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Diabetiker umfassend betreuen

24.05.1999  00:00 Uhr

-PharmazieGovi-VerlagFORTBILDUNG IN WESTFALEN-LIPPE

Diabetiker umfassend betreuen

von Halmut Renz, Münster

Entscheidendes Kriterium für jede Diabetes-Therapie sei, ob sie die enorm erhöhte Morbidität und Mortalität durch Arteriosklerose senken kann, so das Credo von Professor Dr. Michael Berger, Direktor der Klinik für Stoffwechselerkrankungen an der Universität Düsseldorf während des ersten wissenschaftlichen Vortrags- und Fortbildungstagung zum Thema Diabetes im April in Münster. In der Fülle der Veröffentlichungen zum Thema Diabetes fänden sich aber bislang nur drei Studien mit gültigen Aussagen zu dieser Frage. Die zum Teil aufsehenerregenden Ergebnisse dieser Arbeiten seien zum Anlaß anhaltender Kontroversen geworden, wobei merkantile Interessen zu einer Verwaschung der Studienergebnisse und gezielt zur Verhinderung eindeutiger Therapieempfehlungen geführt hätten.

Ein Kompliment gebühre daher der Apothekerkammer Westfalen-Lippe, der es gelungen sei, eine Veranstaltung dieser Größenordnung ohne Sponsoring durchzuführen.

Schon 1970 wurde in den USA eine kontrollierte Studie veröffentlicht, in der 4000 Patienten über 14 Jahre unterschiedlich behandelt wurden. Die Therapie mit dem Sulfonylharnstoff Tolbutamid mußte vorzeitig abgebrochen werden, weil sich gegenüber den anderen Behandlungsformen eine erheblich erhöhte Mortalität durch kardiovaskuläre Erkrankungen (Makroangiopathie) zeigte. Das wesentliche Ergebnis der Studie war jedoch, daß sich durch eine medikamentös verbesserte Blutzuckereinstellung generell keine signifikante Besserung der Mortalität erreichen läßt.

In der schwedischen DIGAMI-Studie untersuchten Wissenschaftler den Einfluß der Umstellung auf Insulin auf die Mortalität von Typ-2-Diabetikern, die zuvor einen Herzinfarkt erlitten hatten. In der Insulin-Gruppe fand man eine bessere Langzeit-Überlebensrate als in der Sulfonylharnstoff-Gruppe. Solche Präparate müssen also zumindest für KHK- und Herzinfarkt-Patienten als risikosteigernd eingeschätzt werden, sagte Berger.

Größtes Aufsehen auch in der Laienpresse und erhebliche Kontroversen hat die seit November 1998 abschnittsweise erschienene UKPDS (United Kingdom Prospective Diabetes Study) verursacht. Die Deutsche Diabetes-Gesellschaft ignoriere in ihren Empfehlungen die Ergebnisse der UKPDS, indem sie alle Sulfonylharnstoff-Derivate und Acarbose in ihre Therapierichtlinien einbeziehe.

Die Prävention diabetischer Spätkomplikationen will im Sinne der 1989 von der WHO verabschiedeten Sankt-Vincent-Deklaration das Fortschreiten bereits eingetretener Komplikationen bis zum Organverlust verhindern. Dem Patient mit diabetischer Retinopathie solle also die Erblindung erspart bleiben, dem Patienten mit Nephropathie die Dialyse, und dem Patienten mit diabetischem Fuß die Amputation, so Professor Dr. Ernst Chantelau, Düsseldorf. Nur einer Minderheit aller Diabetiker drohen die genannten Tertiärkomplikationen: Von 4,5 Millionen Patienten werden pro Jahr circa 3000 erblinden, 4000 dialysepflichtig und 25000 amputiert. Es gelte also, aus der großen Zahl der Diabetiker diejenigen herauszufischen, die ein hohes Spätfolgenrisiko tragen. Dies leistet ein Screening-Verfahren, wie es von der Diabetes-Ambulanz der Düsseldorfer Universitätsklinik unter der Leitung des Referenten angewandt wird. Es erfaßt die Diabetes-Dauer, HbA1c-Werte, Blutdruck, aktuellen Augenbefund, eine eventuell bestehende Koronare Herzkrankheit, Proteinurie oder schon registrierbare Nierenfunktionseinschränkungen. Zusätzliche Risiko-Indikatoren der diabetischen Podopathie sind Lebensalter, Fußpulse und Vibrationsempfinden der unteren Extremitäten.

Erhalt der Organfunktion

Diabetiker sollten mindestens zweimal jährlich den Augenarzt aufsuchen. Wenn sich diabetische Netzhautveränderungen entwickeln, müsse frühzeitig - also vor Eintreten eines Visusverlustes – die Laserkoagulation erfolgen. Dabei wird ein Teil des Netzhautgewebes durch Koagulation "geopfert", wodurch eine "Konzentration" des Blutstroms auf die Macula erreicht wird. Eine Visusverschlechterung kann so auf Jahrzehnte hinaus und eine Erblindung gänzlich verhindert werden.

Wichtigste Einzelmaßnahme zur Prävention des Nierenversagens bei der diabetischen Nephropathie ist die antihypertensive Behandlung. Wie die UKPDS-Studie gezeigt hat, ist die gute Blutdruckeinstellung auch die wirksamste Prävention des Herzinfarkt- und Apoplex-Todes.

Etwa 1,3 Prozent der in Deutschland lebenden Diabetiker müssen sich als Folge ihrer diabetischen Podopathie einer Amputation unterziehen. Der diabetische Fuß entwickelt sich zunächst als Mikroangiopathie und ist insofern in seiner Entstehung durch eine gute Blutzuckereinstellung zu beeinflussen. Ein verhängnisvolles Zusammenspiel von Mikro- und Makroangiopathie sowie Polyneuropathie kann dann zur Amputation führen: Fußverletzungen und Druckstellen in ungeeignetem Schuhwerk werden aufgrund der bestehenden Sensibilitätsstörung nicht wahrgenommen. Bei gleichzeitig verminderter Durchblutung durch eine arterielle Verschlußkrankheit (AVK) kommt es zu einer raschen Ausbreitung der Entzündungen mit der Folge von septischen Thrombosen, Gangrän und schließlich Amputation.

Die Arbeiten verschiedener Diabetiker-Zentren in den USA, Schweden und England haben gezeigt, daß durch korrekte Nagel- und Fußpflege, Versorgung mit geeignetem Schuhwerk und rechtzeitige gefäßchirurgische Behandlung die Amputationsrate um durchschnittlich 87 Prozent gesenkt werden konnte.

Da es in Deutschland eine qualifizierende Ausbildung für FußpflegerInnen nicht gibt, hat sich die Deutsche Diabetes-Gesellschaft (DDG) entschlossen, einen Ausbildungsgang nach ihren Kriterien zu entwickeln und noch im laufenden Jahr anzubieten. Verletzungsfreie Fußpflege durch Fachpersonal und angepaßtes Schuhwerk seien die wichtigste Tertiärprävention in der diabetischen Podopathie.

Die Rolle der Apotheker

Die Sankt-Vincent-Deklaration fordert alle im Gesundheitswesen Tätigen auf, an der Verhinderung von Folge- und Begleiterkrankungen des Diabetes mellitus mitzuwirken. Über Möglichkeiten einer Pharmazeutischen Betreuuung (PC) von Typ-2-Diabetikern informierte Dr. Verheyen von der Arzneimittel-Informationsstelle der ABDA, Eschborn. Durch den chronischen Arzneimittelgebrauch der meisten Diabetiker seien die Apothekenkontakte vorgegeben. In qualifizierten Gesprächen sollten deshalb arzneimittelbezogene Probleme erkannt und gelöst werden. Gerade beim Diabetes mellitus mit seinem breiten Spektrum an Folgeschäden und der sehr individuellen Krankheitssituation der Patienten sei die regelmäßige Kommunikation und der Aufbau einer persönlichen Beziehung wichtig, wenn die Therapieziele erreicht werden sollen.

Erste Erfahrungen zur praktischen Umsetzung von PC bei Typ-2-Diabetikern in der öffentlichen Apotheke wurden im Kammerbereich Baden-Württemberg in Zusammenarbeit mit der Humboldt-Universität Berlin gemacht. An dem Projekt beteiligten sich 32 Apotheken mit 220 Männer und Frauen im Alter zwischen 55 und 75 Jahren.

Das erste Gespräch könne rund 60 Minuten dauern, die weiteren 30 Minuten; zusätzlich sei eine Zeit zur Vor- und Nachbereitung anzusetzen. Inhalt der Beratungsgespräche sollten sein: selbstkontrollierter Blutzucker (BZ), Blutdruck, Ernährung, Bewegung und Sport, Applikation von Insulin, orale Antidiabetika, Dosierung der Arzneimittel, Vorsorgeuntersuchungen, Strategien zur Vermeidung von Spätfolgen.

Als Nutzen für den Apotheker ergebe sich ein verbessertes Wissen über Diabetes mellitus, die vertiefte Einsicht in patientenspezifische Probleme, die auch auf andere Patientengruppen übertragbar sei, und eine intensivierte Patientenbindung. Die Patienten profitieren von der neuen Beziehung zur Apotheke durch mehr Selbständigkeit sowie besseres Wissen über die Erkrankung und Therapie.

Für den Einstieg in PC müsse zunächst das Gespräch mit dem Arzt gesucht werden; die Patienten könnten über Handzettel, Schaufenster, Aktionswochen und Kundenkarte vorinformiert werden, zusätzlich sei ein Patienten-Screening bezüglich Blutzuckerwerte, HbA1c, Blutdruck und Gewicht möglich. Mitarbeitermotivation, -schulung und -fortbildung seien selbstverständlich Voraussetzung. In den Beratungsgesprächen werden Protokolle angelegt zu den persönlichen Angaben, Meßwerten, verordneten Medikamenten und Gesundheitsstatus. Im ersten Gespräch sollte sich der Apotheker darauf beschränken, das Notwendigste an Wissen zu vermitteln: also sachgerechte Tabletteneinnahme und/oder Handhabung der Insulin-Applikation.

Er selbst erwirbt die Informationen zur PC-Qualifikation über Seminare und Manuale. Drei Manuale werden noch im laufenden Jahr erscheinen. Das Basismanual ist gedruckt, das Asthmamanual liegt zum Druck vor, und das Diabetes-Manual steht kurz vor dem Abschluß.Top

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