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Escitalopram wirksamer als das Racemat

10.11.2003  00:00 Uhr

Escitalopram wirksamer als das Racemat

von Kerstin A. Gräfe, Eltville

Der selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, der im September neu auf den Markt kam, ist eigentlich schon lange bekannt: Escitalopram (Cipralex®) ist das S-Enantiomer des Citalopram-Racemats (Cipramil®) und soll bei Depressionen und Angstzuständen schneller und stärker wirken als das Racemat.

Das 1972 synthetisierte Citalopram ist wie viele Arzneistoffe ein Racemat, bestehend aus dem linksdrehenden S- und rechtsdrehenden R-Enantiomer. Zwar ist schon lange bekannt, dass die therapeutische Wirkung allein von dem linksdrehenden Anteil vermittelt wird, detaillierte klinische Untersuchungen zu den Enantiomeren scheiterten jedoch jahrelang daran, dass nicht ausreichend Substanz zur Verfügung stand. „Erst Mitte der 90er-Jahre gelang es mit der Entwicklung der so genannten „Simulated-Moving-Bed“-Technologie, das S-Enantiomer aus dem Racemat in größeren Mengen abzutrennen, erklärte Professor Dr. Walter E. Müller von der Universität Frankfurt am Main auf einer von Lundbeck unterstützten Veranstaltung.

 

Chirale Verbindungen Dreh- und Angelpunkt dieser Verbindungen ist – im wörtlichen Sinne – das so genannte chirale Zentrum, abgeleitet von dem griechischen Wort „cheir“ für „Hand“. Es handelt sich dabei um ein Kohlenstoff-Atom, das mit vier verschiedenen Atomen oder Atomgruppen verknüpft ist. Alle Moleküle, die ein solches asymmetrisches Kohlenstoff-Atom enthalten, sind optisch aktiv, das heisst, ihre Lösungen drehen die Schwingungsebene von polarisiertem Licht.

Zu jedem asymmetrischen Molekül gehört ein spiegelbildlich gleiches Molekül. Diese beiden so genannten Enantiomere lassen sich – wie die rechte und linke Hand – nicht zur Deckung bringen (Chiralität = Händigkeit). In ihren chemisch-physikalischen Eigenschaften unterscheiden sie sich nur durch die Richtung, in die sie die Schwingungsebene des polarisierten Lichts drehen. Bei Synthesen entstehen in der Regel so genannte Racemate, das heißt Gemische der beiden optisch aktiven Enantiomere im Verhältnis 1:1. Die Drehrichtungen heben sich hier gegenseitig auf.

Bei einigen Wirkstoffen ist ein Enantiomer für die therapeutische Wirkung verantwortlich (Eutomer); das andere verursacht unerwünschte Nebenwirkungen (Distomer). So ist zum Beispiel bei Penicillamin das S-Enantiomer antirheumatisch wirksam, das R-Enantiomer sehr nephrotoxisch.

 

Dabei zeigte sich in präklinischen Studien, dass das R-Enantiomer möglicherweise nicht nur wirkungslos ist, sondern zusätzlich „bremsende“ antagonistische Wirkungen auf das S-Enantiomer zu haben scheint. So fanden Forscher mithilfe der Mikrodialyse-Technik Belege dafür, dass R-Citalopram die S-Citalopram-induzierte Erhöhung der extrazellulären Serotoninspiegel im frontalen Cortex hemmt. Mit dieser Technik ist es möglich, kleinste Flüssigkeitsmengen in geschlossenen Kompartimenten zu messen. Dazu wird eine Mikropipette in der fraglichen Region platziert, die es ermöglicht, Medikamenten-induzierte Stoffwechselveränderung direkt am Ort des Geschehens zu messen, ohne dass es zu unerwünschten Interaktionen mit anderen ZNS-Arealen kommt.

Wirkeintritt schon nach einer Woche

Escitalopram wirkt schneller und stärker als Citalopram, berichtete Privatdozent Dr. Hans-Peter Volz, Ärztlicher Direktor des Krankenhauses für Psychiatrie und Psychotherapie Schloss Werneck. Dies sei besonders von Bedeutung, wenn ein rascher antidepressiver Effekt erwünscht ist oder Patienten auf andere Substanzen nicht ausreichend angesprochen haben.

Die Basis für die Zulassung bildeten drei klinischen Kurzzeitstudien über acht Wochen, an denen insgesamt 1321 stark depressive Patienten teilnahmen. Die Probanden erhielten täglich entweder 10 oder 20 mg Escitalopram, 20 bis 40 mg Citalopram oder Placebo. Erwartungsgemäß führten die Vera zu signifikant besseren Ergebnissen als das Scheinmedikament: In den Escitalopram-Gruppen sprachen 59,3 Prozent, unter Citalopram 53,4 Prozent auf die Therapie an, verglichen mit 41,2 Prozent unter Placebo.

Schon ab der ersten Woche habe sich ein Vorteil von Escitalopram im Vergleich zu Placebo und Citalopram ergeben. Bewertet wurde der Effekt mit der Montgomery-Asberg-Depression-Rating-Scale (MADRS). Nach acht Wochen war der MADRS-Wert unter Escitalopram um durchschnittlich knapp 16 Punkte gefallen. In der Citalopram-Gruppe fiel er um etwa 1,5 Punkte weniger und unter Placebo um etwa vier Punkte weniger. Noch deutlicher seien die Unterschiede gewesen, wenn die Depression zu Beginn der Studie sehr schwer (MADRS über 30) war.

Escitalopram werde besser vertragen als Venlafaxin XR (extended release), ein selektiver Serotonin/Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer, der in einer Studie mit Escitalopram in Bezug auf Wirksamkeit und unerwünschte Effekte verglichen wurde, so Volz. Zudem habe der selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) in einer Tagesdosis von 10 oder 20 mg vier bis sechs Tage rascher gewirkt als Venlafaxin XR (Tagesdosis 75 oder 150 mg). Nach acht Wochen Therapie waren die Symptome bei 80 Prozent in der Escitalopram-Gruppe und bei 77 Prozent in der Venlafaxin-Gruppe deutlich gelindert. Unter Escitalopram brachen weniger Patienten die Studie wegen intolerabler Nebenwirkungen ab als unter Venlafaxin XR (8 versus 11 Prozent).

Auch bei Angstzuständen wirksam

Ängstlichkeit ist ein häufiges Symptom bei Depressiven. Erste Erfahrungen aus der Praxis belegen, dass Escitalopram Ängste und Spannungszustände vermindert, die als Folge erhöhter Ängstlichkeit entstehen. Über Kasuistiken aus der Klinik berichtete Professor Dr. Eckart Rüther, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Göttingen. Vorteile gegenüber anderen SSRI sehe er in der breiten Anwendbarkeit. So könne das S-Enantiomer ebenso wie die Muttersubstanz bei allgemeinen depressiven Syndromen sowie bei Angststörungen eingesetzt werden.

Als Beispiel nannte er eine Studentin, die seit neun Jahren unter Ängsten litt. Sie hatte „soziale Phobien“ und daher erhebliche Schwierigkeiten im Kontakt zu anderen Menschen. Sie klagte auch über Prüfungsängste und konnte ihre Ausbildung nicht beenden. Nachdem Psychotherapie und mehrere Psychopharmaka, darunter SSRI, keine zufrieden stellenden Effekte gebracht hatte, stellte Rüther die Patientin zunächst auf 10, dann auf 20 mg Escitalopram pro Tag ein. Die junge Frau habe damit Kontaktprobleme und Prüfungsängste weitgehend überwunden.

Einen weiteren Vorteil von Escitalopram im Vergleich zu anderen SSRI, auch Citalopram, sieht Rüther in der raschen Wirkung, die meist innerhalb von acht bis 14 Tagen spürbar werde. „In der klinischen Anwendung zählt jeder Tag“, sagte Rüther.

 

Enantiomere in der Arzneimittelentwicklung In der Pharmaforschung erhofft man sich von Enantiomeren eine erhöhte Selektivität, ein niedrigeres Interaktionsrisiko, eine einfachere Pharmakokinetik und geringere interindividuelle metabolische Unterschiede. Zudem sollen Enantiomere die Dosis-Wirkungs-Relation vereinfachen, die Response, Verträglichkeit sowie die Nutzen-Risiko-Relation verbessern.

Die europäische Zulassungsbehörde EMEA sowie die amerikanische FDA haben diese Erkenntnisse seit etwa zehn Jahren in ihren Zulassungsbestimmungen umgesetzt. Seitdem müssen die Hersteller nachweisen, ob die Prüfsubstanz als chirale Verbindung vorliegt oder nicht, und versuchen, die beiden Enantiomere in Reinform zu synthetisieren. Diese müssen sie differenziert untersuchen, um zu zeigen, wo die erwünschten Produkteigenschaften lokalisiert sind und woraus die unerwünschten Effekte resultieren. Schließlich gilt es zu begründen, warum sie ein Racemat auf den Markt bringen wollen, obwohl die positiven und negativen Eigenschaften mit einem speziellen Enantiomer assoziiert sind.

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