Erneute Zulassung erwogen |
10.02.2003 00:00 Uhr |
von Christina Hohmann, Eschborn
Die europäische Arzneimittelbehörde EMEA prüft eine erneute Zulassung des Wirkstoffs Thalidomid. Rund 40 Jahre nach seinem Verbot könnte das Schlafmittel wieder in Europa auf den Markt kommen, allerdings für eine ganz andere Indikation: den seltenen Knochenkrebs Multiples Myelom.
Ihre antiangiogenetische Wirkung könnte der Substanz zu einem Comeback verhelfen. In verschiedenen klinischen Studien erwies Thalidomid sich als besonders wirksam in der Behandlung von Patienten mit Multiplem Myelom. An dieser seltenen Krebsform, bei der langlebige Plasmazellen (Antikörper produzierende Zellen des Rückenmarks) entarten, erkranken in Deutschland jährlich etwa 4000 Menschen.
Das Multiple Myelom ist trotz einiger Fortschritte in der Behandlung nicht heilbar; die durchschnittliche Lebenserwartung liegt bei drei bis vier Jahren nach Diagnosestellung. Zurzeit prüft die EMEA (European Agency for the Evaluation of Medicinal Products), ob Thalidomid für die Therapie des Multiplem Myeloms zugelassen werden sollte, berichtet der britische Nachrichtensender BBC.
Damit könnte ein Wirkstoff auf den europäischen Markt zurückkehren, der für die bislang größte Arzneimittelkatastrophe der Geschichte verantwortlich ist. Im Oktober 1957 kam Thalidomid als Schlaf- und Beruhigungsmittel im damaligen Westdeutschland unter dem Namen Contergan® in den Handel. Bald darauf wurde es in insgesamt 46 Ländern zugelassen: in ganz Europa, Australien, Kanada, Südamerika und Japan. Da es neben einer sedativen auch eine antiemetische Wirkung besitzt, nahmen es auch schwangere Frauen ein, um ihre Morgenübelkeit zu bekämpfen. Thalidomid galt als besonders sicher, da es sich in Tierversuchen als nicht toxisch erwiesen hatte; es war sogar so wenig toxisch, dass keine letale Dosis ermittelt werden konnte.
In den frühen 60er-Jahren kam eine Reihe von Kindern mit missgebildeten Gliedmaßen zur Welt. Verschiedene Mediziner brachten die Deformationen mit der Einnahme von Thalidomid in der Schwangerschaft in Verbindung, worauf der Wirkstoff Ende 1961 aus dem Handel genommen wurde. Bis heute ist unklar, über welchen Mechanismus die Substanz die Anomalien auslöst. Insgesamt wurden in den Jahren 1959 bis 1962 weltweit etwa 10.000 Kinder mit Missbildungen geboren, allein 4000 in Deutschland.
Wirksam gegen ENL
Trotz der verheerenden Nebenwirkungen fand Thalidomid bereits wenige Jahre später wieder einen festen Platz in der Therapie. 1964 behandelte ein israelischer Mediziner einen Lepra-Patienten, der unter Erythema nodosum leprosum (ENL) litt. Diese Immunreaktion des Körpers auf Abbauprodukte des Lepra-Erregers (Mycobacterium leprae) tritt häufig nach Beginn der Antibiotikatherapie ein und ist durch schmerzhafte Knötchen der Haut und Nervenschädigung gekennzeichnet. Aus Mangel an Alternativen verschrieb der Mediziner seinem Patienten, der vor Schmerzen nicht einschlafen konnte, Thalidomid. Innerhalb weniger Tage verschwanden sowohl die Knötchen als auch das hohe Fieber. Tausende von ENL-Patienten wurden seither erfolgreich mit dem Arzneistoff behandelt.
In den USA ist die Substanz seit Juli 1998 unter der Bezeichnung Thalomid® für diese Indikation zugelassen. Auf Grund der bekannten Teratogenität, die schon nach einer einzelnen Dosis Auswirkungen zeigen kann, unterliegt der Vertrieb strengsten Kontrollvorschriften. Die Herstellerfirma Celgene entwickelte zusammen mit der US-amerikanischen Zulassungsbehörde FDA (Food and Drug Administration) ein spezielles Sicherheitsprogramm, das sowohl den Patienten als auch den verschreibenden Arzt und abgebenden Apotheker einschließt.
Nur Patienten, die an dem so genannten STEPS-Programm (System for Thalidomide Education and Prescribing Safety) teilnehmen, dürfen das Medikament erhalten. Vor Beginn der Therapie werden sie umfassend aufgeklärt und müssen schriftlich ihr Einverständnis erklären. Ebenfalls obligatorisch ist der Schwangerschaftstests für Patientinnen sowie eine konsequente Verhütung während der gesamten Behandlungsdauer. Auch Männer sind verpflichtet zu verhüten, da noch nicht geklärt ist, ob Thalidomid im Sperma auftaucht und ob diese geringen Mengen die Entwicklung eines Feten schädigen könnten.
Thalidomid als Entzündungshemmer
Die Wirkung von Thalidomid bei ENL-Patienten beruht nicht auf der Abtötung der Mycobakterien. Vielmehr drosselt der Wirkstoff die überschießende Immunreaktion des Körpers auf das Pathogen, indem er die Produktion des proinflammatorischen Zytokins Tumor Nekrose Faktor alpha (TNF-a) inhibiert. Thalidomid beschleunigt den Abbau der Messenger-RNA und schraubt dadurch die erhöhte Produktion von TNF-a auf ein normales Maß herunter.
Diese immunmodulierende Wirkung legt nahe, dass Thalidomid auch bei anderen Erkrankungen, die auf einer übermäßigen Immunreaktion beruhen, eingesetzt werden könnte. Hierzu zählen die „Graft-versus-host“-Erkrankung nach Knochenmarkstransplantation, die rheumatoide Arthritis, Lupus erythematodes, Morbus Crohn und das Behçet-Syndrom. Erste klinische Studien bei diesen und ähnlichen Erkrankungen lieferten bereits viel versprechende Ergebnisse.
Wunderdroge bei Aids?
Wie einige neuere Untersuchungen zeigen, ist Thalidomid auch bei Aids-Patienten äußerst effektiv. Es mildert einige der in späten Phasen der Erkrankung auftretenden Sekundärsymptome wie Aphthen im Mund- und Rachenbereich. Diese schmerzhaften Schleimhautwucherungen beeinträchtigen das Kauen und Schlucken so stark, dass es sogar zu einer Unterernährung kommen kann. In mehreren klinischen Studien gingen die Aphthen unter Thalidomid zurück und verschwanden zum Teil vollständig.
Ein weiteres Symptom, das verbessert werden kann, ist das so genannte Wasting-Syndrom – ein starker Abbau der Körpermasse, der oft tödlich endet. Bei dieser Auszehrung (Cachexie) spielt TNF-a eine entscheidende Rolle, weshalb dieser Faktor auch als Cachexin bezeichnet wird. Durch Hemmung von TNF-a kann Thalidomid den Verlust der Körpermasse aufhalten oder sogar rückgängig machen.
Auf Grund der zum Teil spektakulären Erfolge, die bei Aids-Patienten erzielt werden konnten, haftet Thalidomid der Ruf einer Wunderdroge an, die nicht nur Symptome mildern, sondern eine HIV-Infektion vollständig heilen könne. Gerüchte dieser Art kursieren bereits in Ländern der so genannten Dritten Welt. Wenn sie sich weiter verbreiten, könnte es erneut zu einer Contergan-Katastrophe kommen, befürchten einige Hilfsorganisation. Bereits jetzt ist der Wirkstoff auf dem Schwarzmarkt erhältlich. Die Folgen zeichnen sich ab: In Afrika und Südamerika traten bereits die ersten neuen „Contergan-Fälle“ auf.
Literatur
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