Nebenwirkungen aufgeklärt und vor Fälschung geschützt werden. Nur wenn ihm all diese Informationen zur Verfügung stünden, könne er eigenverantwortlich die Therapie steuern.

Oberstes Gebot bei der Beratung der Patienten sei dessen vollständige Autonomie. Apotheker wie auch Ärzte nähmen in der Beratung häufig eine zu autoritäre Rolle ein, warnte Graf. Dies führe nicht zum eigenverantwortlichen Patienten.

Bei der Beratung in der Apotheke sieht Graf deutlichen Verbesserungsbedarf. In der Öffentlichkeit werde der Apotheker in erster Linie als Kaufmann wahrgenommen. Diese Fremdwahrnehmung werde von vielen Apothekern verinnerlicht und spiegele sich in ihrem Verhalten wider, stellte Graf fest. Die Apotheke reduziere sich so selbst auf die Distribution der Arzneimittel, ihre eigene heilberufliche Leistung stehe im Hintergrund. Diese Fehlentwicklung sei der Grund für die Diskussionen über Internet-Apotheken.

Seine Position im Gesundheitswesen könne der Apotheker nur stärken, indem er dieser Fehlentwicklung entgegentrete. Graf: „Den wichtigsten Beitrag, den Apotheker und Apothekerinnen zur Sicherung der Qualität des Gesundheitswesens und zur Optimierung des Einsatzes von Ressourcen leisten können, sind die Neudefinition ihrer Berufsrolle sowie tief greifende Veränderungen ihres professionellen Habitus. Im Interesse der Gesundheit der Patienten muss der Kaufmann sehr viel stärker als bisher zum beratenden Heilberufler werden.“ Dabei gelte die Trias Patientenwohl, Patientenwille und das „Verbot zu schaden“. Eine intensive Ausbildung in Gesprächsführung und reflektierter Selbstwahrnehmung sei notwendig, um in den Beratungsprozessen der „latent vorhandenen Gefährdung des entmündigenden Paternalismus“ zu begegnen.

Voraussetzung für einen stärker heilberuflich orientierten Apothekers sei eine neue Honorierung. Die Beratungstätigkeit müsse stärker honoriert werden. Die neue Preisverordnung geht Graf dabei nicht weit genug, denn sie basiere immer noch auf dem Verkauf von Arzneimitteln. Ein effizienter Arzneimitteleinsatz sei dagegen nur möglich, wenn es für die Apotheker keinerlei ökonomische Anreize gebe, den Kauf eines Arzneimittels zu empfehlen.

Für die kompetente Beratung seien naturwissenschaftliche Kenntnisse zwar unerlässlich, sie müssten aber ergänzt werden durch die Fähigkeit, sich in den Patienten hineinzuversetzen, ergänzt werden. Zudem müsse der Apotheker in der Lage sein, dem Patienten sein Wissen in geeigneter Weise zu vermitteln. Um hilfreich beraten zu können, benötige der Apotheker auch Informationen über die Lebensgeschichte des Ratsuchenden, über sein soziales Umfeld und über die Einstellung zu seiner Erkrankung.

Senioren im Fokus

Graf forderte die Apothekerinnen und Apotheker auf, ihr Berufsverständnis bald zu überdenken. Angesichts der demographischen Entwicklung gebe es einen rapide steigenden Beratungsbedarf. Bei Senioren als wichtigsten Kunden des Apothekers sei die angemessene Information besonders diffizil und wichtig. Die große Herausforderung und Chance für den Apotheker sei es, die wachsende Zahl chronisch kranker Menschen zu betreuen. Diese Betreuung müsse selbstverständlich bis ans Krankenbett gehen. Dies erfordere zwar viel Einsatz und Engagement, auf der anderen Seite stärke es aber auch die Bedeutung der Pharmazeuten erheblich. Graf: „Wenn es den Apothekern gelingt, gerade bei den ganz Alten die Compliance zu fördern, leistet er der Gesellschaft einen extrem großen Dienst und trägt erheblich zur Begrenzung der Kosten bei.

Die „Stuttgarter Thesen“ betrachten den Apotheker nicht nur isoliert. Ein Teil der Probleme sei auch in der mangelhaften Kooperation im Gesundheitswesen begründet. „Die verschiedenen Heilberufe wirken wenig zusammen, zum Schaden der Patienten und auch mit der Folge der Vergeudung von Mitteln.“ Gerade für Apotheker sei eine engere Zusammenarbeit mit Ärzten und Krankenhäusern eine notwendige Voraussetzung für die Optimierung ihrer Arbeit.

Kammern neu definieren

Die Wandlung des Berufsbildes kann nach den von Graf vorgestellten „Stuttgarter Thesen“ nicht vor den Berufsvertretungen Halt machen. Auch die Kammern müssten sich ändern. Ihnen komme die Aufgabe zu, die apothekerlichen Rollenkonflikte aufzuzeigen und nach Lösungen für diese Probleme zu suchen. Außerdem müssten sie ihr Engagement in der Qualifizierung des Berufsstandes verstärken. Der schnelle wissenschaftliche Fortschritt in Medizin und Pharmazie verlange die regelmäßige Fortbildung der Apotheker. Allerdings dürfe sich diese Fortbildung nicht allein auf naturwissenschaftliche Sachverhalte beschränken, sondern müsse auch die kommunikativen Kompetenzen der Apotheker stärken.

Schließlich müsse sich die gesamte Apothekerschaft intensiver um ein Leitbild für den Berufsstand bemühen. Anhand dieses Leitbildes falle es leichter, gute von schlechten Apothekern abzugrenzen. Dies sei für den Berufsstand dringend notwendig, denn „der größte Feind des guten Apothekers ist der schlechte“.

Diskussion angestoßen

Die Stuttgarter Thesen lieferten reichlich Gesprächsstoff bei der Tafelrunde. ABDA-Präsident Friese würdigte die Erklärung als wichtigen Beitrag zur Leitbildentwicklung der Apothekerschaft und lobte die konstruktive Kritik der Experten. Auch BAK-Präsident Metzger bestätigte Grafs Einschätzung, dass die Apotheker „die Sicherung der Qualität weiter verstetigen“ müssten. Gleichfalls teile er die Anregungen zur Verbesserung ihrer kommunikativen Kompetenz. Hanke äußerte die Hoffnung, dass das Papier im Ganzen bewertet und nicht nur wenige Passagen extrahiert werden.

Die ausführliche Erklärung wurde allen Mitgliedern der Vertreterversammlung zugestellt. Sie kann, ebenso wie eine Kurzfassung, im Netz unter www.lak-bw.de heruntergeladen werden. Top

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