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Schutz vor radioaktivem Iod bei atomaren Zwischenfällen

11.03.2002  00:00 Uhr

Schutz vor radioaktivem Iod bei atomaren Zwischenfällen

von Hartmut Morck, Berlin 

Auf Empfehlung der Strahlenschutzkommission (SSK) können seit 1. Februar Kaliumiodid-Tabletten (Thyprotect® von Henning mit 130 mg Kaliumiodid) rezeptfrei in der Apotheke erworben werden. Die SSK hatte neben der zentralen Vorhaltung von Jodtabletten an geeigneten Orten empfohlen, es jedem Bürger zu ermöglichen, auf freiwilliger Basis im Ernstfall Iodtabletten anzuwenden. Dies setzt deren rezeptfreien Erwerb der Tabletten in Apotheken voraus. Das Berliner Unternehmen Henning, ein Mitglied der Sanofi-Synthelabo-Gruppe, hat diese Empfehlung nun mit der Ausbietung von Thyprotect umgesetzt.

Die Erfahrungen aus der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl am 26. April 1986 haben gezeigt, dass Kindern im Alter bis 14 Jahren auch in Gebieten, die einige hundert Kilometer vom Reaktor entfernt liegen, deutlich häufiger an Schilddrüsenkarzinomen erkrankten. Tierexperimentelle Studien und theoretische Betrachtungen deuten darauf hin, dass die Schilddrüse mit Kaliumiodid in einer Dosierung von 1,4 mg pro kg Körpergewicht effektiv blockiert werden kann, um die Strahlenexposition der Schilddrüse durch Radioiod zu reduzieren. Voraussetzung ist, dass das Kaliumiodid innerhalb von zwei Stunden nach der Exposition verabreicht wird.

Die SSK hat daraufhin in ihre Empfehlungen vom Februar 1996 zur "Iodblockade der Schilddrüse bei kerntechnischen Unfällen" die Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) von 1989 übernommen. Das hatte weitreichende Konsequenzen auf Eingreifrichtwerte und für die Logistik bei der Verteilung der Arzneimittel. Das SSK empfiehlt die Prophylaxe im Ernstfall für Kinder im Alter bis zwölf Jahre sowie Schwangeren bei einer Belastung von 50 Millisievert. Für Personen im Alter von 13 bis 45 Jahren nennt die SSK eine Belastung von 250 Millisievert. Erwachsene über 45 Jahre sollen keine Jodtabletten einnehmen, da ihr Risiko für schwerwiegende Schilddrüsenerkrankungen nach Tabletteneinnahme höher ist als die Gefahr, die durch Inhalation des radioaktiven Jods besteht (siehe Tabelle).

 

Das von der SSK empfohlene Dosierungsschema sieht für Kaliumiodid

Personengruppe Dosis/Tag in 
mg Iodid 
Dosis/Tag in 
mg Kaliumiodid
Anzahl Tabletten à 
130 mg Kaliumiodid
< 1 Monat 12,5 16,25 1/8 1 bis 36 Monate 25 32,5 1/4 3 bis 12 Jahre 50 65 1/2 13 bis 45 Jahre 100 130 1 > 45 Jahre  0 0 0

 

Die Notwendigkeit solcher Empfehlungen, die auch im Bundesanzeiger vom 21. April 1998 in Form des "Jodmerkblattes 2" festgehalten wurde, begründet die Kommission damit, dass es weltweit mehr als 400 kerntechnische Anlagen gibt, die rund 17 Prozent der gesamten elektrischen Energie produzieren. Davon sind allein 19 in Deutschland, 58 in Frankreich, sieben in Belgien, fünf in der Schweiz und 19 in der Ukraine. Diese Zahlen machen deutlich, dass der Ausstieg aus der Kernenergie in Deutschland das Risiko nicht minimiert, weil viele Reaktoren in benachbarten Ländern weiterhin betrieben werden.

Bei einem Reaktorunfall können Iodisotope, unter anderem 131Iod, frei werden und sich je nach Wetterlage in angrenzenden Gebieten verteilen. Nach der Katastrophe von Tschernobyl konnte man die radioaktiven Partikel aber auch in Regionen nachweisen, die mehrere hundert Kilometer entfernt lagen.

Beim so genannten "fall out" gelangt Radioiod über die Vegetation in die Nahrungskette und reichert sich schließlich im Organismus an. Die effektivste und zugleich praktikabelste Möglichkeit, die Aufnahme von radioaktivem Iod in die Schilddrüse zu verhindern, ist die perorale Gabe von Kaliumiodid.

Iodid wird sehr schnell und praktisch vollständig innerhalb von 10 bis 60 Minuten nach Applikation im oberen Gastrointestinaltrakt resorbiert und wird dann in der Schilddrüse gespeichert. Die Verbindung kann damit die Aufnahme des radioaktiven Iods fast vollständig verhindern, falls sie innerhalb von zwei Stunden nach Exposition in ausreichenden Mengen gegeben wurde.

Iodtabletten sind nur nach Aufforderung durch die zuständige Behörde einzunehmen. Schwangere und Stillende erhalten die gleiche Dosis wie die Gruppe der 13 bis 45-Jährigen. Im Regelfall ist eine einmalige Einnahme der Iodtabletten ausreichend. Im Ausnahmefall kann die zuständige Behörde eine weitere Tabletteneinnahme empfehlen. Bei Neugeborenen unter einem Monat ist die Aufnahme jedoch auf einen Tag zu beschränken.

In der Empfehlung werden auch Hinweise zur Bevorratung der Iodtabletten gegeben. Danach müssen die Tabletten so gelagert werden, dass eine schnelle Verfügbarkeit gewährleistet ist, wobei eine Verteilung der Tabletten an die betroffenen Personen möglichst vor einer Inhalation abgeschlossen werden sollte. Als Lagerorte in den Gemeinden werden Rathäuser, Schulen , Krankenhäuser und Betriebe genannt. Zusätzlich empfiehlt die SSK, um jedem Bürger auf freiwilliger Basis die Anwendung von Iodtabletten zu ermöglichen, den rezeptfreien Erwerb in Apotheken sicherzustellen. Eine Tablette des Präparates Thyprotect® enthält 130 mg Kaliumiodid. Top

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