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Wo die künstliche Lunge das Kaninchen ersetzt

23.10.2000  00:00 Uhr

Wo die künstliche Lunge das Kaninchen ersetzt

von Gertrude Mevissen, Saarbrücken

Die Arzneistoffentwicklung hat weltweit an Tempo zugelegt. Hochdurchsatz-Screening und Kombinatorische Chemie spülen in kurzer Zeit mehr als 100 000 neue Hoffnungsträger in die Substanzpools. Eine Stoffschwemme, die biopharmazeutisches In-vitro-Screening als Alternative zu Tier und Mensch erfordert, damit unzureichende Testkandidaten noch vor den ersten Tierversuch ausgeschlossen werden können.

Dass ´langer Atem´ zum Geschäft gehört, wissen Professor Dr. Claus-Michael Lehr und seine Kollegen vom Biopharmazeutischen Institut der Universität Saarbrücken inzwischen gut. Seit Jahren tüfteln sie an neuen Zell- und Gewebemodellen, um Tierversuche auch in biopharmazeutischen Fragen künftig noch stärker ersetzen zu können. Im vergangenen Jahr publizierten sie erstmals ihre Ergebnisse über die erfolgreiche Kultivierung menschlicher Alveolarzellen. Die künstliche Lungenschleimhaut könnte künftig als In-vitro-Modell bei der Entwicklung inhalativer Arzneimittel mit systemischer Wirkung eine wichtige Rolle spielen. "Bislang ist man dabei auf Organpräparate oder Tierversuche angewiesen, die jedoch relativ komplex und aufwändig sind", sagt Lehr. Sie eigneten sich daher nicht zum Screening größerer Probenzahlen und geben außerdem wenig Aufschluss über die Transportmechanismen.

Die künstliche Lunge

Als Ausgangsmaterial benötigte die Arbeitsgruppe zunächst menschliches Lungengewebe. Primärkulturen aus gutartigen Lungenzellen leben nur wenige Tage. Regelmäßiger Nachschub war daher wichtig. Den lieferte die Homburger Uniklinik. Mehrmals pro Woche ließ sie den Saarbrückern - mit Einverständnis der Patienten - Biopsiematerial zukommen, das bei chirurgischen Eingriffen an Patienten mit Lungentumoren und anderen pulmonalen Erkrankungen entnommen wurde. Das sich anschließende Prozedere wurde inzwischen zur Standardmethode etabliert: Zellverbände werden enzymatisch zersetzt, isolierte Zellen auf Filtern ausgesät und über fünf Tage bei 37°C, 5 Prozent CO2 und 100 Prozent Luftfeuchtigkeit inkubiert.

Doch wie seine Kollegen erinnert sich Lehr auch noch gut an die "Try-and-Error-Zeit". "Die langgestreckten Typ-I-Alveolarzellen, die extrem dünn sind und etwa 90 Prozent des Lungenepithels bedecken, lassen sich nicht schadlos isolieren." Die Arbeitsgruppe setzte daher auf die kuboidalen Typ-II-Zellen, die sich unter bestimmten Bedingungen, zum Beispiel nach Lungenverletzungen, angeblich noch zu Typ-I-Zellen umwandeln können. "Wir mussten daher ein Verfahren finden, das Typ-II-Pneumozyten den nötigen Kick gibt, sich zu Typ-I-Zellen zu differenzieren und einen dichten Zellrasen aus beiden Typen zu bilden." Nach monatelangem Experimentieren war das Erfolgsrezept gefunden. Der Clou lag in der Vorbehandlung des Filters und besonderen Zusatzstoffen, die Lungenzellen selektiv wachsen und Mitläufer selektiv verhungern ließen. Nach fünf Tagen liefere die Monolayer ein gutes Modell für die menschliche Lungenschleimhaut und könne einige Tage lang für Transportversuche eingesetzt werden, erläutert der Technologe.

Die Industrie verspricht sich von nicht invasiven Applikationsformen ein lukratives Geschäft. Und dass nicht erst, seitdem Insulin und andere Peptid- und Proteinwirkstoffe als viel versprechende Substanzklasse der Zukunft gehandelt werden. Auch für andere Arzneistoffe mit bislang schlechter Bioverfügbarkeit wittern Pharmahersteller eine zweite Chance.

Die biologischen Barrieren im Modell

Doch nicht nur das Lungenmodell, auch andere biopharmazeutische Modelle seien heute gefragter denn je. Mittelständische Pharmaunternehmen und Kosmetikhersteller griffen inzwischen immer stärker auf In-vitro-Tests zurück. Grund dafür seien zum einen Vorgaben des Arzneimittel- und Tierschutzgesetzes; doch spiele die frühe Abklärung biopharmazeutischer Fragen auch für die eigene Kosten-Nutzen-Analyse eine immer wichtigere Rolle, erklärt Lehr.

Die Darmschleimhaut wird in vitro von humanen Adenokarzinomzellen imitiert, so genannten Caco-2-Zellen, die unter konstanten Bedingungen in Kultur wachsen und funktionell wie metabolisch große Ähnlichkeit zu menschlichen Dünndarmzellen besitzen. Für die Hautbarriere stehen dagegen mehrere In-vitro-Modelle zur Verfügung, die man in zwei Gruppen einteilen kann: zum einen Modelle, die die Barrierefunktion der Haut imitieren und hauptsächlich zur Bestimmung der dermalen Substanzinvasion eingesetzt werden, zum anderen solche, die durch Substanzen hervorgerufene toxische Vorgänge an der Haut aufdecken, wie Fototoxizität und Korrosivität.

"In der ersten Gruppe werden zurzeit große Anstrengungen unternommen, die bestmöglichen Testsysteme herauszufinden", berichtet Lehr. Das spiegele sich auch in der großen Anzahl der in der Literatur beschriebenen Modellen wider. So werden zum einen exzidierte Organe, wie das Kuheuter oder isolierte Tier- oder Humanhaut, aber auch rekonstruierte Hautäquivalente auf der Basis von Zellkulturen eingesetzt. Zur Bestimmung der permeierten Substanzmenge werden solche Versuchshautstücke in klassische "Hardware-Komponenten" eingespannt, wie die Franz-Zelle oder ein in Saarbrücken eigens dazu entwickeltes Penetrationsmodell.

Um substanzbedingte Hautschäden unter Lichteinfluss zu prüfen, werden Rattenhaut oder künstliche Hautäquivalente verwendet. Nach eingehenden Validierungsstudien ist dieser Test inzwischen EU-rechtlich anerkannt und als Alternativmethode zu Tierversuchen gesetzlich vorgeschrieben (Official Journal of the European Communities, 8.Juni 2000). Auch bei der Beurteilung der ZNS-Gängigkeit von Arzneistoffen lassen sich heute viele Fragen an In-vitro-Systemen klären. Hier ist die Primärkultur aus zerebralen Kapillarendothelzellen, die aus Schlachttieren - meist vom Schwein oder Rind stammen - ein gängiges Modell.

Das ´Replace-Reduce-Refine´-Konzept In Wissenschaft, Politik und Industrie sowie auf Seite der Tierschützer besteht heute weitgehend Konsens darüber, Tierversuche so weit wie möglich zu vermeiden und durch alternative Ergänzungsmethoden zu ersetzen. Weltweit als Grundlage für Ersatzmethoden anerkannt ist das "Replace-Reduce-Refine-Konzept", das 1959 von den Engländern Russell und Burch als Alternativkonzept zum Tierversuch definiert wurde. In den Arzneimittelprüfrichtlinien heißt es dazu: "Prüfverfahren, die nach den Prüfrichtlinien gefordert und bei denen Versuchstiere eingesetzt werden, sind durch Verfahren zu ersetzen, die keinen, einen geringeren oder einen schonenderen Einsatz von Versuchstieren erfordern, soweit dies nach dem jeweils gesicherten Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse im Hinblick auf den Versuchszweck vertretbar ist." Für den Eingang in national wie international akzeptierte Prüfvorschriften müssen tierversuchsfreie Methoden zunächst langwierige Validierungsstudien durchlaufen. Zuständig dafür ist in Deutschland die Zentralstelle zur Erfassung und Bewertung von Ersatz- und Ergänzungsmethoden zum Tierversuch" (ZEBET).

Doch trotz aller Einsicht und Umkehr mahlen vielen die Mühlen noch zu langsam, vor allem den Tierversuchsgegnern, die auf ihrer Internetseite die "Stagnation anprangern, die sich bei der Erforschung, Anerkennung und Anwendung der tierversuchsfreien Methoden eingeschlichen" habe. Die Umsetzung seitens der Entscheidungsträger sei von "Trägheit, Interesselosigkeit und mangelnden Ehrgeiz" geprägt, kritisieren sie. Verfahren zur Ablösung der Tierversuche müssten stärker gefördert und Validierungsprozesse routinierter durchgeführt werden.

Ähnliche Forderungen stellt auch Lehr, "wenn seine Gründe auch andere sind", wie er betont. Ihm ginge es nicht nur um Tierschutz. Auch In-vitro-Kulturen kommen nicht ganz ohne Tiere aus: einige Modelle bestehen aus isolierten Organen, andere benötigten im Medium 10 Prozent fötales Rinderserum. Er habe vielmehr die Substanzschwemme vor Augen, die den Wandel zur streng Kosten-Nutzen-kalkulierten Forschungsplanung erfordere, einschließlich systematischem Screenings und dem frühzeitigen Abstoßen unbrauchbarer Testkandidaten. Laut aktuellen Prognosen von Branchenkennern sei im Verlauf der nächsten Jahre wegen der Entschlüsselung des menschlichen Genoms mit etwa 20 000 neuen Zielstrukturen zu rechnen. In den letzten fünf Jahrzehnten habe sich die Pharmaindustrie dagegen nur auf 500 Targets konzentriert.

Systematisches Screening bedeutet für den Technologen eine routiniert durchgeführte Parallelschaltung von pharmakodynamischen und pharmakokinetischen Voruntersuchungen. Was High-Troughput-Screening für das pharmakologische Wirkprofil, seien Barriere-Modelle für die Biopharmazie. "Early ADME" heißt dieses Prinzip, synonym für die frühzeitige Ermittlung von Arzneistoff-Absorption, -Distribution, -Metabolismus und -Elimination, erklärt Lehr. Eine Vorgehensweise, die im angelsächsischen Raum schon lange praktiziert werde. In Deutschland verließe man sich dagegen in biopharmazeutischen Fragen immer noch auf Tierversuche und klinische Prüfungen. So schreibt der Verband Forschender Arzneimittelhersteller (VFA) im Internet, dass "kein forschender Arzneimittelhersteller derzeit auf Tierversuche verzichten könne". Das komplexe Zusammenspiel von mehr als 1000 verschiedenen Typen von Zellen in über 100 Organen mit mehr als 10 000 verschiedenen körpereigenen Wirkstoffen ließe sich nicht nachahmen und könne nur im lebenden Organismus untersucht werden, heißt es auf der Internetseite weiter.

Lehr: "Die Skepsis gegenüber In-vitro-Methoden ist gerade in der Pharmabranche weit verbreitet." Getreu dem Motto "Nur wer heilt, hat Recht" verliesse man sich in der Industrie lieber auf Untersuchungen am Gesamtorganismus, der für gezielte Fragestellungen jedoch viel zu komplex sei und eigentlich immer noch als "black box" angesehen werden müsse. Ihm ginge es nicht um den völligen Verzicht auf Tierversuche und klinische Studien. Sie hätten und behielten ihre Berechtigung, nur müssten sie angesichts neuer Fortschritte in der Alternativforschung kritischer hinterfragt und erst in späteren Entwicklungsphasen eingesetzt werden. Bei der frühen Wirkstoffermittlung und zur Beurteilung neuartiger Formulierungsansätze seien Zellkultursysteme nach Meinung Lehrs dagegen deutlich überlegen.

Die gesetzlichen Bestimmungen hierzu sind relativ schwammig: Die Arzneimittelprüfrichtlinien fordern nur eine "Übersicht über alle bei der Entwicklung des Arzneimittels durchgeführten Untersuchungen und deren Ergebnisse". Methodik und Bewertung der Untersuchungen und Verfahren müssen dem "jeweils gesicherten Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse entsprechen; anerkannte Richtlinien für die Durchführung der Versuche und Verfahren müssen berücksichtigt", und "die angewandten Methoden und Verfahren grundsätzlich validiert sein; sofern sie nicht validiert sind, muss dies begründet sein."

Gruppenspezifische Mindestanforderungen, beispielsweise nach welchen erfolgreich absolvierten Standarduntersuchungen Testkandidaten an Tier und Mensch geprüft werden dürfen, sehen die Bestimmungen nicht vor. In den Arzneimittelprüfrichtlinien steckt der Gesetzgeber lediglich für die Zulassung einen Rahmen der dort geforderten chemischanalytischen, pharmakologisch-toxikologischen und klinischen Prüfungen ab.

Doch Lehr greifen die Bestimmungen nicht weit genug. Was ihm vorschwebt, ist eine engere Zusammenarbeit von Wissenschaft, Industrie und Zulassungsbehörden. Gemeinsam sollten sie arzneigruppenspezifische Standardmethoden ausarbeiten, die am runden Tisch diskutiert und als offizielle Konsensmethoden verabschiedet werden. Die Verfahren müssten seiner Meinung nach gleichberechtigten Eingang in Arzneimittelprüfrichtlinien finden und für Entwicklung und Zulassung von Arzneimitteln verbindlich vorgeschrieben werden. Der dazu erforderliche Forschungs- und Entwicklungsaufwand müsse laut Lehr durch nationale beziehungsweise europäische Förderprogramme unterstützt werden.

Auch anderswo, national sowie international, wird der Ruf nach frühen und standardisierten Prüfverfahren in der Biopharmazie immer lauter. Vorreiter sind auch hier die US-Amerikaner. Das von der FDA entwickelte BCS-System ist ein biopharmazeutisches Klassifizierungssystem, das Arzneistoffe nach ihrer Löslichkeit und Permeabilität in vier Klassen einteilt (siehe dazu PZ 20/99, Seite 26) und danach Rückschlüsse auf die zu erwartende Wirkstoff-Absorption zulässt.

Nach einer kürzlich publizierten Richtlinie erlaubt das BCS-System bei Klasse-1-Substanzen, die sowohl gut löslich als auch problemlos permeabel sind, den Verzicht auf Bioäquivalenzstudien.

In Deutschland ist man noch nicht so weit, auch wenn das Klassifizierungsystem immer mehr Befürworter findet. Im Zentrallaboratorium Deutscher Apotheker (ZL) in Eschborn arbeiten Wissenschaftler ebenfalls nach dem BCS-System, um die Bioäquivalenz und Bioverfügbarkeit von neuen Arzneistoffen und Fertigarzneimitteln zu beurteilen. Doch ob es sich um die Zulassung eines Nachfolgepräparats handelt oder eine geänderte Zusammensetzung - bislang erlaubt der Gesetzgeber in Deutschland noch keinen Verzicht auf biopharmazeutische Qualitätsnachweise: Alle Generika müssen nach wie vor das übliche Procedere biopharmazeutischer Untersuchungen durchlaufen. Daher gehen die Bemühungen auch in Deutschland dahin, es den Amerikanern gleich zutun und eine Anerkennung des BCS-Systems zu erreichen, beziehungsweise einen Verzicht von Klasse-1-Substanzen durchzusetzen. Ein erster Schritt in diese Richtung ist eine Arbeitsgruppe, die unter der Schirmherrschaft der Federation International Pharmaceutique (FIP) die Variabilität des Caco-2-Modells systematisch, in verschiedenen Laboratorien, untersuchen will. An dem Projekt beteiligt sind neben den Saarbrücker Forschern das ZL, Professor Dr. Gert Fricker aus Heidelberg und Vertreter der US-amerikanischen FDA. Top

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