Vom Honeymoon zum Lost Paradise |
10.04.2000 00:00 Uhr |
Nicht was, sondern wann er sich anziehen kann, ist für Heinz G. inzwischen die Frage, mit der jeden Morgen sein Tag beginnt. Seit Jahren leidet der 56-jährige Koch an der Parkinson Krankheit. Sein L-Dopa stand immer rechts neben dem Mehltopf, direkt griffbereit, wenn lähmende Off-Phasen ihn von der Arbeit abhalten wollten. Heinz G. hatte seine Krankheit so jahrelang im Griff bis er seine zittrigen Hände und die steifen Muskeln nicht mehr los wurde und heftige Überbewegungen an Armen und Beinen seinen Alltag bestimmten.
In Deutschland leiden 0,1 Prozent der unter 60-Jährigen und 1 Prozent aller Menschen über 60 an Morbus Parkinson. Motorische Störungen treten meist erst nach fünf bis zehn Jahren auf, wenn der Untergang dopaminerger Neuronen einen Punkt erreicht hat, an dem die Dopaminverarmung der Substantia nigra und des Striatums mehr als 30 bis 40 Prozent beträgt. "Bislang weiß niemand genau, warum Parkinson ausbricht, noch wie er zu heilen ist", erklärte Professor Dr. Heinz Reichmann von der Universität Dresden während dem 5. Bad Nauheimer Prakinson-Symposium. Mehrere Faktoren kommen als mutmaßliche Auslöser in Frage: genetische Veranlagung, oxidativer Stress, Entzündungsfaktoren und Störungen der Membran- und Synapsenfunktion. Auf der anderen Seite könne man aber keine andere neurologische Erkrankung so gut behandeln wie Morbus Parkinson, betonte Reichmann.
Goldstandard mit Schwächen
L-Dopa gilt nach wie vor als die Substanz, die die Parkinson-Symptome am nachhaltigsten verbessern kann (Honeymoon). Die Grenzen des Goldstandards zeigen sich meist erst nach Jahren, wenn die Wirksamkeit von L-Dopa nachlässt und der Alltag der Betroffenen zunehmend von On-Off-Fluktuationen und Dyskinesien bestimmt wird (Lost Paradise). Mehr als 60 Prozent der Parkinsonkranken klagen nach langjähriger L-Dopa-Therapie über starke Dykinesien an Armen und Beinen sowie pendelnden Bewegungen des Oberkörpers. Unter Experten gilt es als sicher, dass motorische Spätkomplikationen nicht alleine Folge der Grunderkrankung, sondern vor allem Folge einer früh begonnenen und hochdosierten L-Dopa-Therapie sind.
Reichmann: "Ein ideales Parkinsonmedikament sollte daher die Symptome kontrollieren, neuroprotektive Eigenschaften besitzen, die Integrität degenerierter Nervenzellen wiederherstellen und die Krankheitsprogression verhindern oder zumindest verzögern können. Ausschlaggebend sei nicht der schnelle, sondern vor allem der langfristige Erfolg. Der Trend ginge heute immer mehr dahin, L-Dopa so gering wie möglich, aber so hoch wie nötig zu dosieren, sagte Reichmann. "Vor allem jüngere Patienten können von einer frühzeitigen und kompletten Umstellung auf Dopaminagonisten profitieren. Nachteilig sei ihr hoher Preis, das langsame Aufdosieren, die bislang ungeklärte Langzeit-Toxizität und die, im Vergleich zu L-Dopa, schwächere Wirkung in späteren Stadien der Erkrankung.
Add-on-Therapeutika sollten in dem Maße die Therapie mit L-Dopa und Dopaminagonisten ergänzen, wie motorische Störungen nur noch unzureichend zu korrigieren sind. Zur Auswahl stehen unter anderem die NMDA-Antagonisten Amantadin und Memantin, die über lange Zeit nur als initiale Monotherapie bei leichten Parkinsonsymptomen, aber inzwischen auch im fortgeschrittenen Stadium der Erkrankung eingesetzt würden. Die Überaktivität des glutaminergen Systems (Exzitotoxizität) wird gedrosselt, der Untergang dopaminerger Neuronen gebremst, so dass Parkinsonkranke von einer höheren Lebenserwartung profitieren, sagte Reichmann.
Als Add-On-Dopaminergikum könnte man den MAO-B-Hemmstoff Selegilin bezeichnen. "Die Substanz hat selber nur einen geringen symptomatischen Wert. Sie hilft jedoch L-Dopa einzusparen und besitzt antioxidative, apoptosehemmende und neurotrophe Eigenschaften", erklärte Reichmann.
Entacapon blockiert selektiv die periphere Catechol-O-Methyltransferase (COMT). Da im Zuge der Neurodegeneration auch vesikuläre Dopaminspeicher zunehmend ihre Funktion verlieren, muss L-Dopa mit nachlassender Speicherkapazität immer häufiger eingenommen werden, um im synaptischen Spalt stimulationsauslösende Schwellkonzentrationen aufzubauen. Der Übergang von der kontinuierlichen zur pulsatilen Stimulation korreliert im späteren Verlauf immer mehr mit dem L-Dopa-Plasmaspiegel und zeigt sich klinisch in motorischen ON-OFF-Fluktuationen und Dyskinesien. Die Bioverfügbarkeit von L-Dopa nimmt unter Entacapon-Therapie um etwa 40 Prozent zu, das zentrale L-Dopa-Angebot für die Dopaminsynthese steigt. "Die Patienten haben unter COMT-Therapie zwei Stunden mehr Beweglichkeit pro Tag", sagte Reichmann.
Ein neuartiges Wirkprofil besitzt das Parkinsonmittel Budipin. Die Substanz wirke "polyvalent", indem sie verschiedene Targetstrukturen in einem Molekül vereinigt: Sie soll sowohl serotonerg, adrenerg und indirekt dopaminerg sein. Sie wirkt antagonistisch auf Muskarin- und Glutamatrezeptoren und hemmt schwach die MAO-B. "Wenngleich Budipin im Gehirn in verschiedene Transmittersysteme eingreift, steht seine Wirkung als non-kompetitiver NMDA-Antagonist doch im Vordergrund", erklärte Reichmann.
Neurochirurgie im Aufwind
Bis man L-Dopa Anfang der 60er Jahre einführte, waren neurochirurgische Eingriffe die einzige Möglichkeit, motorische Störungen der Parkinson Erkrankung zu behandeln. Erst mit Bekanntwerden des L-Dopa-Langzeitsyndroms erfuhren neurochirurgische Verfahren einen neuen Aufschwung. Irreversible läsionelle Verfahren (Thalamotomie oder Pallidotomie) lösten zunehmend neuere Methoden wie die Neuroimplantation in den 80er und die tiefe Hirnstimulation in den 90er Jahren ab.
Im Unterschied zur gezielten Zerstörung von Nervenzellen sei die Hirnstimulation kein One-Way-Eingriff, über dessen Erfolg alleine die ruhige Hand des Chirurgen entscheide, erklärte Professor Dr. Francois Alesch, Leiter der stereotaktischen und funktionellen Neurochirurgie an der Universitätsklinik in Wien. Schon vor 40 Jahren beobachteten Neurochirurgen, dass alleine die Stimulation bestimmter Hirngebiete ausreicht, um den Tremor von Parkinsonkranken zu mildern. "Elektronik und biokompatible Materialien waren damals allerdings noch längst nicht ausgereift", berichtete Alesch. Hirnschrittmacher wären undenkbar gewesen in einer Zeit, in der "Herzschrittmacher noch die Größe eines Fernsehapparates hatten". Dass sich die Neurobionik gegenüber der läsionellen Chirurgie immmer mehr behaupten konnte, sei nicht zuletzt der Verdienst moderner Diagnoseverfahren und neuer Erkenntnisse über Morbus Parkinson gewesen, so der Mediziner.
Die Behandlung läuft in zwei Schritten ab. Während der ersten Operation ist der Patient bei vollem Bewusstsein. Ähnlich der Schmerztherapie versucht das Operationsteam einen Punkt im Hirn zu finden, an dem mit einem möglichst geringen Strom ein maximaler, nebenwirkungsfreier Effekt erzielt werden kann. Auf Grund des elektrischen Reizes stellen die Nervenzellen vorübergehend ihre Funktion ein und motorische Störungen nehmen ab. "Die Mitarbeit des Patienten ist bei dem Eingriff sehr wichtig, da nur so die Wirkung der Stimulation während der Operation überprüft und mögliche Nebenwirkungen erkannt und gegebenenfalls verhindert werden können", betonte Alesch.
Mit einem Ring wird der Kopf fixiert und gezielte Referenzpunkte erleichtern die Navigation. "Um eine Landkarte zu erstellen, spritzen wir dem Patienten Kontrastmittel in die Hirnventrikel und arbeiten uns anhand von Röntgenbildern und CT´s vor". Der Schädel muss kaum geöffnet werden. "In der Regel reicht ein einziges Bohrloch von 14 mm aus". Ist die richtige Stelle gefunden, wird die Elektrode unter örtlicher Betäubung an der genau berechneten Stelle fixiert und nach mehreren Tagen mit einem externen Impulsgenerator überprüft.
Der zweite Schritt der Behandlung ist die Implantation des permanenten Impulsgenerators (IPG), diesmal unter Allgemeinnarkose. Wie ein Herzschrittmacher wird der IPG dem Patienten in einer Brusttasche unter dem Schlüsselbein eingesetzt. Über dünne Drahtverbindungen unter der Haut ist er mit der Stimulationselektrode im Hirn verbunden und reizt sie von da an chronisch. Der Patient kann den Schrittmacher jedoch mit Hilfe eines Magneten oder eines kleinen Handprogrammiergeräts selbst ein- und ausschalten. Lässt im Krankheitsverlauf die Wirsamkeit der Tiefenstimulation nach oder treten stimulationsbedingt Spach- oder Sehstörungen auf, kann der Arzt per Computer die Funktionsparameter neu einstellen und die Störungen beheben.
Je nach Implantationsort (Thalamus, Globus pallidus, Nucleus subthalamicus) ist es möglich, Zittern, Muskelsteifigkeit, Bewegungsarmut sowie Dyskinesien gezielt zu beeinflussen. Im Thalamus zum Beispiel führt eine Elektrodenimplantation bei 85 Prozent der Patienten zu einem deutlichen Nachlassen des Zitterns, während die Muskelsteifigkeit nur leicht und Bewegungsarmut und Dyskinesien überhaupt nicht beeinflusst werden. Die Symptome bessern sich dabei in der Körperhälfte, die der operierten Hirnhälfte gegenüber liegt.
Da der chronisch degenerative Prozess durch die Operation nicht aufgehalten werden kann, sind motorische Störungen per Knopfdruck aus- und anschaltbar. Ziel einer Hirnstimulation ist es daher, die Symptome des Morbus Parkinson zu bessern und in Kombination mit Pharmaka einen bestmöglichen Zustand für den Patienten zu erreichen.
"Angesichts von 20 000 Parkinsonkranken kann eine chirurgische Behandlung jedoch niemals die erste Wahl für alle sein", gab Alesch zu bedenken. Realistisch seien etwa 10 Prozent, wobei Patienten mit Hirnatrophie, Demenz, cerebrovaskulären, sowie anderen neurologischen Erkrankungen ohnehin von einem chirurgischen Eingriff ausgeschlossen werden. Die Behandlung sollte bei therapieresistenten Patienten erwogen werden oder wenn motorische Spätkomplikationen ein Ausmaß erreicht haben, das ihr Leben auf Dauer erheblich einschränkt.
Das Risiko, durch den Eingriff einen bleibenden Schaden davon zu tragen, bezeichnete der Mediziner verglichen mit anderen Hirnoperationen als sehr gering. In seltenen Fällen wurde von Hirnblutungen oder Infektionen berichtet. Bei Eingriffen in beiden Hirnhälften nimmt das Risiko zu.
Hirnzellen aus menschlichen Feten
Nach ersten erfolgreichen Hirntransplantationen bei Ratten und Affen wurde Hirngewebe auch Menschen mit Morbus Parkinson implantiert. Die ins Striatum eingesetzten Fetal-Zellen überlebten nicht nur die Transplantation, sondern nahmen auch die Produktion von Dopamin auf, erklärte Professor Dr. Odin von der Universitätsklinik Marburg.
Bislang wurden weltweit rund 300 Parkinsonpatienten neurotransplantiert. Durch die Zellerneuerung nehmen die Off-Zeiten um etwa 60 Prozent ab, Muskelsteifigkeit und Überbeweglichkeit verbesseren sich, berichtete Odin. Besonders Patienten im Alter von unter 60 Jahren profitierten. Einige könnten auch besser sprechen, gehen, hätten mehr Gleichgewicht und weniger Dyskinesien.
Die Zellen aus dem Mittelhirngewebe stammen von sieben bis acht Wochen alten Embryonen aus Schwangerschaftsabbrüchen. Circa vier bis acht Embryonen werden pro Hirnhälfte benötigt. Das Gewebe wird inkubiert, die Zellen ausgeeinzelt und unter örtlicher Betäubung in das Striatum (Putamen) der Patienten eingebracht. Die Operation dauert zwei bis vier Stunden.
Mit nuklearmedizinischen Verfahren kann der postoperative und langfristige Erfolg der Neuroimplantation anschließend verfolgt werden. Sowohl der PET-Scan (Positronen Emissions Tomographie) nach Gabe von radioaktiv markierten Tracern (Fluordopa) als auch Autopsien von verstorbenen Implantatpatienten dienen Wissenschaftlern zur Beurteilung, ob und in welchem Ausmaß dopaminerge Fetalzellen integriert wurden und aktiv sind. Wissenschaftler konnten im letzten Jahr beweisen, dass implantierte Nervenzellen mindestens zehn Jahre überleben und Dopamin produzieren.
Doch menschliche Embryozellen sind rar und es gibt ethische Bedenken gegen diese Therapie. Die Neurotransplantation werde sich in Zukunft nur dann behaupten können, wenn kein fetales Gewebe mehr gebraucht wird, meint Odin. In verschiedenen klinischen und experimentellen Studien wird derzeit untersucht, ob bestimmte Faktoren das Überleben des Transplantats verbessern können: zytoprotektive Lazaroide, antiapoptotisch wirkende Kaspaseinhibitoren oder trophische Faktoren, wie intrathecal verabreichtes GDNF (Glial Cell Line Derived Neurotrophic Factor).
Da neuronale Stammzellen und Prekursorzellen inzwischen in Zellkultur vermehrt und zu dopaminergen Zellen differenziert werden können, kann man heute aus nur wenigen Vorläuferzellen genug Zellen für eine Transplantation heranzüchten. Für einen Ansatz, der fetales Gewebe möglicherweise ganz ersetzen könnte, hält Odin die Entwicklung genetisch modifizierter Dopamin- und Wachstumsfaktor-produzierender Zellen.
Die Xenotransplantation bei Morbus Parkinson sorgte in den vergangenen Wochen für neue Schlagzeilen. US-Wissenschaftler verpflanzten dopaminerge Fetalzellen vom Schwein erstmals in das Hirn von Parkinsonkranken. bei einigen der zwölf Patienten besserten sich die Symptome nach einem Jahr um 32 Prozent, meldet das Wissenschaftsmagazin Neurology. Der klinische Nutzen von Xenotransplantationen ist bislang jedoch umstritten, da Abstoßungsreaktionen gegen Fremdeiweiß eine lebenslange Immunsuppression mit Ciclosporin erfordern. Mit der Übertragung von speziell vorbehandelten Spenderzellen, die durch bestimmte Faktoren an der Zelloberfläche das Immunsystem herausforderten, gelang es den US-Forschern erstmalig, eine Abstoßungsreaktion zu vermeiden und auf Ciclosporin zu verzichten.
Spezialklinik für Parkinsonkranke
Die Parkinsonklinik Bad Nauheim ist Europas größte Fachklinik für neurologische
Rehabilitation und Spezialklinik für Parkinsonkranke. Ihr medizinisches
Betreuungsprogramm besteht neben einer umfassenden Diagnose und individuellen
Pharmakotherapie aus ergänzenden logopädischen, ergotherapeutischen und
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