Industrie entdeckt ihr Herz für Kinder |
19.11.2001 00:00 Uhr |
Pharmaindustrie und Politik wollen die Defizite in der Arzneimitteltherapie bei Kindern abbauen. Nach Schätzungen von Pädiatern und Pharmakologen fehlt 80 bis 90 Prozent der Kindern verordneten Medikamente die rechtliche Zulassung. Zudem gibt es zu wenig kinderspezifische Darreichungsformen.
Die USA haben die Lösung des weltweit verbreiteten Problems von Arzneimittel für Erwachsene in der Kinderheilkunde seit 1997 zur nationalen Aufgabe gemacht haben. Heute kann die US-Zulassungsbehörde kindgerechte Präparate vorschreiben. Bei zugelassenen Erwachsenen-Medikamenten kann sie die heilkundliche Kindertauglichkeit im Nachhinein untersuchen lassen; eine Prioritätenliste umfasst 400 zu prüfende Wirkstoffe.
Mittlerweile sorgt politischer Druck auch in Deutschland und bei der EU-Kommission in Brüssel für Bewegung. Seit Januar haben zunächst SPD und Grüne im Bundestag, dann die Union auf eine Initiative gedrängt. Anfang November war das Thema Gegenstand zweier öffentlicher Anhörungen im Bundestagsgesundheitsausschuss. Als Soforthilfe favorisiert die Regierung eine temporäre Zulassung. Sie soll die Ärzte aus ihrer Haftungsfalle befreien. Denn die juristischen Konsequenzen des so genannten Off-Label-Use sind vertrackt: Werden Eltern nicht aufgeklärt, dass ihr Kind ein Medikament außerhalb der Zulassung erhält, haftet der Arzt, nicht der Hersteller.
Umgekehrt kann sich der Arzt nicht vor Haftungsrisiken schützen, indem er nur zugelassene Medikamente verschreibt. Denn nach geltender Rechtsprechung (Aciclovir-Urteil des Oberlandesgerichts Köln) muss sich der Mediziner am fachlichen Standard und nicht an der Zulassungssituation orientieren. Sonst riskiert er strafrechtliche Konsequenzen wegen Fehlbehandlung durch Nichtverordnen wirksamer Arzneien.
Parallel zur geplanten Soforthilfe richtete die Bundesregierung auf Mitbetreiben der Pharmaverbände eine Kommission Arzneimittel für Kinder und Jugendliche beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) ein. Sie soll weltweit prüfen, für welche Präparate klinische Daten an Kindern noch fehlen und für welche eine Erhebung unabdingbar ist. Seit Dezember 2000 steht auch die EU-Kommission unter Handlungsdruck.
Die deutschen Pharmaunternehmen hoffen neben einer vereinfachten Nachzulassung auf vergleichbare wirtschaftliche Anreize wie in den USA: Dort habe allein der um sechs Monate verlängerte Patentschutz, wenn ein Medikament auch für Kinder zugelassen wird, zu deutlich mehr pädiatrischen Studien geführt.
Rot-Grün will der Pharmabranche ein solches Bonbon zwar nicht verwehren. Zunächst schlagen sie jedoch eine paritätisch von Bund und Pharmaindustrie finanzierte Stiftung zur Behebung der Defizite in der Kinderheilkunde vor. Damit stoßen sie bei den Pharmaverbänden aber auf Skepsis. Strittig sind sowohl der Forschungsumfang und mithin die Höhe des Stiftungskapitals als auch die Effektivität einer Stiftung.
Dennoch schlagen die Verbände die Tür zur Stiftungsidee nicht zu. Immerhin, so ist zu hören: Eine stiftungsfinanzierte Kommission bei der Europäischen Arzneimittelzulassungsagentur (EMEA) zur koordinierten Überwindung der Forschungs- und Zulassungsdefizite könnte sich rechnen.
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