Senioren kompetent beraten |
25.07.2005 00:00 Uhr |
Die altersgerechte Betreuung und Beratung von Senioren stand im Mittelpunkt der Workshops der Auftaktveranstaltung Klinische Pharmazie. Was kann der Apotheker raten, wenn die Kraft zum Öffnen von Blistern oder zur Bedienung von Insulinpens fehlt? Wie bekommt er aus dem Internet schnell fundierte Informationen für geriatrische Patienten?
»Die häufigste Form der anhaltenden Herzrhythmusstörungen ist das Vorhofflimmern«, informierte Julia Thern, Würzburg, im Workshop »Herz aus dem Takt Arrhythmien«. Etwa 5 Prozent der über 70-Jährigen und bis zu 9 Prozent der über 80-Jährigen sind betroffen. Die Symptome können unterschiedlich ausgeprägt sein und hängen unter anderem ab von der Grunderkrankung des Patienten, der Dauer des Flimmerns und der individuellen Wahrnehmung. Die Symptome reichen von Herzklopfen, Herzrasen und Thoraxschmerzen über Dyspnoe bis hin zu Schwindel und Angst. Vorhofflimmern kann dauerhaft (persistierend) sein, oder in Form selbst limitierender Anfälle (paroxysmal) auftreten. Nach der Dauer und Stärke der Symptome richte sich die Auswahl der Therapiestrategie, erklärte Thern. Hierfür stehen zwei Optionen zur Verfügung: die Frequenzkontrolle, um eine tachykardieinduzierte Kardiomyopathie zu verhindern, und die Rhythmuskontrolle, die den Sinusrhythmus wiederherstellen und erhalten soll. Ein wichtiger Bestandteil der Therapie des Vorhofflimmerns ist die Prophylaxe von Folgeerkrankungen, vor allem des Schlaganfalls, und die Behandlung der Grunderkrankung.
Nachdem die Referentin die verschiedenen aktuellen Therapiestrategien vorgestellt hatte, erarbeiteten die Workshop-Teilnehmer anhand von Fallbeispielen das Erkennen arzneimittelbezogener Probleme und individuelle Behandlungspläne.
Diabetiker individuell betreuen
Im Workshop »Ein Tropfen, der es in sich hat Diabetes im Alter« gab Dr. Eric Martin von der Hubertus-Apotheke in Marktheidenfeld den Teilnehmern praxisrelevante Tipps für die pharmazeutische Betreuung von Diabetikern.
Als Instrument zur Kundenbindung empfiehlt Martin den Aufbau einer Wartungsroutine für Insulinpens. Einmal pro Halbjahr sollte die Apotheke kostenlos Pens warten und dies für die Kunden dokumentieren. Im Rahmen der Wartung könnten dann wesentliche Aspekte wie eine angemessene Kanülenlänge mit überprüft werden. Durch Gewichtsveränderung könne es möglich sein, dass eine längere oder kürzere Kanüle empfehlenswert ist.
»Luftblasen in der Insulinpatrone können zu Unterdosierungen des Insulins führen«, sagte Martin. Aus einer Patrone ohne Luftblase ist nach fünf Sekunden 100 Prozent des Insulins abgegeben, aus einer Patrone mit Luftblase dagegen nur 40 Prozent. Deshalb ist es zur Vermeidung von Überzuckerungen besonders wichtig, dass vor der Injektion etwaige Luftblasen abgespritzt werden. Auch beim Patronenwechsel kann es zur Entstehung von Blasen kommen, wenn das Insulin direkt aus dem Kühlschrank in den Pen gebracht und die Kanüle aufgesetzt wird. Besser sei es, das Insulin drei bis vier Stunden vorher aus dem Kühlschrank zu nehmen, damit es sich auf Raumtemperatur erwärmt.
Eine wichtige Vorsorgeuntersuchung für Diabetiker ist der Mikroalbumintest, den die Patienten ebenfalls halbjährlich durchführen sollten. Mikroalbuminurie stellt die erste Äußerung einer Nierenfunktionsstörung dar. »In diesem Stadium kann das Ruder aber noch herumgerissen werden«, sagte Martin. Ist das Folgestadium der Proteinurie erreicht, sind alle weiteren Schritte bis hin zum Nierenversagen irreversibel. Eine weitere Folgeerkrankung ist die diabetische Neuropathie. Klagen Patienten über flächige Verhornungen an den Füßen, die durch Fehlbelastung beim Gehen entstehen, kann das auf eine beginnende Neuropathie hindeuten. Diesen Diabetikern sei empfohlen, ihre Schuhe regelmäßig zu inspizieren und Badethermometer zu verwenden.
Beim diabetischen Fuß sind Entlastung und Hochlagerung essenziell. Wichtig zu wissen für die Beratung ist, dass jeder Infekt den Stoffwechsel belastet und der Insulinbedarf um bis zu 50 Prozent steigt. Das kann gerade bei Patienten, die Mischinsuline spritzen, zu Problemen führen, die ärztlicher Kontrolle bedürfen.
Alzheimer Therapie optimieren
Im Workshop »Der vergessene Patient Seniorenleiden Morbus Alzheimer« stellten Dr. Silke Wunderlich, Uniklinik Hamburg-Eppendorf und Oliver Schwalbe, Freie Universität Berlin anhand von Fallbeispielen arzneimittelbezogene Probleme bei Alzheimer-Demenz und nicht kognitiven Alzheimer-assoziierten Symptomen vor.
Die Cholinesterase-Inhibitoren Donenezil, Rivastigmin und Galantamin zeigen durch ihre cholinerge Wirkung Nebenwirkungen wie Übelkeit, Erbrechen, Gewichtsverlust und Schwindel. In der Beratung sollte daher auf eine regelmäßige Gewichtskontrolle hingewiesen werden. Übelkeit und Schlafstörungen dürfen nicht mit Antihistaminika behandelt werden, da diese anticholinerg wirken und somit zum Kognitionsverlust führen. Mit Donepezil steht ein Wirkstoff zur Verfügung, der nur einmal täglich zur Nacht eingenommen wird. Das erhöhe die Compliance und cholinerge Nebenwirkungen werden zum Teil »verschlafen«, sagte Wunderlich. Memantin, Wirkstoff aus der Klasse der NMDA-Rezeptorantagonisten, wird langsam von einmal 5 mg auf maximal zweimal 10 mg täglich aufdosiert. Wunderlich informierte die Teilnehmer, dass zur Behandlung von Unruhezuständen und Schlafstörungen der Wirkstoff Carbamazepin verordnet wird. Carbamazepin ist Induktor von Cytochrom-P450-abhängigen Enzymen. In der Medikation müsse das berücksichtigt werden. Zum Beispiel wird Galantamin unter Carbamazepin-Gabe verstärkt abgebaut.
Zur Behandlung von Wahnvorstellungen, Aggressivität und Halluzinationen werden Neuroleptika wie Melperon, Pipamperon, Haloperidol und Risperidon eingesetzt. Die antipsychotische Wirkung des Haloperidols setzt erst nach ein bis drei Wochen ein. Die psychomotorisch dämpfende Wirkung sofort. Darauf sollte in der Beratung hingewiesen werden. Unter Einsatz von Risperidon ist die Inzidenz von Schlaganfällen erhöht. Deshalb ist bei Patienten mit kardiovaskulären Erkrankungen Vorsicht geboten.
Trizyklische Antidepressiva sind bei Morbus Alzheimer wegen ihres anticholinergen Effekts ungünstig. Besser geeignet sind Serotonin-Wiederaufnahmehemmer wie Citalopram und Sertralin, die zudem nicht mit Cytochrom-P450-Enzymen interagieren.
Wenn die Kraft fehlt
»Für manche Arzneimittel ist ein gewisser Kraftaufwand nötig, so zum Beispiel zum Öffnen von Blistern, für teilbare Tabletten oder Pens«, erklärte Dr. Wolfgang Kircher in seinem Workshop »Sind alle Arzneiformen seniorentauglich?«. Vor allem ältere, feinmotorisch eingeschränkte Patienten hätten zum Teil Schwierigkeiten, diesen Kraftaufwand zu erbringen. Diese Probleme, die zu Dosierungsfehlern führen können, würden von den Betroffenen selbst aber selten angesprochen. »Die Apotheker müssen diese Schwächen erkennen und darauf reagieren«, sagte Kircher. Nicht nur im Alter sei die Griffstärke verringert, sondern auch bei verschiedenen Medikamenten, wie Muskelrelaxantien, Neuroleptika oder Antiparkinsonmitteln. Auch verschiedene Erkrankungen wie rheumatoide Arthritis, Gicht oder Diabetes senken die maximale Griffstärke.
Das kann zu Schwierigkeit bei der Anwendung bestimmter Arzneiformen führen. Denn für kleine Augentropffläschchen und Pulverinhalatoren benötigen Patienten eine Kraft von 20 bis 30 Newton, für Tuben mit hochviskosem Dermatikum 50 bis 60 Newton, und für Lösungsfläschchen mit im Verschluss eingesiegelter Trockensubstanz sogar 70 bis 80 Newton. Bei Applikationsproblemen kann der Apotheker in Absprache mit dem Arzt zu einer ergonomisch besser geeigneteren Arzneiform wechseln und eventuell eine andere Griffart vorschlagen. So ist mit dem Schlüsselgriff eine höhere Kraft zu erreichen als mit dem Zweifingergriff.
Weiterhin kann der Apotheker mechanische Hilfsmittel empfehlen, wie »Tubenboys«, Spezialscheren für motorisch Behinderte, Hilfen zum Teilen von Tabletten oder Applikationshilfen für Augentropfen. Letztere können häufig vom Hersteller kostenlos abgefordert werden. Sich mit dieser Problematik auseinander zu setzen, helfe nicht nur den Betroffenen, es zeuge auch gegenüber Nichtbetroffenen von der Kompetenz und dem Engagement des Apothekers, sagte Kircher.
Altersgerecht dosieren
»Kein Mensch käme auf die Idee, hoch potente Arzneimittel wie Antikörper oder Erythropoetin in Einheitsdosen anzuwenden«, sagte Professor Dr. Fritz Sörgel vom Institut für biomedizinische und pharmazeutische Forschung Nürnberg-Heroldsberg. Im normalen Versorgungsalltag seien Dosisindividualisierungen bislang allerdings kaum zu finden. Dabei unterschieden sich vor allem in Abhängigkeit vom Patientenalter wichtige physiologische Parameter, die einen direkten Einfluss auf Arzneimittelwirkung und -stoffwechsel haben. Weil Nieren- und Leberfunktion im Alter abnehmen, werden laut Sörgel bestimmte Arzneistoffe und ihre Metabolite langsamer ausgeschieden. Andererseits werden Prodrugs in geringerem Maße bioaktiviert. Erhöhte Plasmaspiegel und längere Wirkzeiten können auch auf veränderte First-Pass-Effekte zurückzuführen sein. Im Plasma an Albumin gebundene Wirkstoffe zeigen ebenfalls höhere Wirkspiegel, da die Konzentration des Proteins und damit das Ausmaß der Bindung im Alter abnehmen. Schließlich verändern sich die Verteilungskompartimente: Der Körperfettanteil steigt zwischen dem 20. und 70. Lebensjahr um 35 Prozent, der Anteil an Körperwasser sinkt um 17 Prozent. Dass in Fachinformationen dennoch zahlreiche Arzneistoffe bezüglich ihrer Pharmakokinetik als »unabhängig von Alter und Geschlecht« beschrieben werden, ist laut Sörgel eine bewusste Irreführung durch die Pharmahersteller.
Auch altersspezifische Verhaltensweisen wirkten sich auf die Arzneimitteltherapie aus: So reduziere die Verordnung mehrerer Medikamente häufig die Compliance multimorbider Patienten. Auch Fehleinnahmen durch mangelnde geistige Leistungsfähigkeit, Sehstörungen oder motorische Probleme sowie veränderte Trink- und Essgewohnheiten beeinflussten die medikamentöse Therapie. Hier stehen laut Sörgel die Apotheken in der Pflicht, durch aufklärende Gespräche und konkrete Anwendungshinweise ein therapiegerechtes Verhalten zu fördern.
Parkinsontherapie genau abwägen
Primäres Ziel einer medikamentösen Therapie des Morbus Parkinson ist die Besserung der klinischen Symptome. Weil die eingesetzten Arzneimittel jedoch ein breites Wirkspektrum haben und die Patienten außer an den motorischen Leitsymptomen oft auch an vegetativen und neuropsychologischen Störungen leiden, ist die Behandlung sehr komplex.
Laut Monika Ebenhöh, München, müssen die Vor- und Nachteile der verschiedenen Antiparkinsonmittel bei jedem Patienten individuell abgewogen werden. So führt Levodopa bei Therapiebeginn zwar stets zu Behandlungserfolgen. Insbesondere bei jüngeren Patienten ohne neuropsychiatrische Störungen sollten jedoch zunächst Dopamin-Agonisten eingesetzt werden, um motorische Komplikationen zu vermeiden. In Kombination mit COMT-Hemmern ließen sich die Levodopa-Dosis reduzieren und gleichmäßigere Wirkspiegel erzielen. NMDA-Antagonisten beeinflussten vor allem den Tremor positiv und reduzierten Dyskinesien. Anticholinergika wirkten ebenfalls gegen Tremor und vermehrte Speichelproduktion. Sie müssten jedoch bei Miktions- und Verdauungsstörungen abgesetzt werden, sagte der zweite Referent des Workshops, Ulrich Koczian.
Auch bei der Komedikation treten zahlreiche Probleme auf: So lassen sich laut dem Augsburger Apotheker neuropsychiatrische Nebenwirkungen nicht mit typischen Neuroleptika behandeln, da diese extrapyramidal-motorische Nebenwirkungen hervorrufen. Da auch mit Parkinson assoziierte vegetative Beschwerden wie Schluckstörungen und verzögerte Magenentleerung die Pharmakokinetik der Arzneistoffe beeinflussen, können Apotheker die medikamentöse Therapie mit Verhaltens- und Ernährungsempfehlungen entscheidend mitbegleiten, so Koczian.
Informationen aus dem Netz
Eine fundierte wissenschaftliche Arzneimittelinformation wird in den Apotheken immer bedeutender, denn die Patienten erwarten eine individuelle und umfassende Beratung. Wie sich Apotheker schnell wissenschaftlich gesicherte Informationen aus dem Internet besorgen können, zeigten Dr. Wilhelm Brodschelm und Dr. Johann Schurz von der Apotheke des Klinikums der Universität Würzburg. In ihrem Workshop »Fragen Sie Ihren Apotheker« stellten sie für die Beratung vor allem von geriatrischen Patienten nützliche pharmazeutische Websites vor. Eine wichtige Quelle hierfür ist das »Merck Manual of Geriatrics«, ein Buch, das sich mit den Krankheiten des Alters und der Pflege und Betreuung von Älteren befasst. Das gesamte Buch ist kostenlos online verfügbar, allerdings in englischer Sprache. Es behandelt unter anderem die Themen Ernährung, geriatrische Probleme. Das Manual ist unter www.merck.com/mrkshared/mmanual/home.jsp zu finden. Um international anerkannte Leitlinien zu bestimmten Indikationen zu finden ist das »National Guideline Clearinghouse« (www.guideline.gov), sehr hilfreich. Speziell für die Behandlung älterer Patienten hält die Universität Heidelberg das Buch »Antibiotika in der Geriatrie« kostenlos online bereit. Es befasst sich unter anderem mit Infektionen im Alter sowie den Besonderheiten der Therapie bei geriatrischen Patienten.
Anhand dieser und weiterer Informationsquellen lösten die Teilnehmer des
Workshops arzneimittelbezogene Anfragen und suchten laiengerechte
Informationen zu verschiedenen Indikationen. Diese lassen sich einfach über
die Website
www.patienten-informationen.de suchen, die einen ganzen Katalog von
Quellen mit geprüfter Qualität zur Verfügung stellt.
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