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Arzneimittelversorgung quo vadis?

14.07.2003  00:00 Uhr

PHARMAZIE

Lesmüller-Vorlesung

Arzneimittelversorgung quo vadis?

von Brigitte M. Gensthaler, München

Bereits zum 6. Mal lud die Dr. August und Dr. Anni Lesmüller-Stiftung zur festlichen Lesmüller-Vorlesung ein. Mit Professor Dr. Dr. Dr. h. c. Walter Schunack hatte der Stiftungsrat einen Referenten verpflichtet, der die medizinisch-pharmazeutischen Fortschritte der letzten Jahre und deren Bedeutung für kranke Menschen eindrucksvoll der Sparwut der aktuellen Gesundheitspolitik gegenüberzustellen wusste.

Als Hausherrin begrüßte Professor Dr. Angelika Vollmer, Vorstand des Departments für Pharmazie der LMU München, am 10. Juli die zahlreich erschienenen Gäste, allen voran die Vorsitzenden von Stiftungsrat und Stiftungsvorstand, Dr. Hermann Vogel und Johannes M. Metzger, sowie den Referenten Professor Dr. Walter Schunack von der Freien Universität Berlin. Ein herzlicher Gruß galt der „zweiten Hauptperson dieses Abends“, Dr. Anni Lesmüller. Vollmer lobte den Weitblick der Stifterin, deren Stiftung vorrangige Aufgaben des Apothekers unterstützt.

Dem freien Heilberuf verpflichtet

Satzungsgemäß fördert die Stiftung die pharmazeutische Wissenschaft mit Schwerpunkt auf dem Arzneimittel und der Aufgabenstellung des Apothekers in Geschichte und Gegenwart sowie auf der Volksbildung durch Aufklärung der Bevölkerung über Wesen und Bedeutung der Pharmazie. Die Einrichtung dieser großzügigen Einrichtung 1997 würdigte Vogel als eine „zukunftsgerichtete, höchst bedeutsame Tat für die Pharmazie“.

Nachdem kurz zuvor die Erweiterung des pharmazeutischen Fächerkanons um die Klinische Pharmazie beschlossen worden war, habe die Stiftung entschieden, insbesondere die neuen modernen Elemente – Klinische Pharmazie und Pharmazeutische Betreuung – zu fördern. Dies sei beispielsweise in Regensburg mit der Einbindung der Arzneimittelinformationsstelle der Bayerischen Landesapothekerkammer (BLAK) in die Studentenausbildung gelungen, berichtete der Stiftungsratsvorsitzende. Die universitäre Lehre und Forschung sei zunehmend auf Privatinitiativen angewiesen, um erfolgreich arbeiten zu können. Ebenso müsse man den Wert des freien Heilberuflers öffentlich bewusst machen. Beiden Aufgaben fühle sich die Lesmüller-Stiftung verpflichtet und werde alle Maßnahmen unterstützen, die den eigenverantwortlich tätigen Apotheker fördern, sicherte Vogel zu.

Gravierende Lücken

Derzeit betrachten viele Experten und Politiker die Arzneimittelversorgung in Deutschland nur unter dem Aspekt möglicher Einsparungen. Gleichwohl herrscht in vielen Indikationen eine gravierende Unterversorgung mit innovativen Arzneimitteln, belegte Schunack anhand vieler Beispiele. Aus Unkenntnis oder Budgetzwängen würden zahlreiche Patienten entweder gar nicht oder nicht mit modernen Arzneistoffen oder nicht in ausreichender Dosierung behandelt.

Nur 5 Prozent der Migränepatienten erhalten eine Therapie nach aktuellem Standard. Die Versorgung von Schizophrenie-Patienten ist teuer, doch nur 5 Prozent der Gesamtkosten werden für Arzneimittel ausgegeben. Davon entfallen wiederum nur 10 Prozent auf atypische Neuroleptika. Drastisch auch die Situation bei Menschen mit Diabetes: 26 Prozent sind perfekt eingestellt, aber 30 Prozent erhalten gar keine Therapie. Die dramatischen Langzeitfolgen seien oftmals nicht bekannt.

Wie die Auswertung von Verordnungsdaten in Bayern und Sachsen durch die BLAK ergeben hat, erhält nur ein Bruchteil der Osteoporose-Patienten Bisphosphonate in ausreichender Dosierung. Ähnlich miserabel sehe die Situation für Alzheimer-Patienten aus, mahnte Schunack.

Sogar der Gesundheitsökonom Professor Karl Lauterbach, der keineswegs als Freund der Apotheker gilt, habe kürzlich einen Mangel an Qualität, Effizienz und Gerechtigkeit im Gesundheitswesen festgestellt und konstatiert, dass Qualität und Ökonomie keine Gegensätze seien. Betrachtet man die Entwicklung des prozentualen Anteils der Arzneikosten an den Gesamtausgaben für Gesundheit in Deutschland seit 1970, sieht man keinen dramatischen Anstieg, vielmehr eine Absenkung, zeigte Schunack auf.

Schlüssel zum Erfolg

In der Todesursachenstatistik 2000 standen Herz-Kreislauferkrankungen mit 47 Prozent aller Todesfälle an der Spitze, gefolgt von Tumoren mit 25 Prozent und Herzinfarkt mit knapp 9 Prozent. „Das Grundproblem ist die Gesellschaft selbst“, stellte der Referent fest. Solange die Menschen nicht das Rauchen aufgeben sowie erhöhten Blutdruck und Blutfette regulieren, sei das Problem des Gesundheitswesens nicht zu lösen. „Hier liegt der Schlüssel zum Erfolg.“

Doch selbst in der Sekundärprävention bei Patienten mit Angina pectoris oder nach Herzinfarkt liegt vieles im Argen. In einer Studie mit mehr als 2800 Patienten erreichten nur 6 Prozent den Ziel-LDL-Wert von unter 115 mg/dl. Dennoch bekamen 65 Prozent keine Lipidsenker und nur knapp ein Viertel erhielt ein Statin, obwohl deren Nutzen in großen Studien belegt ist, betonte Schunack. Die Fünf-Jahres-Ersparnisse bei optimalem Einsatz von Statinen würden in Deutschland auf 1,1 Million US-Dollar geschätzt.

Chance für mehr Lebensqualität

Wie kann die Arzneimittelversorgung verbessert werden? Schunack stellte einen Anforderungskatalog vor. So müsse die Unterversorgung mit wirksamen Arzneimitteln in die Öffentlichkeit getragen werden, wobei festzuhalten sei, dass die inadäquate Behandlung kein Einzelfall mehr sei. Der Bedarf an Arzneimitteln, deren Nutzen evidenzbasiert nachgewiesen ist, müsse quantifiziert und in die Kosten des Gesundheitswesens eingerechnet werden; ebenso sei ein diagnostisches Screening notwendig.

Bei der pharmako-ökonomischen Bewertung neuer Arzneimittel müssen deren Kosten die Aufwendungen für Hospitalisierung, Langzeitpflege und Produktivitätsausfall gegenübergestellt werden, forderte Schunack. Lebensqualität und -erwartung der Patienten seien als Schlüsselkriterien zu werten. Der Referent hielt Schwerpunktprogramme für nötig, um die größten Versorgungslücken zu schließen. Die Budgets seien an die realen Anforderungen anzupassen, wobei wegen der großen Erfolge in der Arzneimittelforschung – Stichwort Biologicals – künftig noch viel größere finanzielle Ressourcen für Arzneimittel nötig seien.

„Innovative Arzneimittel dürfen nicht als Bedrohung des Gesundheitssystems gesehen werden, sondern als Chance, die Lebensqualität der Betroffenen zu verbessern“, schloss Schunack unter Beifall. Vogel ergänzte einen letzten Punkt: Mehr Eigenleistung und Vorsorge der Menschen seien unabdingbar.

 

Festschrift Im sechsten Jahr ihres Bestehens tritt die Dr. August und Dr. Anni Lesmüller-Stiftung mit der Jubiläumsschrift „Fünf Jahre Lesmüller-Stiftung 1997 bis 2002“an die Öffentlichkeit. Die Dokumentation informiert über die Förderschwerpunkte und enthält die bisherigen Lesmüller-Vorlesungen im Wortlaut. Die 70 Seiten starke Schrift soll zur Standortbestimmung in der Pharmazie beitragen und die Stiftung in weiteren Kreisen der Pharmazie bekannt machen. Sie ist zu beziehen gegen eine Schutzgebühr von 5 Euro in Briefmarken bei der Lesmüller-Stiftung, Bayerisches Apothekerhaus, Maria-Theresia-Straße 28, 81675 München. Top

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