Pharmazeutische Zeitung online

Pegfilgrastim bei Neutropenie

14.02.2005  00:00 Uhr
Arzneistoffprofile

Pegfilgrastim bei Neutropenie

von Thilo Bertsche und Martin Schulz*, Berlin

*) unter Mitarbeit von Hartmut Morck, Rolf Thesen und Petra Zagermann-Muncke

Durch die Kopplung mit Polyethylenglykol wird eine Wirkungsverlängerung von Arzneistoffen erreicht. Neben den pegylierten Interferonen Peginterferon a-2a (Pegasys®) und Peginterferon a-2b (Pegintron®) steht mit Pegfilgrastim (Neulasta®) nun auch ein pegylierter hämatopoetischer Wachstumsfaktor zur Verfügung.

Eine Neutropenie ist charakterisiert durch eine verminderte Zahl neutrophiler Granulozyten im peripheren Blut. Bei Erwachsenen liegt der Grenzwert bei 1500/µl Blut. Sie kann hervorgerufen werden durch eine kongenitale oder erworbene Störung der Granulopoese oder durch eine vermehrte Destruktion beziehungsweise Umverteilung neutrophiler Graunulozyten. Letztere bezeichnet man auch als Pseudoneutropenie. Bei einer Neutropenie besteht ein erhöhtes Infektionsrisiko, das lebensbedrohlich sein kann.

Neutropenien sind eine häufige Nebenwirkung antineoplastischer Behandlungen, zum Beispiel einer Strahlenbehandlung oder einer Chemotherapie. Sie wurde auch als medikamentenallergische Reaktion, zum Beispiel auf Phenylbutazon, beschrieben. Eher selten ist ein langsamer Abfall der Neutrophilen innerhalb der ersten zwölf Monate nach Therapiebeginn infolge einer Schädigung hämatopoetischer Vorläuferzellen. Auslöser kann hier zum Beispiel Clozapin (Leponex® und andere) sein (1-3).

Häufig müde und appetitlos

Anfangs verläuft eine Neutropenie in der Regel asymptomatisch, später sind Allgemeinsymptome wie Müdigkeit, Leistungsminderung und Appetitlosigkeit zu beobachten. Häufig fehlen typische Infektionszeichen oder treten nur in abgeschwächter Form auf. Fieber dagegen ist fast immer zu beobachten. Neben supportiven Maßnahmen wie Hygiene, Prophylaxe von Schleimhautentzündungen, selektive Darmdekontamination, orale Antimykose oder empirische antibiotische Therapie sowie bei schweren Infekten Granulozytentransfusionen, ist zur Therapie bei chronischer Neutropenie die Gabe von hämatopoetischen Wachstumsfaktoren wie G-CSF (zum Beispiel Neupogen®) indiziert (1-3).

Gentechnologische Herstellung

Der Wirkstoff Filgrastim ist ein rekombinanter, humaner Granulozytenkolonie-stimulierender Faktor (G-CSF), der in Escherichia-coli-Kulturen hergestellt wird. Bei Pegfilgrastim wurde zusätzlich ein einzelnes 20 kD schweres Monomethoxypolyethylenglykol-Molekül an die N-terminale Methionylgruppe des Wachstumsfaktors gebunden. Pegfilgrastim wird mittels R-DNA-Technologie aus E. coli (K12) hergestellt (4).

Pegfilgrastim wurde zur Verkürzung der Dauer von Neutropenien, sowie zur Verminderung der Häufigkeit neutropenischen Fiebers, strahlen- oder chemotherapeutisch vorbehandelter Patienten zugelassen (mit Ausnahme von chronisch-myeloischer Leukämie und myelodysplastischem Syndrom). Seine Unbedenklichkeit und Wirksamkeit zur Mobilisierung von hämatopoetischen Progenitorzellen bei Patienten oder gesunden Spendern wurde hingegen noch nicht ausreichend untersucht. Pro Chemotherapiezyklus wird eine 6 mg Dosis (entspricht einer Fertigspritze Neulasta) empfohlen, die als subkutane Injektion nach einer zytotoxischen Chemotherapie angewendet wird. Da myeloische Zellen selbst empfindlich gegenüber einer Chemotherapie sind, soll Pegfilgrastim erst 24 Stunden nach der Behandlung gegeben werden. Auf Grund unzureichender Daten wird das Präparat bei Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren nicht empfohlen (5).

G-CSF mit verlängerter Wirkdauer

Der humane Granulozytenkolonie-stimulierende Faktor (G-CSF) ist ein Glykoprotein, das die Entstehung neutrophiler Granulozyten und ihre Freisetzung aus dem Knochenmark reguliert. Pegfilgrastim ist ein kovalentes Konjugat des rekombinanten humanen G-CSF mit einem PEG-Molekül von 20 kD. Das macht Pegfilgrastim zu einem Derivat von Filgrastim mit verlängerter Verweildauer, die auf einer verminderten renalen Clearance beruht. Für Pegfilgrastim und Filgrastim konnten identische Wirkmechanismen gezeigt werden. Beide führen innerhalb von 24 Stunden zu einem deutlichen Anstieg der neutrophilen Granulozyten im peripheren Blut, während sich die Zahl der Monozyten und Lymphozyten kaum ändert. Ähnlich wie bei Filgrastim verfügen die als Folge der Therapie mit Pegfilgrastim gebildeten neutrophilen Granulozyten über eine normale oder sogar erhöhte Funktionsfähigkeit, wie in Versuchen zur chemotaktischen und phagozytischen Funktion gezeigt werden konnte. Wie andere hämatopoetische Wachstumsfaktoren hat G-CSF in vitro stimulierende Eigenschaften auf menschliche Endothelzellen gezeigt. Er kann das Wachstum myeloider Zellen, einschließlich maligner Zellen, in vitro fördern. Ähnliche Effekte können bei einigen nicht myeloischen Zellen in vitro beobachtet werden (5).

Sehr häufig Schmerzen

In klinischen Studien bei Patienten mit malignen Erkrankungen, die Pegfilgrastim nach einer zytotoxischen Chemotherapie erhielten, waren die meisten unerwünschten Wirkungen auf die maligne Grunderkrankung beziehungsweise die zytotoxische Chemotherapie zurückzuführen. Als häufigste Nebenwirkungen wurden Knochenschmerzen (26 Prozent) und andere Schmerzen genannt. Selten kam es zu allergischen Reaktionen. Über Übelkeit klagten 11 Prozent der gesunden Probanden, aber weniger als 1 Prozent der mit Chemotherapie behandelten Patienten. In Einzelfällen wurde von Milzrupturen oder Leukozytosen berichtet. Die Behandlung mit Pegfilgrastim alleine schließt das Auftreten von Thrombozytopenie und Anämie nicht aus.

Pegfilgrastim darf nicht angewendet werden, um die Dosierung der zytotoxischen Chemotherapie über das empfohlene Dosierungsschema hinaus zu erhöhen. Kontraindikationen sind eine bekannte Überempfindlichkeit gegen den Wirkstoff, gegen Filgrastim, gegen aus E. coli hergestellten Proteinen oder einen der sonstigen Bestandteile des Fertigarzneimittels. Da die Unbedenklichkeit und Wirksamkeit von Pegfilgrastim bei Patienten mit akuter Leukämie nicht untersucht wurde, sollte es bei diesen nicht angewendet werden. Ebenfalls nicht ausreichend untersucht wurde die Unbedenklichkeit und Wirksamkeit von Pegfilgrastim wurde bei Patienten, die eine Hochdosischemotherapie erhalten.

Als Folge einer durch die Pegfilgrastim-Therapie selten auftretenden Leukozytose, ist die Wahrscheinlichkeit, ein ARDS (Adult Respiratory Distress Syndrome) zu entwickeln, erhöht. Daher sind bei der Therapie mit pegyliertem G-CSF auf erste Anzeichen dieser schwerwiegenden Erkrankung, wie zum Beispiel Atemnot, besonders zu achten. Aus dem gleichen Grund muss vor Therapie das Vorliegen einer Sichelzellanämie abgeklärt werden, da eine erhöhte Leukozytenzahl die Prognose dieser Erkrankung deutlich verschlechtert (5).

Neutrophilen-vermittelte Clearance

Nach einer subkutanen Einzeldosis von 6 mg Pegfilgrastim werden bei den meisten Patienten Spitzenspiegel nach 24 Stunden erreicht. Der Wachstumsfaktor scheint hauptsächlich über eine Neutrophilen-vermittelte Clearance eliminiert zu werden, die bei höheren Dosierungen eine Sättigung erreicht. Das erklärt, weshalb die Serumkonzentrationen von Pegfilgrastim während einer Neutropenie erhöht blieben, jedoch mit zunehmender Neutrophilenzahl abfallen. Die Serum-Clearance von Pegfilgrastim nimmt mit steigender Dosis ab. Auf Grund des durch neutrophile Granulozyten vermittelten Clearance-Mechanismus ist nicht zu erwarten, dass die Pharmakokinetik von Pegfilgrastim durch Funktionsstörungen der Niere oder der Leber beeinflusst wird (3, 5, 6).

Wirksamkeit vergleichbar

Die subkutane Injektion von Pegfilgrastim (100 µg/kg Körpergewicht) wurde mit der Gabe von Filgrastim (5 µg/kg Körpergewicht, täglich) bei der Neutropenie von Patienten verglichen, die mit vier Zyklen einer myelosuppressiven Chemotherapie behandelt wurden. Insgesamt wurden die Daten von 310 Patienten ausgewertet, die Docetaxel 75 mg/m2 und Doxorubicin 60 mg/m2 am Tag 1, in jedem Zyklus für maximal 4 Zyklen erhielten. Den Patienten wurde an Tag 2 entweder eine einzelne subkutane Injektion von Pegfilgrastim pro Chemotherapiezyklus (154 Patienten) oder täglich subkutanes Filgrastim (156 Patienten) appliziert (7).

Hinsichtlich der Dauer schwerer Neutropenien und dem Minimalwert der absoluten neutrophilen Zahl (Nadir), waren die beiden Therapien über alle Zyklen hinweg vergleichbar. Dagegen traten bei Patienten, die Pegfilgrastim bekamen, fieberhafte Neutropenien seltener auf. Die Differenz in der mittleren Dauer schwerer Neutropenien zwischen Pegfilgrastim und Filgrastim betrug weniger als ein Tag. Häufigkeit und Schwere von Nebenwirkungen waren in beiden Gruppen vergleichbar.

Eine Einzelgabe von Pegfilgrastim pro Chemotherapiezyklus wurde in einer anderen Studie mit der täglichen Anwendung von Filgrastim an insgesamt 157 Patienten verglichen (8). Nach einer Chemotherapie aus Doxorubicin und Docetaxel (60 mg/m2 und 75 mg/m2) kam entweder eine Einzelgabe von 6 mg subkutan Pegfilgrastim oder täglich 5 µg/kg subkutan Filgrastim zur Anwendung. Die Dauer von Grad-4-Neutropenien, der Neutrophilennadir, die Inzidenz einer febrilen Neutropenie, die Zeit bis zur Normalisierung der Neutrophilenzahl und Angaben zu Nebenwirkungen wurden dokumentiert. Pegfilgrastim erwies sich dabei über alle Wirksamkeitsparameter und Therapiezyklen als mit Filgrastim vergleichbar. Ein Trend für eine erniedrigte Inzidenz von febrilen Neutropenien von Pegfilgrastim wurde mit 13 gegenüber 20 Prozent über alle Zyklen beobachtet.

 

Arzneimittelprofil Pegfilgrastim ist der wirksame Bestandteil des Fertigarzneimittels Neulesta® 6 mg Injektionslösung der Firma Amgen Europe B.V., Minervum 7061, 4817 ZK Breda, Niederlande. Ansprechpartner in Deutschland ist die Firma Amgen GmbH, Hanauer Str. 1, 80992 München, Tel.: (0 89) 14 90 96 0, Fax: (0 89) 14 90 96 20 00. 6 mg Pegfilgrastim sind in 0,6 ml (10 mg/ml) Injektionslösung enthalten (5).

Fazit: Pegfilgrastim – das bessere Filgrastim

Die tägliche, subkutane Anwendung von G-CSF in Form von Filgrastim (Neupogen®) ist ein etabliertes Behandlungskonzept zur Therapie zytostatikainduzierter Neutropenien. Da die tägliche Applikation jedoch für viele Patienten und Ärzte ein Hinderungsgrund der Anwendung darstellt, erhalten derzeit weniger als 10 Prozent der chemotherapeutisch behandelten Patienten Filgrastim zur Neutropeniebehandlung (9). Durch die Pegylierung von Filgrastim ist nun bei identischem Wirkmechanismus und mindestens vergleichbarer Wirksamkeit eine einmalige Applikation pro Chemotherapiezyklus möglich. Nebenwirkungen und Verträglichkeit von Pegfilgrastim sind mit der von Filgrastim vergleichbar.

Zur Erzielung eines anhaltenden Therapieerfolges sollte Filgrastim nicht abgesetzt werden, bevor der nach einer Chemotherapie zu erwartende Nadir überwunden ist, und die Anzahl der neutrophilen Granulozyten wieder im normalen Bereich liegt. Es kann deswegen mit einer Behandlungsdauer je nach Tumorerkrankung von bis zu 14 Tagen (maximal bis zu 38 Tagen) gerechnet werden.

Bezogen auf ein Körpergewicht von 75 kg errechnen sich bei Verwendung von Filgrastim (Neupogen®, 30 Mio. E.; 300 µg/1,0 ml; Taxe-VK 153,97 Euro pro Injektionsflasche) Behandlungskosten pro Zyklus bei 14 Anwendungstagen von etwa 2690 Euro. Eine Therapie mit 6 mg Pegfilgrastim (Neulasta®) kostet 1524,11 Euro (Taxe-VK) einmal pro Chemotherapiezyklus (10). Die Therapie mit der pegylierten Variante ist daher in vielen Fällen kostengünstiger (11).

Sollten die Erfahrungen aus der Praxis die Ergebnisse der klinischen Studien bestätigen und sich die Vorteile der einmaligen Applikation pro Zyklus durchsetzen und ist außerdem eine Zulassungserweiterung auf alle auch für Filgrastim relevanten Indikationen zu erreichen, wird Pegfilgrastim Filgrastim in der Therapie ersetzen.

 

Literatur

  1. Berger, D.P., et al., Das Rote Buch – Hämatologie und Internistische Onkologie. 2. Auflage (2002) Ecomed Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Landberg/Lech.
  2. Peruche, B. und Schulz, M., Filgrastim – hämatopoetischer Wachstumsfaktor. Pharm. Ztg. 138, 25 (1993) 1934-1937 .
  3. Curran, M.P. und Goa, K.L., Pegfilgrastim. Drugs 62 (2002) 1207-1215.
  4. Gensthaler, B.M., Wachstumsfaktor Pegfilgrastim. Pharm. Ztg. 148 (2003) 26.
  5. Neulasta® - Fachinformation. Amgen, Stand Januar 2004.
  6. Micromedex® Inc., Drugdex®, Health Care Series, online. Stand 09.03.2004.
  7. Holmes, F.A., et al., Blinded randomised multicenter study to evaluate single administration pegfilgrastim once per cycle vs. daily filgrastim as an adjunct to chemotherapy in patients with high risk stage II or stage III to IV breast cancer. J. Clin. Oncol. 20 (2002) 727-731.
  8. Green, M.D., et al., A randomized double-blind multicenter phase III study of fixed-dose single-administration pegfilgrastim versus daily filgrastim in patients receiving myelosuppressive chemotherapy. Ann. Oncol. 14 (2003) 29-35.
  9. N.N., Early US o.k. for Amgens Neulesta. Scrip 2718 (2002) 19.
  10. ABDATA-Pharma-Daten-Service (Hrsg.), Große Deutsche Spezialitäten-Taxe, Stand 15.03.2004.
  11. Molineux, G., Pegfilgrastim: using pegylation technology to improve neutropenia support in cancer patients. Anticancer Drugs. 14 (2003) 259-264.
  12. NOA – Neuro-onkologische Arbeitsgemeinschaft in der Deutschen Krebsgesellschaft e.V., unter www.neuroonkologie.de, Stand 30.03.04.

 

Anschrift der Verfasser:
Dr. Thilo Bertsche
Universitätsklinikum Heidelberg, Medizinische Klinik (Krehl-Klinik)
Abteilung Innere Medizin VI, Klinische Pharmakologie und Pharmakoepidemiologie
Im Neuenheimer Feld 410
69120 Heidelberg

Dr. Martin Schulz
Zentrum für Arzneimittelinformation und Pharmazeutische Praxis (ZAPP) der ABDA
Jägerstraße 49/50
10117 Berlin

Top

© 2005 GOVI-Verlag
E-Mail: redaktion@govi.de

Mehr von Avoxa