Profilieren, solange wir noch Kunden haben |
16.08.1999 00:00 Uhr |
PZ-INTERVIEW
Karin Wahl, seit 23. Juni 1999 in Baden-Württemberg erste Präsidentin einer Landesapothekerkammer in der Geschichte des Berufsstandes, gilt nach wenigen Auftritten auf der berufs- und gesundheitspolitischen Bühne als Pragmatikerin ohne Schnörkel und Attitüden. Was hat sich die Leiterin der Stuttgarter Charlotten-Apotheke für ihre Amtszeit auf Landes- und Bundesebene vorgenommen? Wie beurteilt sie die Lage und die Chancen?
PZ: Frau Wahl, in Ihrer Antrittsrede haben Sie gesagt, die Kammer vertritt alle Apotheker. Wo sehen Sie Defizite?
Wahl: Bisher haben die Offizinapotheker das Weltbild der Pharmazeuten bestimmt. Sie sind zwar zahlenmäßig in der Mehrheit. Aber in der Kammerarbeit sollen alle, die Pharmazie studiert haben, aufgefangen werden. Das Spektrum der Pharmazie umfaßt ja viel mehr als nur die Offizinpharmazie. Deshalb ist es mir ein Anliegen, daß alle Pharmazeuten - ob Krankenhaus- oder Offizinapotheker, Industrieapotheker, Apotheker in Forschung oder Behörden - in die Kammerarbeit einbezogen werden. Damit hat man gute Kontakte, man tauscht sich aus, man bekommt viele Informationen. Das ist schließlich ein wichtiger Weg in der Politik, weil jeder auf seinem Gebiet unterschiedlich Einfluss nehmen kann.
PZ: Dem Berufsstand gehören zu über 62 Prozent Frauen an. Dennoch sind Sie die erste Kammerpräsidentin. Was sollte hier geschehen?
Wahl: Ich wünsche mir, dass normalere Verhältnisse eintreten und alle Beteiligten unverkrampft auftreten. Es sollte selbstverständlich sein, dass in der Berufsvertretung auch an der Spitze Frauen stehen und zusammen mit den Männern präsent sind. Dabei gibt es nichts zu deuteln: Männer haben in der Regel den Rücken frei und sind stärker an ihrer Karriere orientiert. Zu Hause ist eine Frau, die die Kinder erzieht und den Haushalt in Ordnung hält. Frauen in solchen Ämtern müssen einfach mehr andere Aufgaben bewältigen als Männer. Aber es geht, wie man sieht.
PZ: Welche Schwerpunkte setzen Sie in Ihrer Kammerarbeit auf Landesebene?
Wahl: Am wichtigsten ist mir, die Qualität der Ausbildung zu optimieren. Ich habe angefangen, die Honoratioren aus der Pharmazie zur "Pharmazeutischen Tafelrunde", einer traditionellen Veranstaltung der Kammer Baden-Württemberg, einzuladen. Ein Gastredner war zum Beispiel der Minister für Wissenschaft, Forschung und Kunst des Landes Baden-Württemberg, Klaus von Trotha. Er wollte nicht einsehen, warum Pharmazeuten, die später einen wie er sagte praktischen Beruf ausüben, an der Hochschule studieren müssen. Die Fachhochschule täte es seiner Meinung nach auch.
Damals hatte ich alle Antennen ausgefahren: Morgen nur noch Fachhochschule, übermorgen brauchen wir vielleicht überhaupt keine Apotheker mehr, ... Dagegen muss man etwas tun.
Nach diesem Schlüsselerlebnis habe ich bei den begleitenden Unterrichtsveranstaltungen mit den Studenten der Landesuniversitäten gesprochen und gefragt, wo sie Defizite in der Ausbildung sehen und Unterstützung suchen. Aus den Erkenntnissen habe ich die Tutorenkurse entwickelt. Sie sollen im praktischen Jahr die Kluft zwischen Wissenschaft und Praxis schließen helfen.
An der Uni müssen die jungen Leute 300 Synthesen auswendig lernen, wissen aber nicht, wie sie mit einem Kunden sprechen sollen. Sie müssen lernen, das theoretische Wissen in die Praxis umzusetzen. Das ist Qualitätsverbesserung.
PZ: Bezieht sich das Praxistraining auch auf ökonomische Aspekte?
Wahl: Selbstverständlich. In jeder Apotheke haben wir heute einen Datenfriedhof. Die Computer erfassen eine Fülle pharmaökonomischer Daten, nur wissen die wenigsten damit etwas anzufangen. Niemand führt die Daten zusammen und zieht daraus Schlüsse.
PZ: Und Qualitätssicherung?
Wahl: Wir mussten viele Kollegen dafür erst sensibilisieren, weil die sich schon von den geltenden Vorschriften, Gesetzen und Verordnungen genug reglementiert fühlen. Wichtig war hier, eine an die ISO-Norm angelehnte berufsspezifische Zertifizierung zu schaffen, die auch anerkannt wird. Das haben die Kammern ja jetzt geschafft.
PZ: Wenden wir uns der Berufspolitik auf Bundesebene zu. Was streben Sie hier an?
Wahl: Zunächst einmal eine gute Zusammenarbeit mit den anderen Kammerpräsidenten. Wir müssen mehr und besser kommunizieren. Bei den monatlichen Treffen in Eschborn, bei denen wir eine parlamentarische Sitzordnung haben, sind freie Diskussionen schwer möglich. Wir tauschen Sachstandsberichte aus, und das nimmt viel Zeit in Anspruch. Andere Themen können da nur angerissen und nicht grundsätzlich diskutiert werden. Wir müssten uns intensiver austauschen, wofür die einzelnen Länder überhaupt eintreten. Das ist Arbeit, die ich mir wünsche.
PZ: In welche Richtung muss sich der Berufsstand entwickeln oder anders gefragt, wie können oder sollen sich einzelne Apotheker profilieren?
Wahl: Die Apotheker können sich hervorragend profilieren, solange sie noch Kunden haben und sie sollten dafür sorgen, dass sie die auch behalten. Mit jedem Kunden, der zur Tür herein kommt, haben die Apotheker die Chance zu beraten, ihre Fachkenntnisse zu vermitteln und Kunden zu binden. Man hat gewonnen, wenn man bei seinem Kunden zum vertrauensvollen Berater geworden ist. Aber dafür braucht man Kompetenz. Es reicht heutzutage nicht mehr, nur acht Semester Pharmazie studiert zu haben, sondern man muss den Blick weiten und zu den Nachbardisziplinen hin öffnen.
Für mich wäre eine zeitweise parallele Ausbildung von Medizinern und Pharmazeuten ideal, damit man die gleiche Sprache spricht. Apotheker sollten auch von Differentialdiagnostik etwas verstehen, damit sie wissen, was ein Schmerz hinterm Brustbein bedeuten kann. Wenn ein Patient sein Symptom schildert, hilft dem Apotheker die chemische Formel von einem Wirkstoff auch nicht weiter. Gerade in den Zeiten des Arzneimittelbudgets mit Engpässen in der Verordnung kommen ja die Patienten öfter in die Apotheke, weil sie wissen, dass sie hier Hilfe bekommen. Dieses Vertrauen müssen wir rechtfertigen können. Wenn das mehr Kollegen bewußt wäre, bräuchten wir uns keine Zukunftssorgen zu machen.
PZ: Was bedeutet Ihnen persönlich Pharmazeutische Betreuung und das Verhältnis zu ihren Kunden?
Wahl: Das hat für mich allerhöchsten Stellenwert, und ich praktiziere das, seit ich eine Apotheke habe. Nur hieß es damals noch nicht so. Was wir heute Pharmazeutische Betreuung nennen, sollte der selbstverständliche Umgang mit dem Kunden sein. Ich verstehe, dass viele Kollegen Scheu davor haben, weil Pharmazeutische Betreuung von der Hochschule auf hohem Niveau gefordert wird. Das macht die Eintrittsschwelle scheinbar zu hoch. Aber das gerade ist die Leistung, die uns im Unterschied zur Kassiererin im Supermarkt oder zum Tankwart unverwechselbar und unaustauschbar macht.
PZ: Das Arzneimittel als besondere Ware braucht also mehr als eine vom Computer servierte Beratung.
Wahl: Natürlich. Wir dürfen vor allem nicht zulassen, dass Arzneimittel entkompliziert werden. Heutzutage will man alles so simpel wie möglich machen. Ein Beispiel: Wenn man Presomen an der Kasse abstreicht und der Computer zeigt "Calcium empfehlen", dann ist das zu einfach. Der Apotheker muss auch Zusammenhänge kennen und sie erklären können.
PZ: Wie sehen Sie Ihre Rolle als Apothekenleiterin und Führungsperson? Wie Ihr Verhältnis zu den Mitarbeitern?
Wahl: Ich bemühe mich, die Prima inter pares zu sein. Das heißt koordinieren, situativ führen, delegieren und die Mitarbeiter fördern, dass sie in der Beratung gut werden. Ich habe Freude daran, Wissen weiter zu geben und den Erfolg der anderen zu sehen. Und ich trenne logistische von pharmazeutischen Tätigkeiten, so dass jeder das tun kann, wofür er tatsächlich ausgebildet ist.
PZ: Wo sehen sie Grenzen des Wettbewerbs und der Profilierung?
Wahl: In unseren Seminaren sage ich gerne: Die Mafia ist ein sehr erfolgreiches Unternehmen, aber nur, weil sie alle Gesetze bricht. Wir sollten im Rahmen unserer gesetzlichen Vorgaben erfolgreich sein. Und genau das macht mir Kummer. Es ist offensichtlich "in", Grenzen zu überschreiten. Natürlich ist es keine Kunst sich zu profilieren, wenn man sich an nichts hält und alle Ethik und Moral über den Haufen wirft. Ich bezweifle aber, dass der Berufsstand überleben kann, wenn er sich an keine Verschreibungspflicht mehr hält oder die Arzneimittelpreisverordnung unterwandert. Diese Vorschriften machen aber Sinn, weil sie aktiver Verbraucherschutz sind.
PZ: Gibt es zu viele Apotheken?
Wahl: Das kann man pauschal nicht sagen. Politiker und Krankenkassen haben natürlich kein Verständnis dafür, wenn Apotheken aus Ballungsgebieten nach dem Gesetzgeber rufen, weil sie rote Zahlen schreiben. Es ist richtig, wenn die Politik dann auf die Niederlassungsfreiheit und das unternehmerische Risiko verweist.
Wenn aber die Apotheker ihre Beratungsfunktion ernst nehmen würden, dann sehe ich keine Gefahr. Dann hat jede Apotheke ihre Daseinsberechtigung und auch ihr Auskommen.
PZ: Was halten Sie von den Meinungsbildungs- und Entscheidungsstrukturen in der ABDA? Ist unsere Diskussionskultur weit genug entwickelt, um die aktuellen, um nicht zu sagen akuten Probleme lösen zu können?
Wahl: Mir fehlt der lebhafte Gedankenaustausch. Es wird viel zu schnell in Schranken verwiesen, was die Kreativität erheblich hemmt. Ich will das differenzieren: Nach außen wünsche ich mir den geschlossenen Auftritt, aber hinter verschlossenen Türen wird zu politisch diskutiert. Um der Sache willen sollten manchmal auch die Fetzen fliegen dürfen. Oft scheint mir, ist allein schon ein Gedanke Verrat.
Ich stelle fest, dass die Kollegen an der Basis gedanklich und konzeptionell oft schon sehr viel weiter sind als ihre Berufsvertretung. Sie sehen auch, dass andere Branchen unsere Probleme bereits gelöst haben. Unsere Verpflichtung ist mehr als "750 Jahre Apotheke". Wenn wir uns nicht öffnen und anpassen, werden wir bald so wichtig sein wie ein Heizer auf der E-Lok.
PZ: Sieht die Basis die ABDA in einem Elfenbeinturm sitzend?
Wahl: Ja, eindeutig. Die Basis beklagt, dass die Politik nicht nah genug an der Wirklichkeit des Lebens ist, dass Bastionen gehalten werden, die längst verloren sind, dass die Zeichen der Zeit nicht früh genug erkannt werden. Die Kritik an der ABDA lautet: stur, unflexibel und teilweise überaltert. Das macht es uns in den Kammerversammlungen schwer. Natürlich ist es nicht einfach, mit 17 Kammern einen Konsens zu finden. Aber wenn man zu viele Kompromisse macht, ist das Ergebnis letztlich für alle unbefriedigend.
PZ: Welches Angebot kann der Apotheker der Gesellschaft machen?
Wahl: Ein sehr großes: Der Apotheker kann vom Säugling bis zum Rentner alle Menschen von der Prävention über die Therapie bis zur Rehabilitation versorgen, begleiten und beraten. Das ist unsere unendliche Chance. Eine größere Zielgruppe gibt es nicht! Wir können alle als Kunden haben, ein Autoverkäufer tut sich mit Kleinkindern schwer. Der Politik können wir als Dienstleister in Sachen Gesundheit ein attraktives Angebot machen. Die Gesellschaft nutzt unseren Service nur noch zu wenig.
PZ: Möchten Sie einen Appell an Ihre Kollegen richten?
Wahl: Ja. Es reicht nicht, sich bestenfalls an Kammerwahlen zu beteiligen und sich im übrigen zurück zu lehnen. Es stimmt nicht, dass man nur berufspolitisch tätig sein kann, wenn man eine große Apotheke hat, den Rücken frei hat und 60 Jahre alt ist. Jeder kann im kleinen Bereich aktiv sein. Und schließlich macht jeder Apotheker jeden Tag Öffentlichkeitsarbeit. Wenn es da keine Ausreißer mehr gäbe, die von den Fernsehsendern bei Testkäufen aufgespießt werden, hätten wir viel gewonnen.
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